Die ewigen Verlierer
Wird die Welt nach der Corona-Krise eine andere sein? Ein Ausblick auf die Folgen der Krise. Serie «Pandenomics», Teil 3.
Von Simon Schmid, 05.06.2020
«Wenn die Welt aus dem Corona-Koma erwacht, wird sie eine andere sein»: So leitete unlängst ein Schweizer Wirtschaftsmagazin seine Titelstory ein. Wirtschaft, Arbeit, Politik: Die Pandemie werde alles grundlegend verändern.
Krisen werden oft als Zäsuren begriffen. Die brennenden Twin Towers, die bankrotte Wall Street, die Geisterstädte während des Lockdown: Plötzlich scheint alles Bisherige bedeutungslos. Und alles Neue, das man mit Gruseln, Faszination, Beklemmung oder Freude wahrnimmt, erscheint prägend. Die Geschichte teilt sich in ein Davor und ein Danach, mit der Krise als Wendepunkt.
Sicherlich wird die Corona-Pandemie viel Neues hervorbringen. Gerade im Kleinen: Vielleicht veranlasst sie mehr Firmen dazu, Homeoffice zu fördern. Vielleicht verschafft sie Pflegeberufen etwas mehr Anerkennung. Doch das Bezeichnende an der Corona-Krise ist, dass sie – so wie sich das grosse Ganze abzeichnet – gerade nicht zu einer fundamentalen Veränderung führt.
Im Gegenteil: Die Corona-Krise hebt existierende Gegensätze noch stärker hervor. Sie verschärft die Probleme, die in der Wirtschaft bereits bestehen.
Welche Probleme das sind?
Willkommen zum aktuellen Stand des wirtschaftlichen Irrtums, Teil 3.
Serie «Pandenomics»
Wie schlimm ist die Corona-Krise wirklich? Was kann man dagegen tun? Welches sind die bleibenden Folgen? Um ein besseres Gefühl dafür zu bekommen, an welchem Punkt der Krise wir uns befinden – und was im weiteren Verlauf wichtig sein wird –, gehen wir diesen Fragen auf den Grund.
1. Niedrigqualifizierte verlieren doppelt
Es beginnt damit, dass benachteiligte Gruppen physisch mehr unter dem Virus leiden. Gemessen an ihrem Bevölkerungsanteil sterben Schwarze in den Vereinigten Staaten 2,5-mal so oft an Covid-19 wie Weisse. Sie arbeiten öfter an exponierten Orten wie Fleischfabriken, haben schlechteren Zugang zum Gesundheitssystem und sind eher durch Vorerkrankungen belastet.
Die Pandemie trifft benachteiligte Gruppen auch ökonomisch härter. Gut verdienende, gut ausgebildete Amerikaner machen Homeoffice – schlecht verdienende, schlecht Ausgebildete verlieren ihren Job: Das zeigen Ergebnisse von gross angelegten Umfragen zur Corona-Krise in den USA.
Auch in Frankreich gilt Covid-19 als une maladie des pauvres: eine Krankheit der Armen. Einwohnerinnen von Banlieues wie Saint-Denis haben höhere Ansteckungs- und Mortalitätsraten und werden auch öfter arbeitslos.
In ihrem Ausmass mag die Corona-Krise einzigartig sein. Doch ihre Folgen sind weder für eine Epidemie noch für eine Wirtschaftskrise besonders ungewöhnlich: Es akzentuieren sich die bestehenden sozialen Spannungen.
So fanden etwa Forscher des Internationalen Währungsfonds (IWF) und der Universität Palermo heraus, dass Epidemien wie Sars (2002/2003), H1N1 (2009/2010), Mers (2012/2013), Ebola (2014-2016) und Zika (2015/2016) den Gini-Index der Einkommensungleichheit in den betroffenen Ländern nach oben trieben, diese also verstärkten. Während Arbeitskräfte mit hoher Bildung ihre Jobs meist behielten, ging die Erwerbsquote unter Arbeitskräften mit einfacher Bildung signifikant zurück.
Ähnlich war es nach der Finanzkrise, wie Studien aus der Europäischen Union oder aus Grossbritannien zeigen. Dass auch die Corona-Pandemie Niedrigqualifizierte übermässig stark treffen wird, liegt auf der Hand: Gerade in Branchen wie der Gastronomie oder dem Tourismus, die besonders unter der Krise leiden, arbeiten viele Menschen mit einfachem Bildungsniveau.
Das Coronavirus ist also nicht «der grosse Gleichmacher», wie Politiker zu Beginn sagten, um die Bevölkerung auf die Quarantäne einzuschwören. Sondern, wenn überhaupt, ein «grosser Ungleichheitsvermehrer».
2. Noch mehr Druck auf Krisenbranchen
Was das soziale Gefüge angeht, ist die Schweiz privilegiert. Die materiellen Gegensätze sind nicht so gross wie anderswo, es gibt wenig absolute Armut. Trotzdem verschärfen sich wegen Corona auch hierzulande die Spannungen.
Etwa auf Ebene der Branchen. Zu den stark betroffenen Wirtschaftszweigen gehört – nebst dem Tourismus, den persönlichen Dienstleistungen oder der Unterhaltungsbranche – das verarbeitende Gewerbe. Die Exporte von in der Schweiz hergestellten Maschinen, elektrischen Geräten, Fahrzeugen, Uhren und Textilien gingen im März und im April deutlich zurück. Während Coiffeure oder Physiotherapeutinnen jetzt wieder voll arbeiten können, rechnet man in der exportorientierten Industrie mit einer länger andauernden Flaute.
Auch dieses Muster ist nichts Neues. Bereits in der Finanzkrise (2008), in der Eurokrise (ab 2011) und nach dem Frankenschock (2015) mussten Branchen wie der Metall- und Maschinenbau unten durch. Bereits damals litt auch der Tourismus in den Bergen. Die Anzahl Personen, die in Wirtschaftszweigen wie diesen beschäftigt sind, stagniert deshalb seit Jahren. Dasselbe gilt für den Detailhandel, der wegen der Digitalisierung unter Dauerdruck steht.
Dagegen kommen die langjährigen Gewinnerbranchen erneut glimpflich davon. Fast als einziger Bereich verzeichnete die Pharmaindustrie zuletzt sogar steigende Zahlen. Auch die IT-Branche könnte wegen der zahlreichen Digitalisierungsvorhaben gestärkt aus der Corona-Krise hervorgehen. Und im Gesundheitssektor nimmt die Beschäftigung strukturell bedingt sowieso zu.
Dass nun vermehrt von Massenentlassungen in Industriefirmen berichtet wird, ist somit kein Zufall. Sondern die Weiterführung eines bestehenden Trends – einer Entwicklung, die durch die Corona-Krise beschleunigt wird.
Es ist auch kein Zufall, dass sich die Gewerkschaften aktuell Sorgen über die Personengruppe der über 55-Jährigen machen. Menschen in diesem Alter kommen mit dem Strukturwandel schlechter zurecht. Neue Fähigkeiten zu lernen, die in der digitalen Arbeitswelt wichtig sind, oder im Beruf ganz neu anzufangen, ist für Leute kurz vor der Pensionierung besonders schwierig.
3. Die USA manövrieren sich weiter ins Abseits
Nicht nur binnenwirtschaftliche, sondern auch internationale Umwälzungen werden durch die Corona-Krise intensiviert. Prägend fürs 21. Jahrhundert ist der Aufstieg von China: 1995 stand die fernöstliche Volkswirtschaft unter allen Ländern noch an achter Stelle. Heute steht sie mit ihrer Grösse je nach Berechnungsart bereits auf dem zweiten oder sogar dem ersten Rang.
Parallel dazu verläuft der Abstieg – die innere Verwahrlosung – der USA. Die breite Mittelschicht kommt in den Vereinigten Staaten nicht mehr vorwärts. Als einziges OECD-Land weisen sie eine sinkende Lebenserwartung auf.
Auf welch gegensätzlichem Pfad sich die beiden Länder befinden, hat die Corona-Pandemie vor Augen geführt. China gelang es, die Covid-19-Welle nach anfänglichen Schwierigkeiten mit drastischen Eingriffen zu stoppen. Die USA scheiterten daran. Obwohl die Regierung von Donald Trump zwei Monate Zeit hatte, sich auf die Epidemie vorzubereiten, haben sich in den USA zwanzigmal so viele Menschen wie in China mit dem Virus infiziert.
Natürlich gibt es Zweifel, ob die chinesischen Zahlen tatsächlich so niedrig sind. Doch selbst wenn die USA nur zehn- oder fünfmal so viele Fälle wie China hätten, würde dies an der Feststellung nichts ändern. Zusätzlich dazu bahnt sich in den Vereinigten Staaten ein grösserer Wirtschaftseinbruch an.
Die Corona-Krise hat die Dysfunktionalitäten des amerikanischen Systems mit seiner bipolaren Politik, minimalen Arbeitsmarktregulierung und einer Gesundheitsversorgung, die nur den Begüterten zugutekommt, schonungslos offengelegt. Die Proteste, die in den letzten Tagen gegen die Polizeigewalt an Schwarzen ausgebrochen sind, zeugen von einer tiefen, sozioökonomischen Zerrissenheit. Dagegen macht China einen souveränen Eindruck – und spielt als Produktionsland der begehrten OP-Masken geschickt seine Trümpfe.
Für die Weltwirtschaft wäre all dies nicht so schlimm – wenn Amerika mit seiner Schuldenwirtschaft zuletzt nicht so eine tragende Rolle gespielt hätte. Nun sieht es so aus, als ginge der Konjunkturlokomotive der Dampf aus; der angezählte Präsident droht mit weiteren Handelskriegen. Das stellt die Exportstrategie von Ländern wie der Schweiz infrage, die sich von den USA viel erhoffen. Und es erhöht den Druck auf Europa, selbst Verantwortung zu übernehmen.
4. Europa driftet weiter auseinander
Dass das für die europäischen Staaten nicht ganz einfach ist, hat bereits die Eurokrise gezeigt. Länder wie Griechenland wurden sich selbst überlassen, statt echter Solidarität gab es harte Sparauflagen und Hilfsgelder auf Pump.
Jetzt schlägt die Corona-Krise zu – und trifft gerade jene Länder am härtesten, die bereits zuvor Probleme hatten. Dazu zählt nebst Spanien allen voran Italien. Das Land beklagt viele Todesopfer und muss obendrein mit dem heftigsten Wirtschaftseinbruch rechnen: Wichtigen Wirtschaftssektoren wie dem Tourismus droht dieses Jahr ein massiver Einkommensverlust.
Italiens ohnehin schon hohe Verschuldung wird deshalb weiter zunehmen. Der IWF rechnet mit einem Sprung von 21 Prozent, gemessen am BIP. Fast so stark dürfte die Schuldenquote in Spanien steigen. Dagegen werden in der Schweiz und in Deutschland nur Zunahmen von 7 bis 9 Prozent vorausgesagt.
Dass die Corona-Pandemie als erstes europäisches Land ausgerechnet Italien erfasst hat, ist ein unglücklicher Zufall. Doch dass wirtschaftsschwache Länder am meisten zu kämpfen haben, ist ein Merkmal jeder Krise. Denn Staaten wie Italien fehlt der finanzielle Spielraum, um die Konjunktur mit ähnlichen Massnahmen wie die Schweiz oder Deutschland zu stützen.
Die Ausgabenlast gemeinsam zu schultern, würde helfen. Genau dazu scheint sich Europa nun durchzuringen. Die EU-Kommission hat vergangene Woche einen Wiederaufbauplan über 750 Milliarden Euro vorgeschlagen. Dieser würde von den EU-Staaten gemeinsam finanziert und Ländern wie Italien überproportional zugutekommen. Würde der Plan angenommen, hätte dies zusammen mit weiteren, bereits mobilisierten Geldern einen spürbaren ökonomischen Effekt. Und es wäre ein symbolisch wichtiges Zeichen.
Die Corona-Krise muss nicht zwingend in eine zweite Eurokrise münden. Italiens Zinskosten sind noch überschaubar; die Europäische Zentralbank stützt das Land indirekt, indem sie Staatsanleihen kauft. Doch wenn Italien weiter nicht vom Fleck kommt, droht die schleichende Verelendung – und damit ein weiteres Auseinanderdriften der Euro-Mitgliedsstaaten.
5. Die Zinsen bleiben noch länger tief
Investitionen – und eigentlich jegliche Ausgaben der Staaten – sind auch aus einem weiteren Grund wichtig: wegen des Zinsniveaus am Finanzmarkt.
Dieses sinkt eigentlich schon seit Jahrzehnten – wegen der demografischen Alterung, wegen des nachlassenden Wirtschaftswachstums fortgeschrittener Volkswirtschaften, wegen der Digitalisierung, wegen der Globalisierung und wegen der Notenbanken, die seit der Finanzkrise aktiv Wertpapiere kaufen.
Mit der Corona-Krise setzt sich dieser Trend weiter fort. Kurz vor Ausbruch der Pandemie warfen US-Staatsanleihen knapp 2 Prozent Zins ab. Bald darauf fielen sie auf 0,6 Prozent, den tiefsten Wert der Geschichte. Wer vor der Krise auf einen baldigen Anstieg spekulierte, kann diese Hoffnung nun begraben.
Auch in Grossbritannien, Frankreich, Japan, Deutschland und in der Schweiz notieren die Staatsanleihen auf historischen Tiefstwerten. Und es ist nicht absehbar, dass sich daran auf die Schnelle sehr viel ändert. Die Notenbanken all dieser Länder haben angekündigt, weiterhin zu intervenieren, um einen Wiederanstieg der Zinsen oder ein Erstarken ihrer Währung zu verhindern.
Ein tiefes Zinsniveau ist per se nichts Schlechtes. Es hilft Unternehmen, die investieren wollen, und Personen, die verschuldet sind. Trotzdem sind tiefe Zinsen eine gesellschaftliche Herausforderung. Direkt oder indirekt baut jedes Rentensystem auf den «dritten Beitragszahler», also auf den Finanzmarkt. Je weniger Rendite dort erzielt werden kann, desto mehr Geld müssen die Erwerbstätigen einzahlen, soll das Rentenniveau gehalten werden. Tiefe Zinsen verschärfen also den Generationenkonflikt.
Das Beste, was die Staaten tun können, um diesen Konflikt zu entschärfen, ist, ihre konjunkturpolitische Rolle in der Krise beherzt wahrzunehmen. Das heisst, alles zu unternehmen, damit die Wirtschaft möglichst rasch wieder auf die Beine kommt. Wenn sie dazu Schulden aufnehmen, hat dies auf die Zinsen einen angenehmen Nebeneffekt: Sie erhöhen damit das Angebot an Wertpapieren, in die investiert werden kann – und damit auch die Zinsen.
Schluss
Die Corona-Krise ist schlimm. Aber sie ist – Irrtum vorbehalten – nicht die schlimmste Krise aller Zeiten. Der Zweite Weltkrieg zum Beispiel hat nicht nur wirtschaftlich, sondern auch menschlich weitaus mehr Leid über die Welt gebracht. Die Opferzahl ging in die Dutzende von Millionen. Die Corona-Pandemie hat bisher knapp 400’000 Menschenleben gekostet.
Das ist viel weniger. Und es bedeutet im Umkehrschluss: Eigentlich wäre es für die Welt heute viel einfacher als damals, zurück zur Prosperität zu finden.
Doch die Welt muss das wollen. Die drei Jahrzehnte nach dem Zweiten Weltkrieg gingen als «goldene Zeit des Kapitalismus» in die Geschichte ein. Aber dieser Kapitalismus war ein anderer als wir ihn heute kennen. Es gab massive staatliche Wiederaufbauprogramme – den Marshallplan. Es gab ein stabiles Währungssystem mit kontrollierten Finanzflüssen. Es gab hohe Steuern auf Vermögen und Umverteilungsprogramme – etwa in Deutschland.
Nicht alle diese Rezepte wären heute hilfreich. Kapitalkontrollen zwischen Ländern wären in der Weltwirtschaft verheerend, und mehr Motorisierung anzustreben, so wie in den 1960er-Jahren, wäre gar nicht wünschenswert. Corona hat aufgezeigt, dass auch weniger Konsum glücklich machen kann.
Doch man kann sich die damalige Zeit durchaus zum Vorbild nehmen. Es gab eine Aufbruchstimmung. Es gab den Willen, Projekte zu verwirklichen. Und es gab die Idee, als Gemeinschaft von Staaten und Individuen zu erstarken.
Wer weiss: Vielleicht wird die Welt nach Corona doch eine andere sein.