Der zerrissene Flickenteppich
Wenig Gewinner, viele Verlierer – welche Branchen haben im Lockdown am meisten gelitten? Wo ist Besserung in Sicht? Die Visualisierung zur Schweizer Wirtschaft im Corona-Modus.
Von Simon Schmid und Patrick Recher, 18.05.2020
Das Branchenverzeichnis der Urzeit war eine einfache Angelegenheit: Es gab Jäger, und es gab Sammler. Heute ist das etwas komplizierter. Die Schweizer Systematik, festgehalten in der Nomenclature générale des activités économiques (Noga) des Jahres 2008, unterscheidet insgesamt 794 Branchen.
Zu ihnen zählen beispielsweise:
Personenbeförderung in der Binnenschifffahrt (Code: 503000)
Innenarchitektur und Raumgestaltung (Code: 741003)
Anbringen von Stuckaturen, Gipserei und Verputzerei (Code: 433100)
Industrie- und Produktdesign (Code: 741001)
Allein dieser kleine Ausschnitt lässt erahnen: Die moderne Wirtschaft ist ein komplexes Gewebe. Es gibt Spezialistinnen in Hunderten von Tätigkeitsfeldern. Sie sind teils miteinander verwandt, hängen vielfach voneinander ab, haben aber bisweilen auch gar nichts miteinander zu tun.
Was mit diesem Gewebe wegen der Corona-Krise noch alles passieren wird, wissen wir nicht mit Sicherheit. Doch es gibt Schätzungen: darüber, wie die Wirtschaft zum Höhepunkt der Epidemie getroffen wurde – während des Lockdown – und wie sie sich im Lauf des Jahres weiterentwickeln wird.
Das gesamtwirtschaftliche Gewebe
Eine solche Schätzung stammt vom Staatssekretariat für Wirtschaft (Seco). Sie basiert auf der Noga-Nomenklatur, die wir hier vereinfacht wiedergeben: Statt alle 794 Branchen zeigen wir 14 Teilbereiche. Der grösste davon (Handel inklusive Detail- und Grosshandel) trägt 14 Prozent zum Bruttoinlandprodukt (BIP) bei, der kleinste (Landwirtschaft) knapp 1 Prozent.
Normalerweise fügen sich die Branchen zu einer flächendeckenden Struktur zusammen. Doch während des Lockdown erscheint die Wirtschaft als Flickenteppich: In der Gastronomie, in der Industrie, im Gesundheitssektor, praktisch überall geht Wertschöpfung verloren. Der Handel, als grösster und stark betroffener Bereich, schrumpft von 14 auf 9 Prozent des vormaligen BIP.
Die Risse im Gewebe sind so tief, dass ein glattes Viertel der Gesamtfläche, welche die Wirtschaft darstellt und zuvor bedeckt war, nun leer erscheint.
Die Visualisierung lässt erahnen, wie umfangreich die wirtschaftlichen Verluste im April bereits waren. Gleichzeitig macht sie klar: Nicht alle Branchen sind gleichermassen von der Krise betroffen. In gewissen Bereichen nahm die Wertschöpfung während des Lockdown sogar zu.
Der Lockdown für einzelne Branchen
Eine solche Branche sind die Post-, Kurier- und Expressdienste. Sie sind in der obigen Grafik aus Platzgründen unter «Transport» subsumiert. Separat ausgewertet zeigt sich: Diese Branche lief während des Lockdown richtig heiss. Firmen wie die Post oder DHL erzielten nach den Schätzungen des Seco ungefähr 30 Prozent mehr Wertschöpfung als in normalen Zeiten.
Vereinfacht gesagt: das, was unter dem Strich übrig bleibt, wenn man vom Umsatz eines Betriebs die Kosten abzieht. Die Statistik verwendet den Begriff, um den Beitrag eines Betriebs oder eines Sektors zur Gesamtwirtschaft zu beschreiben. Addiert man die Wertschöpfung aller Sektoren (wobei jeweils Subventionen und Ähnliches abgezogen werden) über einen bestimmten Zeitraum, so erhält man das Bruttoinlandprodukt (BIP): die Produktionsleistung der gesamten Volkswirtschaft.
Nicht nur Paketlieferanten haben während des Lockdown profitiert: Auch die Chemie- und Pharmabranche hat 5 Prozent mehr Wertschöpfung erzielt. Und auch in der Verwaltung wurde mehr geleistet (hier wird die Wertschöpfung nicht über Umsatz, sondern über Arbeitsstunden geschätzt).
Ungefähr ein Fünftel der Schweizer Wirtschaft dürfte damit im April von der Corona-Krise verschont worden sein. Gemäss den Schätzungen des Seco wird dieses Fünftel auch im weiteren Jahresverlauf nicht leiden: Sowohl die Pharmabranche als auch die Kuriere dürften 2020 im Plus abschliessen.
Anders sieht es bei einer Handvoll weiterer Branchen aus, die ungefähr ein Viertel der Wirtschaft ausmachen. Hier war bereits der April schlecht, und auch übers gesamte Jahr 2020 wird sich kein Plus ergeben. Immerhin: Die Ausfälle bleiben in diesen Branchen vergleichsweise überschaubar.
Keine grossen Einbussen dürften etwa Versicherungen verzeichnen. Auch das Grundstücks- und Wohnungswesen kommt glimpflich davon: In dieser volkswirtschaftlich nicht ganz unwichtigen Branche, in der unter anderem sämtliche Mieteinnahmen verbucht werden, bleibt die Wertschöpfung zu grossen Teilen erhalten. Logisch: Trotz der aktuellen Mietstreitigkeiten rund um Ladenflächen zahlen die allermeisten Leute ihre Miete normal weiter. Auch in Teilen der Informationsbranche (Verlagswesen, Rundfunk, Information und Kommunikation) bleiben die Ausfälle begrenzt: Manche IT-Firmen verzeichnen wegen des Lockdown sogar mehr Aufträge als üblich.
Bei den weiteren Branchen wird es jedoch kritisch. In einer ganzen Reihe von ihnen ging die Wertschöpfung während des Lockdown um 25 Prozent und mehr zurück. Dazu zählen etwa der Bau, der Detailhandel oder der Verkehr.
Diese Branchen, die wegen der Corona-Krise bereits bedeutende Einbussen erlitten, machen zusammengezählt über die Hälfte des BIP aus. Einige von ihnen waren im April direkt vom Lockdown betroffen: So mussten etwa Arztpraxen und Spitäler auf Behandlungen verzichten, die nicht dringend angezeigt waren, und mit Ausnahme der Lebensmittelgeschäfte blieben die meisten anderen Läden geschlossen. Mit den jetzigen Lockerungen dürfen Läden zwar wieder öffnen. Doch nach Schätzungen des Seco werden sowohl der Detail- und Grosshandel als auch das Gesundheits- und Sozialwesen den Verlust nicht aufholen können: Die Wertschöpfung fürs Gesamtjahr 2020 dürfte in diesen Branchen rund 10 Prozent unter dem Normalniveau bleiben.
Andere Branchen sind indirekt vom Lockdown betroffen oder leiden unter der generellen Unsicherheit, welche die Corona-Krise mit sich bringt. Allen voran steht hier die Industrie. Das verarbeitende Gewerbe verzeichnete im April eine Einbusse von über 40 Prozent. Unter diese Kategorie fallen Hersteller von Uhren ebenso wie Zulieferer für die deutsche Autoindustrie. Die Nachfrage nach ihren Produkten ist zurzeit im Keller: Niemand mag im Moment Waren auf Vorrat bestellen, niemand mag Fabriken mit neuen Maschinen ausrüsten. «Mit Ausnahme der Pharma leidet der gesamte Aussenhandel stark», sagt Ronald Indergand, Leiter Konjunktur beim Seco. Als exportorientierte Branche dürfte die Industrie übers ganze Jahr hinaus Wertschöpfungsverluste von 10 bis 20 Prozent verzeichnen.
Die Corona-Krise offenbart sich hier also in ihrer ganzen Breite. Ähnlich ist es im Grosshandel und in unternehmensnahen Dienstleistungen. In diese letzte Kategorie fallen etwa Ingenieurbüros, Werbeagenturen, Designerinnen, Autovermieter, Temporärjob-Vermittler oder Callcenter. Ihnen fallen Aufträge weg, weil viele ihrer Firmenkunden zurzeit auf Investitionen verzichten. Auch hier rechnen die Statistiker des Seco nicht mit einer raschen Erholung: –10 bis –15 Prozent Wertschöpfung sind aufs ganze Jahr hinaus zu erwarten.
Diese Zahlen mögen auf den ersten Blick nicht besonders hoch erscheinen. Doch man muss sich vor Augen führen, dass die Wertschöpfung in normalen Jahren allenfalls um einige Prozentpunkte schwankt – je nach Branche. Um zweistellige Wertschöpfungsrückgänge auf breiter Front zu beobachten, muss man in den Daten bis zur Finanzkrise von 2008 bis 2009 zurückgehen.
Umso krasser sind die aktuellen Zahlen aus den Branchen, die am stärksten vom Lockdown betroffen waren. Dazu zählt etwa die Unterhaltungsbranche. Mit einem Rückgang von gegen 95 Prozent war sie im April praktisch tot.
Die Branchen, die während des Lockdown mehr oder weniger stillstanden, haben unterschiedliche Perspektiven. Coiffeure und Kosmetikerinnen – also Erbringer persönlicher Dienstleistungen – dürften sich etwas erholen. Bei ihnen zieht das Geschäft bereits seit der ersten Öffnung wieder deutlich an. Das Seco rechnet bei ihnen nur mit einem Jahresverlust von rund 10 Prozent.
Härter trifft es das Gastgewerbe: Hier ist weiterhin keine volle Auslastung möglich. Vollends zum Desaster dürfte es schliesslich für Luftfahrt und Reisebüros werden: Hier wird fürs ganze Jahr 2020 ein Rückgang von etwa 50 Prozent erwartet. Vergleichbares kam in diesen Branchen noch nie vor.
Relativierend könnte man anfügen, dass der volkswirtschaftliche Stellenwert dieser beiden Branchen begrenzt ist: Zusammengezählt kommen Luftfahrt und Reisebüros nicht einmal auf 1 Prozent des BIP. Auch das Gastgewerbe ist mit knapp 2 Prozent des BIP keine eigentliche Profitmaschine. Doch das Gastgewerbe ist personalintensiv: Fast 200’000 Menschen sind in Restaurants und Hotels angestellt. Das sind 5 Prozent aller Beschäftigten.
Wer die Schwere der Corona-Krise beurteilen will, sollte sich daher nicht nur auf die hier gezeigten Daten stützen, sondern auch Arbeitslosenzahlen und weitere Indikatoren betrachten. Die Wertschöpfungsstatistik zeigt am Ende nur eines: In welchen Branchen mehr Geld verdient wurde – und wo weniger.
Welche Folgen die Krise je nach Branche hat, ist von vielem abhängig: vom langfristigen Strukturwandel, den diese Branche ohnehin durchläuft – der Metallbau steht hier an einem ganz anderen Punkt als die Reisebranche –, und von der kurzfristigen Unterstützungspolitik des Staats in der Krise.
So oder so ist jedoch klar: Wenn die Schätzung der Statistiker stimmt und im Schnitt über alle Branchen – von den Glaceherstellern (Code: 105200) bis zu den Campingplätzen (Code: 553001) – Ende Jahr ein Minus von fast 8 Prozent herausschaut, dann bleiben weit über den Lockdown hinaus Risse im Schweizer Wirtschaftsteppich. Sie zu flicken, wird nicht ganz einfach, selbst wenn wir weit ausgereiftere Methoden als unsere Urzeitvorfahren haben.
Die Zahlen zu diesem Text stammen vom Staatssekretariat für Wirtschaft (Seco) und wurden auf Anfrage bereitgestellt. Es handelt sich um eine Schätzung, die mit Unsicherheiten verbunden ist. Die Zahlen zum April, die in den Grafiken visualisiert sind, basieren auf verfügbaren Indikatoren (zum Beispiel auf der Kurzarbeit in einzelnen Branchen, auf Umsätzen, Exporten, Logiernächten etc.) und auf Informationen aus Umfragen bei Verbänden. Die beschlossene Exit-Strategie des Bundesrats fliesst ebenfalls mit ein. Für die Zahlen zum Verlauf bis Jahresende, die im Text erwähnt sind, spielen die Konjunkturprognose der Seco-Expertengruppe und Annahmen zur Auslandnachfrage eine wichtige Rolle.