Was jetzt anders werden könnte – wenn wir wollen

Nicht alles muss wieder so werden, wie es war. Sechs Ideen für die Zeit nach dem Corona-Lockdown.

Von Ivo Nicholas Scherrer, 01.05.2020

Synthetische Stimme
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Der Corona-Lockdown neigt sich dem Ende zu. Das Leben kommt Schritt für Schritt wieder in Schwung. Die Wirtschaft nimmt langsam wieder Fahrt auf.

Zeit, aufzuatmen.

Zeit, nachzudenken.

Hinter uns liegen emotional aufreibende Wochen. Die Epidemie hat Opfer gefordert, ihre Bewältigung hat Existenzen gefährdet. Doch nicht alles am Lockdown war schlecht – manches war sogar besser. Wir haben kleinere Distanzen zurück­gelegt und weniger Geld für unnötige Dinge ausgegeben. Wir sind uns im Lokalen näher­gekommen und haben soziale Berufe zu schätzen gelernt. Die Luft ist sauberer geworden und die Strassen sicherer.

Können wir etwas davon beibehalten? Können wir die Zukunft anders gestalten als die Vergangenheit? Können wir die Krise als Chance nutzen?

Sechs Ideen für die Zeit nach dem Lockdown.

1. Wir können weniger pendeln

Was uns der Lockdown gezeigt hat: Jede Stunde unserer Freizeit, die wir nicht mehr in vollen Zügen oder im Auto verbraten, ist Gold wert.

Im Schnitt verbringen wir Schweizerinnen 60 Minuten pro Tag auf dem Weg zur Arbeit. Über 600’000 Erwerbstätige pendeln sogar 90 Minuten und mehr. Seit dem Lockdown sind es deutlich weniger geworden. Die Zeit, die wir statt für den Arbeits­weg unserer Erholung oder unseren Liebsten widmen können, ist für viele von uns gewonnene Lebensqualität.

Und nicht nur das: Trotz aller Tücken des digitalen Arbeitens auf Distanz wissen wir nun, dass wir viele Dinge genauso gut von zu Hause aus erledigen können. Wir wissen, dass nicht jedes Meeting physisch stattfinden muss, besonders dann nicht, wenn dafür lange Anfahrts­wege notwendig sind, und dass wir gewisse Dinge sogar produktiver erledigen, wenn wir nicht im Büro sind.

Wie wir das Positive beibehalten: Unter­nehmen sollten nach der Corona-Epidemie nicht einfach zurück zum alten Präsenz­system. Sondern weiterhin möglichst vielen Angestellten die Option auf Home­office anbieten. Einen Tag pro Woche von zu Hause aus zu arbeiten, könnte für Büro­arbeiten zur Norm werden, unabhängig davon, ob dies in einer Branche zuvor Usus war oder nicht.

Auch die SBB könnten mithelfen, den Wandel zu unterstützen. Sie könnten zum Beispiel ein vergünstigtes Homeoffice-GA anbieten, das an nur drei oder vier Arbeits­tagen pro Woche gültig wäre. Die Politik könnte ihrerseits Unter­nehmen, die Home­office anbieten, und Arbeit­nehmende, die sich ein Home­office einrichten, steuerlich entlasten.

Für die Verkehrs­beruhigung der Innen­städte würde sich ein Roadpricing in Verbindung mit einem gezielten Ausbau des ÖV anbieten. Mailand nutzt jetzt übrigens die Gunst der Stunde: Im Sommer werden dort die Trottoirs verbreitert, und manche Strassen werden in Velo­wege umgewandelt. Das könnten wir ebenfalls tun. In vielen Schweizer Städten ist die Qualität der Velowege ungenügend.

2. Wir können bewusster konsumieren

Was uns der Lockdown gezeigt hat: Nicht dauernd neue Kleider kaufen, nicht jedes Weekend nach Berlin fliegen – das schont Portemonnaie und Umwelt.

Während der Krise haben wir weniger Material als üblich um den Globus gekarrt: weniger Kleidungs­stücke, weniger elektronische Geräte, weniger Möbel – kurz, weniger Gegen­stände, von denen wir geglaubt haben, sie unbedingt besitzen zu müssen, die wir aber nach kurzer Gebrauchs­dauer doch oft in unseren Schränken und Kellern haben verstauben lassen. Zudem – und das dürfte noch eine Weile so bleiben – sind wir selbst weniger durch die Gegend gegondelt. Der Shopping­trip nach Dubai, die Ferien auf den Malediven, die Mittelmeer­kreuzfahrt: Auf all das haben wir zuletzt verzichtet.

Logisch: Wir werden uns nach der Epidemie wieder mehr bewegen und mehr konsumieren. Doch die Krise hat gezeigt: Wir können dies auch bewusster tun, weniger verschwenderisch. Damit schützen wir nicht nur das Klima – gemäss Schätzungen werden dieses Jahr die weltweiten CO2-Emissionen um rund 5 Prozent zurückgehen –, sondern werden auch zufriedener.

Wie wir das Positive beibehalten: Konsum beginnt beim Individuum. Wir alle können uns künftig fragen, wenn wir einen Gegen­stand aus dem Regal nehmen: Brauche ich das wirklich? Und wenn ja: Stimmt die Qualität? Hält die Ware über einen längeren Zeitraum, oder muss ich sie bald wegwerfen?

Auch die Politik kann bewussteren Konsum fördern. Zum Beispiel durch eine konsequente Besteuerung von Treibhaus­gas­emissionen: Der Bund könnte die CO2-Abgabe von Brenn­stoffen auf Treib­stoffe ausweiten und auch energie­intensive Güter wie Stahl, Zement, Elektronik oder Plastik miteinschliessen (die Einnahmen könnten vollständig an die Bevölkerung rückverteilt werden). So würde umwelt­freundlicher produziert, und die Klima­kosten des Transports würden sich in den Güter­preisen spiegeln. Damit der hiesigen Wirtschaft keine Nachteile erwüchsen, könnte die CO2-Steuer auch auf Importe erhoben werden – in Form eines sogenannten «Border Tax Adjustment», wie es die EU in ihrem «Green Deal» vorsieht.

Fassen Bund und Kantone nach der Krise Konjunktur­programme ins Auge, sollten sie auf nachhaltige und moderne Infra­strukturen setzen: auf den Ausbau des 5G-Netzes oder auf ein flächen­deckendes Netz von Elektro­tankstellen, um endlich den Strassen­verkehr zu elektrisieren. Güter, die in einer klima­freundlichen Zukunft keinen Platz mehr haben – wie etwa Benzinfahrzeuge –, sind im 21. Jahr­hundert dagegen nicht mehr förderwürdig.

3. Wir können die Digitalisierung vorantreiben

Was uns der Lockdown gezeigt hat: Die Corona-Epidemie hat für einen kleinen Digitalisierungs­schub gesorgt. Wir können Informatik – wenn es sein muss.

Während des Lockdown sind wir virtuell erstaunlich gut über die Runden gekommen. Plötzlich waren Dinge möglich, die zuvor undenkbar schienen: Familien­feiern sind online gestiegen, Schulen haben den Unterricht digitalisiert, Arbeits­meetings fanden via Video­chat statt. Neuerdings sind sogar Gerichtsverhandlungen per Videokonferenz zugelassen.

Gerade der Ausnahme­zustand zeigt: Eine robuste digitale Infra­struktur ist heute kein Luxusgut mehr, sondern eine Notwendigkeit. Als Staat, als Wirtschaft, als Gesellschaft und als Individuen sind wir darauf angewiesen.

Wie wir das Positive beibehalten: Um nachhaltige digitale Infra­strukturen aufzubauen, sollten wir weiter investieren. Ziel der Verwaltung muss sein, dass wir als Bürger sämtliche wichtigen Geschäfte digital erledigen können. Wir sollten auch erwarten, dass die Parlamente in der nächsten Krise sofort auf digitalen Betrieb umsatteln können.

Doch nicht nur der öffentliche Sektor braucht Nachhilfe in Digitalisierung. Wir alle sollten unsere Kenntnisse aktuell halten. Es reicht nicht, wenn digitale Themen in die Lehrpläne der Volksschule aufgenommen werden. Echte digitale Mündigkeit erreichen wir erst, wenn wir verstehen, wie die Digitalisierung Beziehungen verändert und Hierarchien auf den Kopf stellt. Die Politik könnte das Verständnis dafür fördern, indem sie Weiterbildungs­gutscheine für die oft teuren Bildungs­angebote ausgäbe.

Zunehmend wichtiger wird auch die Daten­sicherheit. Sie könnte durch öffentlich-rechtliche Daten­treuhänder unterstützt werden, die explizit mit der Verwahrung persönlicher Daten beauftragt sind. Die Politik könnte zudem sicher­stellen, dass zumindest die öffentliche Hand ausschliesslich Applikationen verwendet, die aus Datenschutz­perspektive einwandfrei sind.

4. Wir können nachbarschaftliche Nähe pflegen

Was uns der Lockdown gezeigt hat: In der Krise blüht die Zivil­gesellschaft auf. In Mehrfamilien­häusern und in Quartieren entsteht Nähe. Und die tut gut.

In der Corona-Krise ist unser soziales Kapital – der Stoff, der Gesellschaften zusammenschweisst – gewachsen. Neue Formen der Solidarität sind entstanden. Zum Beispiel sind unzählige nachbarschaftliche Aktionen aus dem Boden gesprossen. Allein in den Gruppen unter dem Dach von hilf-jetzt.ch sind 250’000 Menschen organisiert. Sie kaufen für Ältere ein, kümmern sich um Nachbarn, denen Vereinsamung droht, oder organisieren die Kinder­betreuung für Menschen, die weiterhin arbeiten müssen.

An Hackathons wie «Versus Virus» tüfteln Menschen in ihrer Freizeit tage- und nächtelang an Lösungen, die uns bei der Bewältigung der Krise helfen könnten. Sie denken etwa darüber nach, wie kleine Läden Online­dienste anbieten oder wie sich Spitäler unter­einander besser koordinieren könnten. Und nicht zuletzt haben wir uns alle eingeschränkt, um die Verbreitung des Virus zu stoppen und das Gesundheits­system vor dem Kollaps zu bewahren.

Wie wir das Positive beibehalten: Was für die Zivil­gesellschaft gilt, gilt auch für die Demokratie – sie ist nur so stark wie unser Engagement.

Engagieren wir uns also weiterhin: in der Nachbarschafts­hilfe, im Verein, im Fussball­club, in der Politik. Die Schweizer Demokratie baut auf die Miliz­tradition. Um sie zu stärken, muss ehren­amtliche Arbeit wieder stärker gewürdigt werden. In manchen Firmen erfordert dies einen Kultur­wandel: Sie sollten soziales Engagement bei einer Bewerbung nicht als Hindernis ansehen, sondern als Pluspunkt. Arbeit­gebern könnte im Obligationen­recht zudem vorgeschrieben werden, dass sie Angestellten zwingend einige Tage pro Jahr für soziale Engagements frei geben müssen. So wäre es weniger von ihrem Goodwill abhängig, ob jemand etwa in der Schul­pflege mithelfen kann.

Die Politik kann ihrerseits Zeichen setzen, um den Wert von ehren­amtlichem Engagement hervorzuheben. Zum Beispiel, indem sie den Zivil­dienst endlich dem Militär­dienst gleichstellt – und ihn damit nicht zur Ausweich­lösung für junge Männer mit Gewissens­konflikten herab­würdigt, sondern ihn als Dienst an der Gesellschaft aufwertet. Die Politik kann so klar signalisieren, dass der Dienst im Alters­heim dem Dienst an der Waffe in nichts nachsteht.

5. Wir können soziale und kulturelle Berufe wertschätzen

Was uns der Lockdown gezeigt hat: Pflegerinnen und Kinder­betreuer sind eminent wichtig – sie sind system­relevant. Doch die ökonomische Wert­schätzung ihrer Arbeit steht nicht im Verhältnis dazu.

Das Gesundheits­personal wird in der Schweiz zwar vergleichsweise anständig bezahlt. Doch die Arbeit in Spitälern und Heimen ist körperlich und psychisch herausfordernd, muss oft unter Zeitdruck und in Nacht­schichten erledigt werden und ist mit geringem Autonomie­grad verbunden. Viele in der Branche sind zudem als Selbst­ständige tätig, ohne Anspruch auf Kurzarbeit.

Auch die Bedeutung künstlerischer Berufe ist uns wieder vor Augen geführt worden: Wer hätte den Lockdown ohne Musik, Bücher, Filme überstanden? Die Arbeit von Künstlerinnen zu finanzieren, mag vor der Corona-Epidemie als Luxus erschienen sein. Jetzt wissen wir mehr als zuvor: Ohne Kunst und Kultur verlieren wir die Orientierung, können wir nicht überleben.

Wie wir das Positive beibehalten: Für Pflege­personal Beifall zu klatschen, ist nett, aber nicht genug. Es braucht höhere Löhne und vor allem bessere Ausbildungs­bedingungen für soziale Berufe. Als Steuer­zahlerinnen sollten wir bereit sein, dafür mehr Geld auszugeben. Nicht zuletzt würden Berufe im Gesundheits­wesen dann auch für Einheimische wieder attraktiver.

Rund 360’000 Personen sind in der Schweiz als Einzel­firma organisiert und arbeiten auf eigene Rechnung – dazu gehören nicht nur Physio­therapeuten, sondern auch Taxi­fahrerinnen, Grafiker oder Anwältinnen. Es hat länger als einen Monat gedauert, bis sich der Bundesrat dazu durchringen konnte, auch dann Erwerbs­ausfall­entschädigungen zu gewähren, wenn Selbst­ständige nicht unmittelbar von der Krise betroffen sind. Für die Zukunft scheint es legitim, diese Personen in die gewöhnliche Arbeitslosen­kasse aufzunehmen. So hätten sie auch in der nächsten Krise die Möglichkeit auf Kurz­arbeit. Künstlerinnen, die mit ihrer selbst­ständigen Tätigkeit ein regelmässiges Einkommen nachweisen können, sollte diese Tür ebenfalls offen stehen.

6. Wir können uns für die nächste Krise wappnen

Was uns der Lockdown gezeigt hat: Länder mit voraus­schauender Planung und intakten Sicherheits­netzen überstehen Krisen besser als andere Länder.

Der Bund hat zu Beginn der Epidemie rasch gehandelt. Innert Kürze konnten Firmen einen staatlich verbürgten Kredit aufnehmen. Zudem konnten arbeitgeber­ähnliche Angestellte (etwa Gesellschafter in einer GmbH) neu von Kurzarbeit profitieren. Anders als in den USA, wo Millionen Menschen ihren Job verloren haben – und damit nicht nur ihr Einkommen, sondern auch ihre Kranken­versicherung –, bleibt die wirtschaftliche Not bei uns überschaubar.

Unabhängig davon, wie die Schweiz auf die Krise reagiert, droht eine globale Rezession. Firmen auf der ganzen Welt haben die Produktion gedrosselt oder eingestellt. Viele Staaten haben leere Kassen und können ihre Wirtschaft weniger gut stützen. Dies wird sich auch bei export­orientierten Schweizer Unter­nehmen bemerkbar machen. Die Allgemeinheit wird gewisse Firmen, etwa Fluggesellschaften oder später möglicher­weise auch Banken, retten müssen. Dies sollte allerdings nicht ohne gewisse Bedingungen geschehen.

Wie wir das Positive beibehalten: Spricht der Staat Rettungs­gelder, so sollte er sicher­stellen, dass diese nicht für Dividenden­ausschüttungen oder Aktien­rückkäufe verwendet werden. Sondern produktiv: für Forschung, Investitionen in Kapital­güter oder Mitarbeiter­weiter­bildungen. Bail-outs in klima­relevanten Branchen wie dem Flugverkehr sollten an firmen­spezifische Klima­ziele geknüpft werden, wie es etwa die österreichische Regierung erwägt (in der Schweiz wurde diese Chance leider verpasst).

Doch ist nicht nur der Staat gefragt, sich für die nächsten Krisen zu wappnen. Auch Unter­nehmen sind dazu aufgerufen. Es ist an der Zeit, Liefer­ketten zu diversifizieren – wer als Produktions­firma auf einen einzigen Lieferanten aus China setzt, macht etwas falsch. Auch Selbst­ständige sollten sich so aufstellen, dass sie im Notfall einen Monat ohne Umsatz auskommen. Mit mehr Puffer im System werden die Kosten zwar steigen, die Produkte teurer. Doch die volks­wirtschaftliche Absicherung sollte es uns wert sein.

Zum Autor

Ivo Nicholas Scherrer ist selbst­ständiger Ökonom und Innovations­analyst. Zu klima­ökonomischen Fragen hat er unter anderem für Swiss Economics, die OECD, die ETH und die 2 Degrees Investing Initiative gearbeitet. Er ist Mitgründer der Thinktanks foraus – Forum Aussenpolitik (Schweiz) und Argo (Frankreich) sowie der politischen Bewegung Operation Libero.