Auf lange Sicht

Die Krankenkassen­prämien steigen, weil wir es uns leisten können

Je reicher wir werden, desto grösser wird unsere Bereitschaft, Geld für die Gesundheit auszugeben. Warum beklagen wir uns trotzdem über die hohen Kosten?

Von Simon Schmid, 25.11.2019

Aufatmen! Das ist zurzeit bei den Kranken­kassen­prämien angesagt. 2019 sind die Beiträge für die obligatorische Kranken­versicherung um vergleichs­weise niedrige 1,1 Prozent gestiegen; nächstes Jahr stagnieren sie erstmals seit langer Zeit sogar: Bloss um 0,2 Prozent sollen die Prämien aufs Jahr 2020 hin wachsen, gab das Bundesamt für Gesundheit im September bekannt.

Eine erfreuliche Nachricht für Prämien­zahler. Doch die Verschnauf­pause währt wohl nur kurz. In den kommenden drei Jahren dürften die Ausgaben im Gesundheits­wesen jeweils um 3,3 bis 3,6 Prozent zunehmen. Das sagt die Konjunkturforschungsstelle KOF in ihrer neuesten Prognose voraus. Diese Zunahme entspricht dem lang­jährigen Schnitt und wird dazu führen, dass auch die Kranken­kassen­prämien über kurz oder lang wieder stärker steigen.

Krankenkassenprämien

Damit setzt sich eine Entwicklung fort, die vielen Leuten gut bekannt sein dürfte: Wir zahlen Jahr für Jahr immer mehr Geld in die Töpfe ein, aus denen unsere Arzt-, Spital- und Medikamenten­rechnungen beglichen werden.

Gesundheitskosten steigen

Mittlere Krankenkassenprämie

1996200020102020020004000 Franken

Mittlere Prämie für alle Versicherten, inflations­bereinigt, zu Preisen von 2018. Quelle: BAG

Seit dem Jahr 1996, als das Krankenversicherungsgesetz in Kraft trat, sind die mittleren Jahres­prämien von gut 1700 auf fast 3800 Franken gestiegen. Sie haben sich damit innerhalb von 24 Jahren mehr als verdoppelt. Kein Wunder, betiteln sowohl Politiker als auch Journalisten das, was sich im Gesundheits­wesen abspielt, immer wieder mal gern als «Kosten­explosion».

Doch wie gefährlich ist die Entwicklung wirklich? Was treibt sie an, und wie erklärt man sie? Ist es tatsächlich richtig, von einer «Explosion» zu sprechen?

Einkommensentwicklung

Statt auf die üblichen Schuldigen einzugehen, die in Artikeln zum Thema oft genannt werden – die Ärzte, die Kassen, die Patientinnen, die Pharmalobby –, nähern wir uns dem Thema in diesem Beitrag von einer anderen Seite an. Und blicken aus der Vogel­perspektive auf die Zahlen.

Wir starten mit der Feststellung, dass die Gesundheits­ausgaben nicht das Einzige sind, was in der Statistik gestiegen ist. Eine andere Grösse, die über die vergangenen 24 Jahre ebenfalls zugenommen hat, ist das Einkommen der Privat­haushalte. Pro Kopf ist es seit 1996 um 14’000 Franken gestiegen.

Auch das Einkommen nimmt zu

Gesamteinkommen pro Kopf

1996200020102020040’00080’000 Franken

Erwerbs­einkommen, Vermögens­einkommen und Transfer­leistungen zugunsten der privaten Haus­halte, inflationsbereinigt. Quelle: BFS

Das Einkommen ist eine wichtige Grösse. Von dieser Zahl hängt ab, welche Ausgaben wir uns überhaupt leisten können – für Arzt­konsultationen, medizinische Diagnostik, Therapien, Operationen, Arznei­mittel oder für die Prävention.

Absolute Zunahme

Stellt man das Einkommen den Kranken­kassen­prämien gegenüber, so sieht man zunächst:

  • Ja, die Krankenkassen­prämien steigen von Jahr zu Jahr.

  • Aber die Einkommen wachsen meistens deutlich stärker.

Ablesen lässt sich dies an der folgenden Grafik. Hier sind die Prämien- und die Einkommens­zunahme übereinander­gelegt – Jahr für Jahr, in Franken. Man erkennt, dass die Einkommen zwar stärker schwanken, aber übers Ganze gesehen doch viel stärker zunehmen als die Kranken­kassen­prämien.

Mehr Wohlstand trotz wachsenden Prämien

Jährliche Zunahme der Prämien und Einkommen

Prämienwachstum
Einkommenswachstum abzgl. Prämie
1996200020102020−1500015003000 Franken

Quellen: BAG, BFS

Absolut gesehen sind wir also trotz steigenden Kranken­kassen­prämien nicht ärmer geworden. Dies mag sich banal anhören, ist aber entscheidend. Denn vom Einkommens­zuwachs hängt bei den Gesundheits­ausgaben einiges ab.

Relative Veränderung

Warum, das zeigt die nächste Grafik. Auf ihr sind nicht die Absolut­beträge, sondern das relative Verhältnis der beiden Grössen abgebildet. Die Kurve zeigt die mittlere Prämien­höhe als Prozent­satz des Pro-Kopf-Einkommens.

Höherer Stellenwert

Krankenkassen­prämien im Vergleich zum Einkommen

19962000201020184,7 %036 % des Volkseinkommens

Mittlere Prämie im Verhältnis zum Pro-Kopf-Einkommen der privaten Haus­halte. Quellen: BAG, BFS

Wichtig an diesem Chart ist nicht das Niveau, sondern die Veränderung. 1996 machten die Kranken­kassen­prämien noch 2,7 Prozent des Einkommens aus, 2018 waren es bereits 4,7 Prozent. Abgesehen von einem Zwischen­halt ab 2005 (als die Einkommen stark wuchsen) verlief der Anstieg ziemlich stetig.

Obwohl uns der Prämien­anstieg absolut gesehen also nicht geschadet hat, können wir relativ durchaus von einer explosiven Entwicklung sprechen.

Ländertrends

Was sollen wir von dieser Entwicklung halten?

Ein erster Hinweis ergibt sich aus dem Vergleich einiger Länder – den USA, Spanien und Korea – mit der Schweiz. Zur besseren Vergleich­barkeit sind nicht nur die Kranken­kassen­prämien, sondern alle Gesundheits­ausgaben im Verhältnis zum jeweiligen BIP angegeben. Also auch die Leistungen, die der Staat direkt vergütet, sowie die zusätzlichen Medikamenten-, Arzt- und Spital­rechnungen, die Privat­personen aus der eigenen Tasche begleichen.

Die Ausgaben wachsen überall

Gesundheitsausgaben im Ländervergleich

1970198019902000201020188 % KOR9 % ESP12 % CH17 % USA01020 % des BIP

Quelle: OECD

Die vier Länder weisen zwar ein unterschied­liches Ausgaben­niveau auf: In Korea, einem ehemaligen Schwellen­land, sind sie tiefer als in der Schweiz. In den USA, wo das System sehr ineffektiv ist, sind sie höher. Und in Spanien, wo die Krise ihren Tribut gefordert hat, liegen sie dazwischen.

Doch überall zeigt der Trend seit fast fünf Jahr­zehnten in dieselbe Richtung: nach oben. Die Schweiz ist also keine Ausnahme, sondern der Normalfall.

Ländervergleich

Wenn der Trend überall ähnlich läuft, so heisst dies, dass in allen Ländern ähnliche Faktoren am Werk sind, die die Gesundheits­ausgaben hochtreiben.

Welche sind es? Untersuchungen verweisen auf mehrere Einflüsse:

  • die medizinischen Fortschritte. Immer mehr Therapien, immer modernere Geräte und immer teurere Medikamente sind auf dem Markt, das kostet.

  • die demografische Alterung. Weil ältere Leute insbesondere mehr Pflege­leistungen beanspruchen, nehmen die Gesundheits­ausgaben zu.

  • das Versicherungsprinzip. Je mehr medizinische Leistungen im Katalog abgedeckt sind, desto mehr Leistungen werden auch beansprucht.

  • die Löhne. Weil in der Gesundheits­branche weniger automatisiert werden kann, sind weniger Produktivitäts­steigerungen und damit weniger Spar­möglichkeiten bei den Personal­kosten möglich als anderswo.

All diese Beobachtungen sind gut dokumentiert und mit zahlreichen Studien belegt. Doch am Ende des Tages ist, mit der ökonomischen Brille betrachtet, vielleicht auch alles viel einfacher: Gesundheit ist schlicht ein sogenanntes Luxusgut. Das bedeutet nicht etwa, dass Gesundheit nur etwas für reiche Leute ist. Sondern es heisst, dass empirisch gesehen die Nachfrage nach diesem Gut mit steigendem Einkommen überproportional stark zunimmt.

Dass an dieser Sichtweise etwas dran ist, belegt die folgende Grafik. Darauf sind, von Australien bis Zypern, 48 Länder als Punkte eingezeichnet. Je weiter rechts sie stehen, desto reicher sind sie; je weiter oben sie stehen, desto höher ist der dortige Anteil der Gesundheits­ausgaben am BIP.

Ausgaben steigen mit dem Einkommen

Zusammenhang zwischen Gesundheitsausgaben und BIP

SchweizIndonesienIndienUSA01020 % des BIP040’00080’000 Dollar

Quellen: OECD, OECD

Der Chart zeigt, dass die Schweiz ein sehr hohes BIP pro Kopf aufweist und damit ein sehr einkommens­starkes Land ist. Die Schweiz steht auch bei den Gesundheits­ausgaben weit oben: Ausser in den Vereinigten Staaten haben diese gemessen am BIP in keinem anderen Land einen höheren Stellenwert.

Den Kontrast dazu liefern Indien und Indonesien: zwei Schwellen­länder mit extrem tiefen Gesundheits­ausgaben, aber auch mit sehr niedrigem BIP pro Kopf. Ihre Einwohnerinnen wären wohl froh, könnten sie – statt für Strom und Grund­nahrungs­mittel – einen höheren Anteil ihres Einkommens für spezielle Medikamente, zweite Arzt­meinungen und lebens­notwendige Operationen ausgeben. Die hiesige «Kosten­explosion» erscheint aus deren Perspektive demnach weniger als schlimmes Szenario, das es zu bekämpfen gilt. Sondern, etwas überspitzt gesagt: als anzustrebendes Entwicklungsziel.

Man kann sagen: Unsere Kranken­kassen­prämien steigen, weil wir es uns leisten können. Unsere Gesundheits­ausgaben wachsen, weil wir es wollen.

So nachvollziehbar diese Aussagen im internationalen Vergleich klingen: Einen Haken hat die Sache. Und der hat wiederum mit dem Einkommen zu tun.

Soziale Schichten

Schweizer Haushalte geben im Schnitt gut 10 Prozent ihres Einkommens für die Gesundheit aus. Das geht aus der Haushaltsbudgeterhebung hervor, die das Bundesamt für Statistik letztmals 2015 bis 2017 durchgeführt hat. Darin inbegriffen sind die Prämie für die obligatorische Kranken­kasse und für fakultative Zusatz­versicherungen sowie alle weiteren privaten Ausgaben: Franchise, Selbstbehalt, nicht kassen­pflichtige medizinische Leistungen.

Bei der einkommens­schwächsten Schicht übersteigen diese Ausgaben den Schnitt um das Doppelte: Ganze 21,6 Prozent des Brutto­einkommens werden hier für die Gesundheit aufgewendet. Umgekehrt sinkt dieser Anteil bei der stärksten Schicht auf rund zwei Drittel des Durchschnitts: auf 6,6 Prozent.

Arme Haushalte zahlen mehr

Gesundheits­ausgaben nach Einkommensquintilen

Prämie Grundversicherung
Prämie Zusatzversicherung
Weitere Gesundheitsausgaben
123450510152025 % des Bruttoeinkommens

Das einkommens­schwächste Fünftel der Haus­halte ist im 1. Quintil. Das einkommens­stärkste Fünftel ist im 5. Quintil. Quelle: BFS

Zwar wird ein Teil der höheren Gesundheits­ausgaben bei den schwächsten Haus­halten über kantonale Prämien­verbilligungen wieder aufgefangen (ihr exakter Anteil ist in der Statistik leider nicht aufgeschlüsselt). Die unterste Einkommensschicht wird dadurch merklich entlastet. Bereits beim unteren Mittelstand – etwa in der Mitte des zweiten Einkommens­quintils – fallen die Verbilligungen aber weg: Hier finanzieren die Haushalte alle Ausgaben selbst.

Anders als im Länder­vergleich ist die Gesundheit im sozialen Vergleich somit kein Luxus­gut mehr, sondern eine Notwendigkeit: Man gibt Geld für dieses Gut aus, weil man es braucht (und zu einem gewissen Grad auch vom Staat dazu gezwungen wird) – aber nicht, weil man es unbedingt will. Das erklärt, warum die Gesundheits­kosten ein derart «explosives» Thema sind.

Schluss

Viele Menschen sind beunruhigt. Das geht etwa aus dem Sorgenbarometer der Credit Suisse hervor: Das Thema «Gesundheit und Kranken­kasse» wird darin hinter der Alters­vorsorge an zweiter Stelle genannt. Wie aus der SRG-Wahltagsbefragung vom Oktober hervorgeht, wollen viele Wählerinnen auch, dass die Politik auf diesen beiden Problem­feldern mehr unternimmt.

Die Sorgen sind verständlich. Nicht weil Gesundheits­ausgaben per se ein Problem wären: Ihr Wachstum ist eine logische Folge des hohen Wohlstands. Damit wir uns richtig verstehen: Spar- und Effizienzmassnahmen sind sinnvoll und sollten weiterverfolgt werden – Jahr für Jahr aufs Neue. Doch eine drastische Verringerung der Gesundheits­ausgaben wäre weder in absoluten Beträgen noch im Verhältnis zu den Einkommen wünschenswert.

Wirklich problematisch an den Ausgaben ist bloss ihre ungleiche Verteilung. Erst wenn hier echte Abhilfe geschaffen wird, können wir aufatmen.

Zu den Daten

Die Daten zur Prämien­entwicklung entstammen der Statistik der obligatorischen Krankenversicherung und wurden vom Bundes­amt für Gesundheit kürzlich aufdatiert. Sie wurden anhand des Landesindex der Konsumentenpreise um die Inflation bereinigt (die Inflations­prognosen für 2019 und 2020 kommen von der Nationalbank). Als Vergleichs­grösse wurde das Pro-Kopf-Einkommen verwendet, das in der Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung ermittelt wird. Das ist zwar nicht ganz optimal, doch für das Einkommen auf Haushalts­ebene werden seitens des BFS keine Daten auf jährlicher Basis angeboten (die Haushaltsbudgets werden nur im Drei­jahres­rhythmus erhoben). Die internationalen Angaben zu den Gesundheitsausgaben und zum BIP stammen von der OECD.