Das Virus, die Wirrnis und wir

In den grossen Debatten um Covid-19 geht es weniger um das Virus – als vielmehr um uns. Welche Muster der kollektiven Krisen­bewältigung zeichnen sich ab? Was wird über-, was unterbelichtet?

Von Daniel Graf, 28.05.2020

Noch immer sind viele Fragen über das Virus und die Krankheit offen – weil Wissenschaft Sorgfalt und Zeit braucht. Und die Fähigkeit, gesicherte Erkenntnis von noch vorläufigen Einsichten zu unterscheiden. Umso mehr hat der bisherige Verlauf der Corona-Krise über uns selbst verraten: wie wir Sinn (und Unsinn) konstruieren. Wie wir auf Unsicherheit reagieren. Welche Wörter wir zu welchem Zweck verwenden. Für welche Irrtümer wir anfällig sind. Was unsere Aufmerksamkeit findet und was ihr entgeht.

Welche übergreifenden Entwicklungs­linien lassen sich aus den grossen Streit­themen der letzten Wochen ablesen? Welche (vorläufigen) Lehren sollten wir jetzt schon ziehen? Denn fest steht: Die Krise hat erst begonnen. Und es gibt Debatten, die dringend geführt werden müssen.

11 Inputs für eine Zwischenbilanz.

1. Die Krise zeigt uns, wer wir sind – nicht, wie wir uns gern sähen

Es war eine verführerische, aber offen­kundig trügerische Vorstellung, die Gesellschaft werde nach dem Lockdown automatisch eine gerechtere, klima­freundlichere und solidarischere sein. Tatsächlich hat die Krise nur für kurze Zeit verdeckt, welche gesellschaftlichen Flieh­kräfte nach wie vor wirken – und wie gross die Interessen­gegensätze in den politischen Gremien weiterhin sind. Nun sind die Schweizer Dividenden auch in Kurzarbeits-Unter­nehmen gerettet, die Unter­stützung der Flug­gesellschaften ist auch ohne Dekarbonisierungs­ziele beschlossen. Die wichtigsten gesellschaftlichen Grund­probleme aber sind dieselben geblieben: Klima­krise, soziale Ungleichheit, gesellschaftliche Polarisierung. Ihnen zu begegnen, erfordert auch künftig nicht magisches Denken, sondern nüchterne Analyse und politisches Handeln.

2. In der Pandemie spitzt sich die soziale Ungleichheit zu

Der vielleicht unsinnigste Slogan der letzten Wochen lautet: Vor dem Virus sind alle gleich. Wenn das bedeuten soll, dass sich das Virus seine Opfer nicht «auswählt», formuliert der Satz eine Banalität. Wenn er suggerieren will, es seien von der Pandemie alle gleicher­massen betroffen, ist er im besten Fall weltfremd – und verkennt, welches Problem extreme soziale Ungleichheit schon lange vor Corona war. Seit Beginn der Pandemie zeigt sich, dass die Ärmeren und Marginalisierten dem Virus tendenziell am schutzlosesten ausgeliefert sind.

Das lässt sich im Welt­massstab ebenso beobachten wie innerhalb der Gesellschaften: ob im Flüchtlings­lager Moria, in den Sinti- und Roma-Dörfern Osteuropas, an den Warte­schlangen in Genf, wo inmitten des grössten Wohl­stands Hunderte Bedürftige stunden­lang für Essens­rationen anstehen – vor allem aber in Ländern des globalen Südens, wo infolge der Pandemie, neben ihren medizinischen Auswirkungen, auch eine gigantische Hunger­katastrophe droht. Jeder ernsthafte Versuch, diesen Entwicklungen entgegen­zuwirken, beginnt mit der Infrage­stellung des Mythos von Chancen­gleichheit und Meritokratie, samt seiner Corona-Variante: der Mär gleicher Betroffenheit.

3. Die Corona-Krise ist eine Krise des vernetzten Denkens

Man kann – mit Isolde Charim und einem Begriff von Marcel Mauss – die gegen­wärtige Pandemie als ein «totales gesellschaftliches Phänomen» verstehen: Sie bestimmt sämtliche Aspekte des politischen und gesellschaftlichen Alltags. Kein Ereignis der jüngeren Geschichte hat einen derartigen Maximal­fokus herbei­geführt. Die damit einher­gehende Blick­verengung hat allzu oft auch in den Debatten die Perspektive auf komplexe Zusammen­hänge verhindert – und simple Dichotomien erzeugt, etwa zwischen Lebens­schutz und Ökonomie. Wenn aber die komplexen Probleme, vor die uns die Pandemie stellt, zu angemessenen Lösungen kommen sollen, ist das Denken in Zusammen­hängen wichtiger denn je.

4. Corona verstärkt die Verdrängung der Klimakrise

Das grösste und zugleich fatalste Beispiel für die neue Blick­verengung: Die Corona-Krise hat die Klima­krise aus dem öffentlichen Diskurs katapultiert. Das Hoch der Klima­bewegung – wie weggeblasen. Die Umfrage­werte der Grünen sind gesunken, in Deutschland gar dramatisch eingebrochen. Erst allmählich kehrt das Thema in die Nachrichten zurück.

Corona versus öko? Das ist ein besonders absurder Diskurs­effekt, denn beides gehört zusammen: Weil die Unter­brechung der markt­radikalen Effizienz­logik gezeigt hat, dass nichts politisch alternativlos ist. Und weil Pandemien dieser Art aufs Engste mit der menschlichen Natur­ausbeutung zusammen­hängen. Die Zerstörung natürlicher Lebensräume macht das Über­springen tierischer Viren auf den Menschen wahrscheinlicher; ungebremster Massen­tourismus und globaler Handel just in time erhöhen dieses Risiko – und die Verbreitungs­geschwindigkeit des Virus. Kurz: Die Corona-Krise ist auch eine ökologische Krise. Statt aber dies in politischen Lösungen einzubeziehen, ging das grosse Verdrängen weiter. Umso dringlicher gehört die Klima­krise wieder in den Fokus – und der «Green New Deal» zurück auf die Agenda, nicht nur in der EU.

5. Grüne Metaphysik hilft nicht weiter

Teile der ökologischen Bewegung wollen in der Krise Botschaften hören, die uns «Mutter Natur» sendet, im Netz trendet das Meme «The Earth is healing, we are the virus», und der gefeierte Philosoph Markus Gabriel fragte sich schon vor Wochen, ob das Virus «eine Immun­reaktion des Planeten gegen die Hybris des Menschen» sei. Nun hat der angesehene Biologe und Philosoph Andreas Weber in einem durchaus lesenswerten Text das Virus als «Akteur» ausgemacht, der uns «eine Ethik der Gemeinsamkeit» stifte und uns zeige, «was die richtige Weise ist, uns zu verhalten».

Das alles mag gut gemeint sein, klingt aber doch verdächtig nach einer säkularen Variante des alten religiösen Narrativs von Schuld und Sühne. Zwar ist es vollkommen richtig, wie Andreas Weber daran zu erinnern, dass sich der Mensch dem Natur­zusammen­hang nicht entziehen kann. Aber wenn dabei die Natur rhetorisch vermenschlicht und zum strafend-fürsorgenden Subjekt stilisiert wird, ist fraglich, ob am Ende mehr heraus­kommt als Fremd- oder Selbst­geisselung – oder gar ein passives Vertrauen darauf, dass es die Selbst­heilungs­kräfte des Planeten schon richten werden. Der Zusammen­hang von Klima­krise und Pandemie­risiko aber braucht empirische Analyse und politische Antworten – auch und gerade aus dem grünen Spektrum.

6. Auch Protest muss sich legitimieren

Pandemien waren schon immer Hochzeiten der Sündenbock­suche, Verschwörungs­erzählungen schon lange vor Corona ein Problem. Man musste also gewarnt sein. Dennoch ist derzeit vermutlich keine Entwicklung so verstörend und so gefährlich wie die verschwörungs­ideologische und rechts­extreme Instrumentalisierung der Anti-Lockdown-Stimmung. Zwar gilt auch hier das Gebot der Differenzierung: Man kann gute Gründe haben, die vorüber­gehende Einschränkung der Grund­rechte kritisch zu beobachten (weswegen die Medien genau das seit Wochen tun). Und wo das Feld der Protestierenden so heterogen ist wie bei den sogenannten «Hygiene­demos», gehören nicht alle in denselben Topf.

Doch diese Differenzierung zu leisten, müsste vor allem auch jenen Protestierenden selbst ein Anliegen sein, die hehre Absichten für sich in Anspruch nehmen: Wer Seite an Seite mit Rechts­extremen, Antisemiten und Verschwörungs­ideologinnen demonstriert und sich trotz intensiver öffentlicher Debatte über deren Verein­nahmung des Protests nicht unmiss­verständlich von den Hetzern abgrenzt, sollte sich nicht wundern, wenn man ihm das als Einverständnis auslegt.

7. Die Gesetze der Aufmerksamkeits­ökonomie sind auch ein Problem

Es ist eine bittere Ironie der bisherigen Krisen­debatten: Erst hat Corona die Klima­krise aus dem Aufmerksamkeits­fokus verdrängt, nun dominiert der Streit um Verschwörungs­mythen die Diskussion. Dieses Phänomen ist zu gefährlich, als dass es verharmlost werden dürfte. Trotzdem: Die Verschwörungs­ideologinnen sind noch immer eine kleine Minderheit. Es wäre fatal, sich die diskursive Agenda ausgerechnet von ihnen diktieren zu lassen. Vielmehr gilt es, die Relationen zu wahren – und neue Blick­verengungen zu vermeiden.

8. Für komplexe ethische Fragen taugen keine einfachen Antworten

Die schwierigen ethischen Konflikte, vor die uns die Pandemie insbesondere in der Frage der Triage stellt, haben besonders drastisch die individuellen Unter­schiede in Welt­anschauung und Menschen­bild gezeigt. Das Ermutigende dabei: Wichtige Gremien und Expertinnen sind der Komplexität der Fragen auf Augen­höhe und dennoch mit klarer Sprache begegnet. Die Stellungnahme des Deutschen Ethikrats darf zu den (ge)wichtigsten Texten der letzten Zeit gezählt werden. Ethikerinnen wie Tanja Krones, Peter Dabrock oder Reinhard Merkel haben in exzellenten Beiträgen und luziden Interviews die Nuancen der Abwägungen erläutert und anschaulich gemacht, warum es gerade auf diese Nuancen ankommt. Dass die wenigsten Bürger die Ressourcen haben, all das im Detail nach­zuverfolgen, versteht sich von selbst.

Doch auch wer sich nicht stunden­lang mit Texten zur Moral­philosophie befasst, kann zur Diskussions­kultur beitragen: durch skeptische Selbst­befragung, Zurück­haltung mit eiligen Abschluss-Statements und den Verzicht auf rhetorisches Breitbeinertum. Nicht zuletzt im Wissen darum, dass so manche starke Meinung auf umso schwächerer Sach­kenntnis basiert. Und vielleicht mit einem Gespür dafür, dass ethische Debatten immer selbst schon eine ethische Komponente haben: Auch Sprechen ist Handeln. Das sollten auch die Vertreter vulgär-utilitaristischer Positionen bedenken, wenn sie unverhohlen sozial­darwinistisch das Leben derer zur Disposition stellen, die «ja ohnehin bald» stürben.

9. Es braucht ein neues Verständnis von Intellektualität

Die Intellektuellen hätten in der Corona-Krise versagt, hiess es vor allem zu Beginn der Krise. Tatsächlich langten big names wie Agamben und Sloterdijk mit markigen Sprüchen teils kräftig daneben. Zu pauschaler Intellektuellen­schelte aber besteht kein Anlass. Weil andere, teils weniger prominente public intellectuals von Armin Nassehi bis Zeynep Tufekçi die Krise mit verlässlicher Klugheit begleiten. Weil neue Gesichter auf die intellektuelle Bühne getreten sind, der Diskurs pluraler und kollektiver geworden ist. Und weil der Gestus unbeirrbarer Bescheid­wisserei vielerorts einer Reflexion der eigenen Erkenntnis­grenzen weicht, einschliesslich der Bereitschaft, frühere Positionen nach besserer Einsicht zu korrigieren. Das ist einer komplexen Welt wesentlich angemessener. Und die Vorstellung, dass immer dieselben, meist männlichen Welt­erklärer auf sämtliche Fragen Antwort wüssten, war schon vor Corona fragwürdig.

10. In den Krisen­debatten kommt unsere Sprache auf den Prüfstand

Ein «Krieg» gegen das Virus? Die martialische Metaphorik von Emmanuel Macron bis Mike Pompeo und die Beschuldigungs-Rhetorik von Trump («Chinese virus») haben neue Aufmerksamkeit für instrumentellen Sprach­gebrauch und die Nuancen der Wort­wahl geschaffen. Welches Gewicht Begriffs­fragen haben können, zeigt auch die aktuelle Debatte um die Bezeichnung «Verschwörungs­theorie». Wer die so benannten Narrative teilt, wehrt sich in der Regel gegen den Begriff wegen seiner eindeutig negativen Konnotation. Tatsächlich aber gibt es vor allem für die Gegenseite gute Gründe, über begriffliche Alternativen nachzudenken – weil Verschwörungs­erzählungen die Anforderungen an wissenschaftliche Theorien ja gerade nicht erfüllen. Deshalb sprechen Katharina Nocun und Pia Lamberty in ihrem soeben erschienenen Buch zum Thema lieber von Verschwörungs­erzählung, wenn die konkrete einzelne Annahme gemeint ist; von Verschwörungs­mythos, um ein übergeordnetes Narrativ zu bezeichnen; und von Verschwörungs­ideologie für die individuelle Neigung, katastrophische Ereignisse als Verschwörungen zu interpretieren. Solche Differenzierungen sind keine müssige Sprach­übung – sondern Ausdruck von Erkenntnis­fortschritt und Denkarbeit.

11. Die Krise beweist die Handlungs­fähigkeit des Staates

Die Krisenbekämpfung hat gezeigt: Das Primat der Ökonomie kann durchbrochen werden, wenn der politische Wille da ist. Und die Sicher­stellung der Grund­bedürfnisse gewähr­leisten nicht unregulierte Märkte, sondern staatliches Krisen­management, verantwortungs­volle Bürgerinnen und nicht zuletzt die Angehörigen von Berufs­zweigen, denen bisher die Anerkennung versagt war. Aus dem punktuellen Unter­bruch angeblich alternativ­loser Dynamiken erwächst allerdings nun erst die weitaus grössere Heraus­forderung: die nachhaltige Veränderung unserer Anerkennungs­kultur – auch im monetären Sinne. Und der langfristige Aufbau einer Care-Gesellschaft, die sich nicht in erster Linie am Profit, sondern am Gemein­wohl orientiert.

Synthese?

Keine. Aber vielleicht lässt sich die grund­legendste Folge der Krise mit einem typisch deutschen Wort­monster erfassen: Vulnerabilitäts­bewusstsein. Schon jetzt hat uns die Pandemie die eigene Verwundbarkeit vor Augen geführt – die unserer Körper ebenso wie die unseres voraussetzungs­reichen Alltags. Ob dieses Bewusstsein zu verantwortungs­vollem, solidarischem Handeln führt oder zu einer toxischen Mischung aus Angst, Aggression, Verdrängung und Selbst­viktimisierung, wird wohl auch von der Qualität unserer Debatten abhängen. Und von der politischen Gestaltung der Krise.