Die Spanische Grippe forderte 25 Millionen Opfer, jedes verfügbare Krankenbett war entscheidend: Sanitätspersonal im Oktober 1918 im U.S. Naval Hospital auf Mare Island, Kalifornien. Navy Medicine from Washington, DC, USA/Wikimedia Commons

Leben und Sterben in Zeiten der Seuche

Wer darf leben, wenn nicht alle leben können? Was tun, wenn Ärztinnen aus Kapazitäts­gründen über Leben und Tod entscheiden müssen? Richtlinien sollen helfen, diese Fragen zu beantworten. Doch die Entscheidungen bleiben unmöglich.

Von Nina Streeck, 30.03.2020

Leben retten. Wenn wir in diesen Tagen und Wochen aufs Feierabend­bier mit Kolleginnen verzichten, die langersehnte Ferien­reise absagen und anstatt im Fitness­center daheim auf dem Ergometer strampeln, steckt dahinter dieser Wunsch. Das Leben derjenigen zu schützen, die vom neuen Corona­virus bedroht sind, allen voran das der Älteren und bereits anderweitig Erkrankten. Die Frage ist, ob das gelingt.

Die Schweizerische Akademie der Medizinischen Wissenschaften rechnet mit einem «Massen­zustrom von Patientinnen und Patienten in die Akutspitäler». Es ist kein unwahrscheinliches Szenario, dass die Betten auf den Intensiv­stationen früher oder später nicht mehr ausreichen, um alle Kranken zu versorgen. Und dann?

Wer darf leben, wenn nicht alle leben können?

Eine unmögliche Frage.

In Italien stellt sie sich bereits. Und auch im Elsass. Überfüllte Spitäler stehen vor dem Kollaps, weil lebens­notwendige Medikamente, Beatmungs­geräte, Sauer­stoff und Schutz­anzüge für das Personal fehlen. Patienten liegen auf Matratzen am Boden, in den Gängen. Längst nicht mehr jeder erhält ein Bett auf der Intensiv­station; einige werden aussortiert – und sterben.

Die Frage, wer leben darf, wenn nicht alle leben können, erinnert an das Trolley-Problem, ein beliebtes philosophisches Gedanken­experiment: Eine Bahn rast auf fünf gefesselte Menschen zu, die auf den Gleisen liegen. Die Bremsen versagen, niemand vermag das Gefährt zu stoppen. Allein ein Gleis­arbeiter könnte noch rechtzeitig eine Weiche stellen, sodass die Bahn auf das Neben­gleis führe. Dort liegt zwar auch jemand auf den Gleisen – aber nur eine einzige Person. Was soll er tun?

Die Frage nach dem grössten Nutzen

Das Paradebeispiel eines moralischen Dilemmas. Fragt man Gruppen, welche Lösung sie vorschlagen, ringen sich die meisten zögerlich dazu durch, für den Tod des einen zu plädieren. Besser ein Toter als fünf, lautet die Begründung.

Die utilitaristische Denkweise: der grösste Nutzen für die grösste Zahl.

Am liebsten aber wichen die Befragten aus: Kann man nicht die Fesseln zerschneiden? Die Bahn doch bremsen? Vielleicht etwas an den gesellschaftlichen Verhältnissen ändern, damit es gar nicht so weit kommt?

Lassen sich diese Fragen nur verneinen, gibt es für das moralische Dilemma nur schlechte Lösungen. Egal, was man tut, man verletzt unweigerlich moralische Pflichten, macht sich schuldig. Niemand möchte sich in so einer Lage vorfinden. Doch genau das könnte uns bevorstehen.

In den 82 Intensiv­stationen der Schweiz stehen 850 Betten für erwachsene Patientinnen, es gibt 750 Beatmungs­geräte, die Armee verfügt über eine unklare Anzahl weiterer Geräte. Bei den Herstellern laufen die Maschinen heiss, weil nicht nur die Schweiz die zu knappen Bestände aufstocken will. Dann bedarf es aber auch des Personals, das die Beatmungs­geräte zu bedienen weiss. Die Knappheit lässt sich abfedern, entgehen wird man ihr wohl nicht. Ebenso wenig durch die Verschiebung sogenannter elektiver Eingriffe: Operationen minderer Dringlichkeit.

Zur aktuellen Lage in der Schweiz

Vor dem Virus sind alle gleich, eine Vorzugs­behandlung für Zusatz­versicherte oder Prominente gibt es nicht. Die Schweizerische Akademie der Medizinischen Wissenschaften und die Schweizerische Gesellschaft für Intensivmedizin haben vor einer Woche wegen der Corona-Krise ihre Richtlinien aktualisiert. Eine Erleichterung für die Ärztinnen in der Schweiz.

«Dass die Akademie klare Verhältnisse geschaffen hat, ist eine enorme moralische Entlastung für Ärzteschaft und Spital­personal», sagt Angelo Barrile, Hausarzt und Zürcher SP-Nationalrat. Nicht alle Schweizer Ärzte sind so katastrophen­erprobt wie Daniel Koch, der medizinische Corona-Krisen­manager des Bundes. Und nicht alle schaffen es, einen kühlen Kopf zu bewahren. Das zeigt das Beispiel eines Berner Augenarztes, der vorvergangene Woche sämtliche Kontrollen absagte, weil ihm der Kantons­apotheker Masken verweigert hatte. Die Patienten waren auf sich gestellt. Auch jene, denen ohne Kontrolle und Therapie schwerste Augen­schäden bis hin zur Erblindung drohen.

Obwohl dieser Vorfall in Bern nicht vergleichbar ist mit den Entscheiden, die Ärzte in Norditalien mangels Intensiv­pflege­betten und Beatmungs­geräten zu fällen haben: Ressourcen können über das Schicksal von Patienten entscheiden. Das «schlimmste aller möglichen Szenarien», wie es ein Internist nennt. «Das, was die Ärzte am meisten fürchten», wie eine Hausärztin sagt.

Ein Szenario, auf das angehende Mediziner seit dem Studium vorbereitet werden. «Wir alle haben gelernt, wer eine Behandlung bekommt und was zu tun ist, wenn die Ressourcen nicht ausreichen. Wie wir die grössten Heilungs­chancen abzuschätzen und gestützt darauf zu entscheiden haben», sagt Barrile. «Das war aber alles rein theoretisch, und wir glaubten, das brauchen wir nie.» Eine Illusion, wie sich vor zwei Wochen herausstellte, als der erschütternde Bericht eines Arztes aus Bergamo in den sozialen Netzwerken kursierte: «Da haben wir begonnen, uns innerlich vorzubereiten», so der Politiker, der in einer Zürcher Gemeinschafts­praxis als Arzt arbeitet.

Auch in Zeiten ohne Pandemie müssen Ärztinnen entscheiden, welche Eingriffe zum Beispiel ältere Patienten noch auf sich nehmen sollen. «Wir lernen auch ohne Krise, dass nicht alles, was möglich wäre, auch sinnvoll ist», sagt Barrile. Bei Organ­entnahmen, bei Behandlungen von Krebs im Endstadium, vor schwierigen chirurgischen Eingriffen bei älteren Patienten: Entscheidungen pro oder contra eine Behandlung zu fällen, ist medizinischer Alltag. «Das ist unser Job», sagt Michel Matter, Vizepräsident der Ärzte­verbindung FMH, Augenarzt und GLP-Nationalrat aus dem Kanton Genf. Den Job in «normalen» Zeiten zu erfüllen, ist anspruchsvoll genug. Gefällt werden solche Entscheide deshalb im Team, und zwar nach rein medizinischen Kriterien, wie Matter betont.

Der Lead liegt dabei bei der erfahrensten Fachperson: «Wir haben gelernt, dass der allerbeste Chirurg im Katastrophen­fall nicht operiert, sondern triagiert», sagt Barrile. Und dass der Entscheid nach Möglichkeit im Team erfolgen soll. So schreiben es jetzt auch die Richtlinien der Akademie vor: Der Entscheidungs­prozess müsse unter der Leitung von erfahrenen Personen stehen, die Entscheidungen müssten «wenn immer möglich im inter­professionellen Team» getroffen werden, also von Ärzten und Pflegenden gemeinsam.

Ihnen steht ein ganzer Katalog von Kriterien zur Verfügung: Je nach Verfügbarkeit von Intensiv­betten wird exakt aufgelistet, welche medizinischen Anforderungen wie zum Beispiel Blutwerte oder Funktions­fähigkeit der Organe erfüllt sein müssen, damit eine Patientin in ein Intensiv­pflege­bett kommt und dort auch bleiben darf. Entscheidend ist die kurzfristige Prognose. Das Alter für sich allein ist kein Kriterium, wird aber mitberücksichtigt. Losentscheide oder das Prinzip first come, first served werden ausdrücklich ausgeschlossen.

Noch ist offen, wann die Triage notwendig sein wird – und ob überhaupt. Thierry Fumeaux, der Präsident der Gesellschaft für Intensivmedizin, hatte in der «NZZ am Sonntag» damit gerechnet, dass es im Tessin und in der Romandie bereits in der vergangenen Woche so weit sein könnte. Die Befürchtung hat sich nicht bewahrheitet.

Die schlimmsten Prognosen seien nicht eingetreten, sagte Corona-Krisen­manager Daniel Koch am Samstag an einer Medien­konferenz. Für gesicherte Aussagen sei es aber noch zu früh. Wie schwierig die benötigten Kapazitäten auf den Intensiv­stationen im weiteren Verlauf der Pandemie abzuschätzen sind, zeigt eine aktuelle Datenauswertung der Republik.

Angelo Barrile, Michel Matter und all den anderen Ärzten in der Schweiz bleibt die Hoffnung, dass die Massnahmen des Bundes ausreichen. Und damit auch die Ressourcen, die sie benötigen, um für das Überleben aller Covid-19-Patientinnen kämpfen zu können. Eva Novak

Wer bekommt eine Chance?

Was also tun, wenn zwei Patientinnen um das letzte freie Bett konkurrieren? Stellt man sich vor, einer sei ein 94-jähriger Mann, seit vielen Jahren herzkrank, Diabetiker, allerlei Alters­gebrechen. Nun blutet er im Bauchraum, eine OP stünde an, dringend. Falls er sie überlebt, muss er mit Sicherheit vorerst auf der Intensiv­station bleiben. Falls – sein Tod ist alles andere als unwahrscheinlich.

Die andere, eine Covid-19-Patientin, eine junge Mutter mit drei Kindern, trotz ihres Alters mit einem schweren Verlauf, womöglich weil sie wegen einer multiplen Sklerose Medikamente nimmt, die ihr Immun­system schwächen. Nach einigen Tagen am Beatmungs­gerät kehrt sie wahrscheinlich zurück auf die normale Abteilung. Wer bekommt das Bett?

Zur Wahl gezwungen, entschieden sich die meisten von uns vermutlich für die junge Frau. Selbst wenn der 94-Jährige bei dem Eingriff nicht stürbe, bliebe ihm wohl nur noch wenig Lebenszeit.

«Priorität hat, wer die besseren Chancen hat, zu überleben und zu genesen», sagte Daniel Scheidegger, der Präsident der Schweizerischen Akademie der Medizinischen Wissenschaften, dem «Tages-Anzeiger». Die neuen Richtlinien der Akademie präzisieren Scheideggers Aussage: Wer trotz Intensiv­therapie mutmasslich stirbt und allenfalls an weiteren Krankheiten leidet, die bald zum Tode führen, wie der alte Mann, bekommt kein Bett auf der Intensiv­station. Allein das kurzfristige Überleben gibt den Ausschlag, nicht das jugendliche Alter der Frau. Eine Diskriminierung aufgrund der Lebens­jahre soll nicht stattfinden; weil das Alter die Chancen senkt, eine Erkrankung zu überstehen, fliesst es als Kriterium allerdings indirekt in die Entscheidung ein.

Auch wer es auf einer normalen Station durchzukommen schafft, ohne dass sich seine Prognose gravierend verschlechtert, wird nicht auf die Intensiv­station verlegt. Priorität haben diejenigen, die dank der intensiv­medizinischen Behandlung sehr wahrscheinlich überleben, aber stürben, schlösse man sie aus. Die Massnahmen bezwecken, das Überleben möglichst vieler Menschen zu sichern; «den Nutzen für den einzelnen Patienten und das Patienten­kollektiv insgesamt zu maximieren, das heisst, so zu entscheiden, dass die grösst­mögliche Anzahl von Leben gerettet wird», schreibt die Schweizerische Akademie der Medizinischen Wissenschaften.

Zu krank oder zu gesund

Triage nennt sich das Verfahren, mit dem die Auswahl getroffen wird, wer die intensiv­medizinische Behandlung erhält. Triage, vom französischen trier, aussortieren, bezog sich ursprünglich auf die Sortierung von Wolle oder Kaffeebohnen.

Bekanntheit erlangte der Begriff in der Militär­medizin. In der Schlacht bei Jena und Auerstedt im Jahr 1806 verfügte Napoleons Militär­arzt und Chirurg Baron Dominique Jean Larrey, die Schwer­verletzten unmittelbar auf dem Schlacht­feld zu versorgen. Wer am schlimmsten dran war, erhielt zuerst Hilfe, unabhängig von militärischem Rang und Namen. Und wer vorerst auch ohne Behandlung durchkam, musste warten.

Diese Strategie führte dazu, dass mehr Verletzte überlebten. 1848 modifizierte der britische Marine­chirurg John Wilson die Kriterien: Verwundete, die mit hoher Wahrscheinlichkeit ohnehin dem Tode geweiht waren, blieben zunächst aussen vor. Was er vorschlug, entspricht ungefähr den aktuellen Leitlinien der Schweizerischen Akademie der Medizinischen Wissenschaften: Keine Behandlung bekommen diejenigen, die zu krank oder zu gesund sind.

Ob zu krank oder zu gesund – wenn keine Knappheit herrscht, erhält auch derjenige ein Bett, der selbst ohne Intensiv­therapie bald sterben wird, der 94-jährige kranke Mann. Ebenso wie Personen, deren Prognose sich wahrscheinlich nicht verschlechtert, wenn man sie auf einer anderen Station versorgt: die zu Gesunden. Scheinbar handelt es sich um Entscheide nach medizinischen Kriterien, nüchtern, wertneutral. Doch stimmt das?

Was zählt?

Seit Jahrzehnten debattieren Medizin­ethikerinnen über den Begriff der futility, der Sinnlosigkeit einer Behandlung. Wann es einer Therapie an Sinn mangelt, hängt freilich davon ab, welchen Zweck man damit verfolgt. Zielt sie auf die Entlassung aus dem Spital ab? Möchte man dem Kranken Zeit schenken, sich von seiner Familie zu verabschieden? Ist seine künftige Lebens­qualität von Belang? Oder zählt allein, ob die Therapie das kurzfristige Überleben sicher­zustellen vermag? Weshalb aber genau dieses Ziel? Erschwerend kommt hinzu, dass Prognosen unsicher sind. Im Falle des 94-Jährigen mag sich das baldige Ableben mit einiger Sicherheit prophezeien lassen, doch oft täuschen sich Ärzte auch über die Folgen einer Behandlung.

In einem Handbuch für Chirurgie aus dem Ersten Weltkrieg findet sich eine weitere Ergänzung der Kriterien des Militär­arztes Larrey: War absehbar, dass die Behandlung eines Verletzten viel Zeit beanspruchte und sich in derselben Spanne ein Dutzend anderer Verletzter versorgen liesse, stand Ersterer hintan. «Der grösste Nutzen für die grösste Zahl muss die Regel sein», lautet die Anordnung im Handbuch. Wenn allerdings einzig das kurzfristige Überleben der Patientinnen als Kriterium gilt, was soll dann geschehen, falls mehrere Menschen auf ein Beatmungs­gerät warten, während eine andere Person dauerhaft beatmet wird? Nähme man der Patientin das Gerät weg, die es über längere Zeit benötigt, liessen sich gleich mehrere Covid-19-Erkrankte retten. Solche Situationen sind zu befürchten. Und was dann?

Laut der Schweizerischen Akademie der Medizinischen Wissenschaften kommt der Abbruch einer Behandlung bloss unter bestimmten Bedingungen infrage: sollten die Kapazitäten auf der Intensiv­station ausgeschöpft sein, wenn das Herz eines Kranken stehen bleibt oder mindestens zwei seiner Organe versagen. Nur dann erbt eine andere Patientin sein Bett.

Tun oder Unterlassen

Wenn Ärzte sich hingegen fragen, ob es sich überhaupt lohnt, die Intensiv­therapie aufzunehmen, genügen schon eine mittelschwere Demenz oder ein Lebensalter von mehr als 85 Jahren, um eine Patientin abzuweisen – weitaus schwächere Voraussetzungen mithin als bei einem Therapie­abbruch. Aber warum? Weshalb differenziert die Schweizerische Akademie der Medizinischen Wissenschaften zwischen dem Verzicht auf eine Behandlung und deren Abbruch und stellt für Letzteres höhere Hürden auf?

Die Absicht dahinter ist schliesslich dieselbe: Eine andere Patientin soll das Bett oder das Beatmungs­gerät bekommen. Die Folgen unterscheiden sich – schlimmstenfalls – nicht, ein Kranker stirbt, aus denselben Gründen, ihm wird eine Therapie verwehrt. Dennoch lehnen viele Ärztinnen es ab, einen Behandlungs­abbruch und einen Behandlungs­verzicht als äquivalent zu betrachten. Weil sie bereits eine Vertrauens­beziehung zu ihrem ersten Patienten aufgebaut haben und sich ihm verpflichtet fühlen? Weil sie es als schlimmer empfinden, etwas zu tun – das Gerät abzuhängen –, als etwas zu lassen, nämlich es gar nicht erst einzuschalten?

Dass ein Unterschied zwischen Tun und Unterlassen besteht, diese Intuition teilen viele, schon bei dem abstrakten Beispiel der Bahn, das sich – scheinbar geringfügig – abwandeln lässt. Nun existiert nur ein Gleis, über das allerdings eine Brücke führt. Darauf stehen zwei Männer, einer von ihnen gross und schwer. Wenn man ihn über das Geländer auf die Gleise schubste, hielte sein Körper die Bahn auf – aber er stürbe. Besser nur ein Toter als fünf? Die meisten Leute schütteln hier den Kopf, obgleich – anders als im Beispiel auf der Intensiv­station – sogar mehr als zwei Menschen­leben auf dem Spiel stehen.

Erst recht besteht Einigkeit bei einem nochmals erweiterten Gedanken­spiel: Eine Ärztin behandelt fünf schwerst­kranke Patienten, die alle rasch ein neues Organ benötigen, sonst erwartet sie der sichere Tod. Da kreuzt eines Tages ein junger Mann in der Praxis auf, ein Durchreisender. Als die Ärztin ihn untersucht, stellt sie fest, dass sie mit seinen Organen alle ihre Patienten retten könnte. Und niemand käme ihr auf die Schliche, niemand vermisste den Fremden. Ein Toter oder fünf? Die Antwort fällt stets einhellig aus, die fünf Patienten mit den kaputten Organen müssen sterben.

Das utilitaristische Denken bekommt hier Risse. Sollte die Regel gelten, das Überleben möglichst vieler Menschen zu retten, müsste der Durchreisende seine Organe lassen. Und die dauerhaft beatmete Patientin zugunsten der an Covid-19 Erkrankten sterben.

Lässt man Gruppen über das abgewandelte Trolley-Problem diskutieren, kommen rasch Spekulationen über den Mann auf der Brücke zur Sprache: Wir wissen ja nicht, wer das ist. Vielleicht ein alter Mann, und auf den Gleisen liegen Kinder, die ihr Leben noch vor sich haben. Oder ein Verbrecher.

Schneller an die Front zurück

Im Zweiten Weltkrieg verschifften die Amerikaner das jüngst entwickelte Medikament Penicillin nach Afrika, um erkrankten Soldaten im dortigen Feldzug zu helfen. Das Mittel stand nur in unzureichender Menge zur Verfügung, die Kommandeure mussten eine Entscheidung treffen, wer es erhielt. Sie gaben es nicht den Verwundeten – sondern denjenigen, die sich im Bordell die Gonorrhö eingefangen hatten, aus einem simplen Grund: Sie gesundeten schneller als die Verletzten, konnten rascher wieder an die Front. Auch dahinter steckt freilich ein utilitaristisches Kalkül, bloss mit anderer Definition, was das grösste Wohlergehen für alle schafft. Soll wirklich nur das kurzfristige Überleben ins Gewicht fallen? Oder ebenso der soziale Nutzen?

Auch ausserhalb des Militärs fanden dergleichen Abwägungen Anklang. In den 1960er-Jahren entschied ein Komitee in Seattle darüber, wer einen der knappen Dialyse­plätze erhielt. Die als «God Committee» bekannt gewordene Gruppe bezog eine Reihe von Faktoren ein, unter anderem die emotionale Stabilität, die Ausbildung, vergangene Leistungen, das Beziehungs­netz und den Zivilstand. Sobald die Kriterien an die Öffentlichkeit gelangten, entbrannte eine Kontroverse: Das Verteil­schema schliesse Minderheiten aus, bestreitbare Wert­vorstellungen gäben den Ausschlag über Leben und Tod.

Die Schweizerische Akademie der Medizinischen Wissenschaften formuliert heute unmissverständlich: Diskriminierung kommt nicht infrage; Alter, Geschlecht, Wohnkanton, Nationalität, religiöse Zugehörigkeit, sozialer Status, Versicherungs­status oder eine chronische Behinderung dürfen keine Rolle spielen.

Wie aber sieht es aus, wenn es sich bei den Covid-19-Patienten um Ärztinnen und Pflegekräfte handelt, um Feuerwehr­leute oder Polizistinnen? In einem Ausnahme­zustand, in dem es womöglich gerade an den Fähigkeiten dieser Berufs­gruppen mangelt? Wer ist unabdingbar, damit die Gesellschaft funktioniert? Wenn nicht ein 94-Jähriger und eine junge Frau auf das Beatmungs­gerät warten, sondern eine Reihe ähnlich fitter Gleichaltriger? Kommen dann solche Über­legungen zum Tragen?

Oder bezieht man andere Faktoren ein, etwa die Lebens­qualität, und fragt man sich, ob einer Person ein weniger gutes Leben bevorstünde als der anderen, um sie deswegen gegebenen­falls auszusortieren? Erst im Falle mehrerer Patienten mit ähnlicher Prognose nämlich stellt sich das Problem in all seiner Schärfe: wenn sich nicht mehr ohne weiteres ausmachen lässt, wer über die besten Chancen verfügt, kurzfristig zu überleben, weil diese für alle ungefähr gleich hoch ausfallen. Die Schweizerische Akademie für Medizinische Wissenschaften schweigt dazu.

Mit medizinischen Kriterien allein lassen sich die Fragen nicht lösen. Unweigerlich handelt man sich das Problem ein, Leben bewerten zu müssen.

Wenn das Los bestimmt

Vor dieser Schwierigkeit stand auch die Besatzung der «William Brown» im Jahr 1841 nach der Kollision mit einem Eisberg. Die Seeleute und ein Teil der Passagiere retteten sich in die beiden Beiboote. Eines der Boote leckte jedoch, barg zudem zu viele Leute, schliesslich zog auch noch ein Sturm auf.

Die Crew begann, Männer von Bord zu werfen, zwei Frauen sprangen ihren Gatten hinterher, ansonsten verschonte man das weibliche Geschlecht. Am nächsten Tag wurden die Schiff­brüchigen gerettet. Die Besatzung floh – bis auf einen, Alexander Holmes. Der fand sich alsbald vor Gericht wieder, des Mordes angeklagt. Der Richter erklärte ihn für schuldig und verurteilte ihn zu sechs Monaten Haft und zwanzig Dollar Strafe. Das Los hätte über Leben und Tod entscheiden sollen, argumentierte er, denn allein auf diese Weise liessen sich Menschlichkeit und Gerechtigkeit bewahren.

Ein Los über Leben und Tod entscheiden zu lassen, ist ein Verfahren, das auf den ersten Blick kalt, ja frivol wirken mag. Lose wecken die Assoziation einer Chilbi. Doch liesse sich damit vermeiden, über menschliches Leben ein Urteil zu fällen: Alle bekämen dieselbe Chance auf ein Bett. Statt den Nutzen als oberstes Prinzip festzusetzen, stünde hier die Gleichheit aller im Vorder­grund, ein egalitaristischer Ansatz. Niemand müsste sich benachteiligt fühlen, weil sein Leben aufgrund bestimmter – diskutabler – Merkmale als weniger schützenswert gälte. Und wenn sich medizinisch nicht oder kaum ausmachen lässt, wessen Überlebens­chancen grösser sind, weil sich die Patientinnen stark ähneln, behandelt die Lotterie alle gleich.

Nach einem ähnlichen Prinzip funktionieren Warte­schlangen: Wer zuvorderst in der Reihe steht, bekommt das Bett. Praktikabler als eine Lotterie, denn die Kranken gelangen nicht alle gleichzeitig auf die Intensiv­station. Allerdings zögern manche Menschen lange, bis sie ein Spital aufsuchen, oder ihr Arzt überweist sie erst bei weit fortgeschrittener Krankheit. Verfügt jemand über genügend Geld, um oft zum Arzt zu gehen, oder begreift er den Ernst der Lage dank seiner Ausbildung womöglich besser, ergattert er einen der vorderen Plätze in der Schlange.

Die Gleichheit hat Grenzen. Doch schützt das Verfahren die Beziehung zwischen Arzt und Patientin. Niemand muss befürchten, seine Ärztin könnte ihn eines Tages aussortieren, statt ihn auf die Intensiv­station zu überweisen, oder schaltet sogar gegen seinen Willen das Beatmungs­gerät ab, um es für einen anderen Kranken zu gebrauchen. Das Vertrauen bliebe gewahrt, der Respekt vor der Person gewährleistet.

Versetzte man sich gedanklich hinter einen Schleier des Nicht­wissens, wie es der Philosoph John Rawls vorschlägt, liesse sich die Frage stellen, auf welche Lösung wir uns unter diesen Voraussetzungen wohl einigten. Wir wüssten nicht, wie es uns später erginge, ob wir schwer an Covid-19 erkrankten, ob wir als 94-jährige Herzpatienten der Beatmung bedürften oder ob wir von alledem verschont blieben. Was empfänden wir als fair? Medizinische Kriterien womöglich? Einen irgendwie definierten sozialen Wert, der etwa eine Ärztin oder einen Pflegenden bevorzugte? Eine Lotterie, zumindest dann, wenn sich alle Betroffenen gleichen?

Wer nicht ausweichen kann

Die Überlegungen drehen sich um statistische Patienten. Um Überlebens­wahrscheinlichkeiten, um hypothetische Chancen und Prognosen, um anonyme Kranke und abstrakte Verfahren, die Politiker, Verantwortliche in Fach­gesellschaften, Gruppen klinischer Ethikerinnen oder Chefärztinnen festlegen, indem sie Verordnungen und Richt­linien erlassen.

Im Bett auf der Intensiv­station liegt aber ein einzigartiger Mensch, der um sein Leben kämpft, vielleicht umringt von seinen Liebsten, die Angst um ihn haben. Ärzte und Pflegende kümmern sich um ihn, fühlen sich verantwortlich, womöglich kennen sie den Kranken schon eine Weile und mögen ihn. Sie führen Gespräche mit den überforderten Angehörigen, spüren ihre Trauer, leiden mit ihnen. Und sollen dann bestimmen, ob sie den Mann auf die Intensiv­station überweisen oder nicht. Oder aber sie stehen vor der Wahl, sein Beatmungs­gerät weiter­zureichen. Sie sollen entscheiden, wer leben darf, wenn nicht alle leben können. Eine unmögliche Frage.

Wer soll sie beantworten? In all der Aufregung um Massnahmen, einander vor einer Infektion mit dem Corona­virus zu schützen, um social distancing, Homeoffice und Hamster­käufe, bleibt es seltsam still um den Tod, obwohl die Anstrengungen allein seiner Verhinderung gelten. Nicht Infektionen sind das Problem, Menschen sterben. Von einer Überlastung des Gesundheits­wesens ist die Rede oder von knappen Ressourcen in den Spitälern, allenfalls von einer Statistik der Todesfälle – so lässt sich die Distanz zur Frage leicht wahren. Niemand möchte sich in der Lage finden, eine Antwort geben zu müssen.

Alle können ausweichen, ausser Ärztinnen mit ihren Teams. Ist es deren Aufgabe, Kriterien oder ein Verfahren zu wählen, um über Leben und Tod zu entscheiden? Oder geht es nicht uns alle an, wer leben darf, wenn nicht alle leben können?

Zu den Autorinnen

Nina Streeck ist Fachverantwortliche Ethik und Lebens­fragen am Institut Neumünster. Sie befasst sich mit ethischen Fragen rund um Sterben, Tod, Alter und Demenz und war Redaktorin bei der «Weltwoche» und «NZZ am Sonntag».

Eva Novak ist freie Publizistin und seit 30 Jahren als Bundeshaus­korrespondentin für verschiedene Medien tätig.