Leben und Sterben in Zeiten der Seuche
Wer darf leben, wenn nicht alle leben können? Was tun, wenn Ärztinnen aus Kapazitätsgründen über Leben und Tod entscheiden müssen? Richtlinien sollen helfen, diese Fragen zu beantworten. Doch die Entscheidungen bleiben unmöglich.
Von Nina Streeck, 30.03.2020
Leben retten. Wenn wir in diesen Tagen und Wochen aufs Feierabendbier mit Kolleginnen verzichten, die langersehnte Ferienreise absagen und anstatt im Fitnesscenter daheim auf dem Ergometer strampeln, steckt dahinter dieser Wunsch. Das Leben derjenigen zu schützen, die vom neuen Coronavirus bedroht sind, allen voran das der Älteren und bereits anderweitig Erkrankten. Die Frage ist, ob das gelingt.
Die Schweizerische Akademie der Medizinischen Wissenschaften rechnet mit einem «Massenzustrom von Patientinnen und Patienten in die Akutspitäler». Es ist kein unwahrscheinliches Szenario, dass die Betten auf den Intensivstationen früher oder später nicht mehr ausreichen, um alle Kranken zu versorgen. Und dann?
Wer darf leben, wenn nicht alle leben können?
Eine unmögliche Frage.
In Italien stellt sie sich bereits. Und auch im Elsass. Überfüllte Spitäler stehen vor dem Kollaps, weil lebensnotwendige Medikamente, Beatmungsgeräte, Sauerstoff und Schutzanzüge für das Personal fehlen. Patienten liegen auf Matratzen am Boden, in den Gängen. Längst nicht mehr jeder erhält ein Bett auf der Intensivstation; einige werden aussortiert – und sterben.
Die Frage, wer leben darf, wenn nicht alle leben können, erinnert an das Trolley-Problem, ein beliebtes philosophisches Gedankenexperiment: Eine Bahn rast auf fünf gefesselte Menschen zu, die auf den Gleisen liegen. Die Bremsen versagen, niemand vermag das Gefährt zu stoppen. Allein ein Gleisarbeiter könnte noch rechtzeitig eine Weiche stellen, sodass die Bahn auf das Nebengleis führe. Dort liegt zwar auch jemand auf den Gleisen – aber nur eine einzige Person. Was soll er tun?
Die Frage nach dem grössten Nutzen
Das Paradebeispiel eines moralischen Dilemmas. Fragt man Gruppen, welche Lösung sie vorschlagen, ringen sich die meisten zögerlich dazu durch, für den Tod des einen zu plädieren. Besser ein Toter als fünf, lautet die Begründung.
Die utilitaristische Denkweise: der grösste Nutzen für die grösste Zahl.
Am liebsten aber wichen die Befragten aus: Kann man nicht die Fesseln zerschneiden? Die Bahn doch bremsen? Vielleicht etwas an den gesellschaftlichen Verhältnissen ändern, damit es gar nicht so weit kommt?
Lassen sich diese Fragen nur verneinen, gibt es für das moralische Dilemma nur schlechte Lösungen. Egal, was man tut, man verletzt unweigerlich moralische Pflichten, macht sich schuldig. Niemand möchte sich in so einer Lage vorfinden. Doch genau das könnte uns bevorstehen.
In den 82 Intensivstationen der Schweiz stehen 850 Betten für erwachsene Patientinnen, es gibt 750 Beatmungsgeräte, die Armee verfügt über eine unklare Anzahl weiterer Geräte. Bei den Herstellern laufen die Maschinen heiss, weil nicht nur die Schweiz die zu knappen Bestände aufstocken will. Dann bedarf es aber auch des Personals, das die Beatmungsgeräte zu bedienen weiss. Die Knappheit lässt sich abfedern, entgehen wird man ihr wohl nicht. Ebenso wenig durch die Verschiebung sogenannter elektiver Eingriffe: Operationen minderer Dringlichkeit.
Zur aktuellen Lage in der Schweiz
Vor dem Virus sind alle gleich, eine Vorzugsbehandlung für Zusatzversicherte oder Prominente gibt es nicht. Die Schweizerische Akademie der Medizinischen Wissenschaften und die Schweizerische Gesellschaft für Intensivmedizin haben vor einer Woche wegen der Corona-Krise ihre Richtlinien aktualisiert. Eine Erleichterung für die Ärztinnen in der Schweiz.
«Dass die Akademie klare Verhältnisse geschaffen hat, ist eine enorme moralische Entlastung für Ärzteschaft und Spitalpersonal», sagt Angelo Barrile, Hausarzt und Zürcher SP-Nationalrat. Nicht alle Schweizer Ärzte sind so katastrophenerprobt wie Daniel Koch, der medizinische Corona-Krisenmanager des Bundes. Und nicht alle schaffen es, einen kühlen Kopf zu bewahren. Das zeigt das Beispiel eines Berner Augenarztes, der vorvergangene Woche sämtliche Kontrollen absagte, weil ihm der Kantonsapotheker Masken verweigert hatte. Die Patienten waren auf sich gestellt. Auch jene, denen ohne Kontrolle und Therapie schwerste Augenschäden bis hin zur Erblindung drohen.
Obwohl dieser Vorfall in Bern nicht vergleichbar ist mit den Entscheiden, die Ärzte in Norditalien mangels Intensivpflegebetten und Beatmungsgeräten zu fällen haben: Ressourcen können über das Schicksal von Patienten entscheiden. Das «schlimmste aller möglichen Szenarien», wie es ein Internist nennt. «Das, was die Ärzte am meisten fürchten», wie eine Hausärztin sagt.
Ein Szenario, auf das angehende Mediziner seit dem Studium vorbereitet werden. «Wir alle haben gelernt, wer eine Behandlung bekommt und was zu tun ist, wenn die Ressourcen nicht ausreichen. Wie wir die grössten Heilungschancen abzuschätzen und gestützt darauf zu entscheiden haben», sagt Barrile. «Das war aber alles rein theoretisch, und wir glaubten, das brauchen wir nie.» Eine Illusion, wie sich vor zwei Wochen herausstellte, als der erschütternde Bericht eines Arztes aus Bergamo in den sozialen Netzwerken kursierte: «Da haben wir begonnen, uns innerlich vorzubereiten», so der Politiker, der in einer Zürcher Gemeinschaftspraxis als Arzt arbeitet.
Auch in Zeiten ohne Pandemie müssen Ärztinnen entscheiden, welche Eingriffe zum Beispiel ältere Patienten noch auf sich nehmen sollen. «Wir lernen auch ohne Krise, dass nicht alles, was möglich wäre, auch sinnvoll ist», sagt Barrile. Bei Organentnahmen, bei Behandlungen von Krebs im Endstadium, vor schwierigen chirurgischen Eingriffen bei älteren Patienten: Entscheidungen pro oder contra eine Behandlung zu fällen, ist medizinischer Alltag. «Das ist unser Job», sagt Michel Matter, Vizepräsident der Ärzteverbindung FMH, Augenarzt und GLP-Nationalrat aus dem Kanton Genf. Den Job in «normalen» Zeiten zu erfüllen, ist anspruchsvoll genug. Gefällt werden solche Entscheide deshalb im Team, und zwar nach rein medizinischen Kriterien, wie Matter betont.
Der Lead liegt dabei bei der erfahrensten Fachperson: «Wir haben gelernt, dass der allerbeste Chirurg im Katastrophenfall nicht operiert, sondern triagiert», sagt Barrile. Und dass der Entscheid nach Möglichkeit im Team erfolgen soll. So schreiben es jetzt auch die Richtlinien der Akademie vor: Der Entscheidungsprozess müsse unter der Leitung von erfahrenen Personen stehen, die Entscheidungen müssten «wenn immer möglich im interprofessionellen Team» getroffen werden, also von Ärzten und Pflegenden gemeinsam.
Ihnen steht ein ganzer Katalog von Kriterien zur Verfügung: Je nach Verfügbarkeit von Intensivbetten wird exakt aufgelistet, welche medizinischen Anforderungen wie zum Beispiel Blutwerte oder Funktionsfähigkeit der Organe erfüllt sein müssen, damit eine Patientin in ein Intensivpflegebett kommt und dort auch bleiben darf. Entscheidend ist die kurzfristige Prognose. Das Alter für sich allein ist kein Kriterium, wird aber mitberücksichtigt. Losentscheide oder das Prinzip first come, first served werden ausdrücklich ausgeschlossen.
Noch ist offen, wann die Triage notwendig sein wird – und ob überhaupt. Thierry Fumeaux, der Präsident der Gesellschaft für Intensivmedizin, hatte in der «NZZ am Sonntag» damit gerechnet, dass es im Tessin und in der Romandie bereits in der vergangenen Woche so weit sein könnte. Die Befürchtung hat sich nicht bewahrheitet.
Die schlimmsten Prognosen seien nicht eingetreten, sagte Corona-Krisenmanager Daniel Koch am Samstag an einer Medienkonferenz. Für gesicherte Aussagen sei es aber noch zu früh. Wie schwierig die benötigten Kapazitäten auf den Intensivstationen im weiteren Verlauf der Pandemie abzuschätzen sind, zeigt eine aktuelle Datenauswertung der Republik.
Angelo Barrile, Michel Matter und all den anderen Ärzten in der Schweiz bleibt die Hoffnung, dass die Massnahmen des Bundes ausreichen. Und damit auch die Ressourcen, die sie benötigen, um für das Überleben aller Covid-19-Patientinnen kämpfen zu können. Eva Novak
Wer bekommt eine Chance?
Was also tun, wenn zwei Patientinnen um das letzte freie Bett konkurrieren? Stellt man sich vor, einer sei ein 94-jähriger Mann, seit vielen Jahren herzkrank, Diabetiker, allerlei Altersgebrechen. Nun blutet er im Bauchraum, eine OP stünde an, dringend. Falls er sie überlebt, muss er mit Sicherheit vorerst auf der Intensivstation bleiben. Falls – sein Tod ist alles andere als unwahrscheinlich.
Die andere, eine Covid-19-Patientin, eine junge Mutter mit drei Kindern, trotz ihres Alters mit einem schweren Verlauf, womöglich weil sie wegen einer multiplen Sklerose Medikamente nimmt, die ihr Immunsystem schwächen. Nach einigen Tagen am Beatmungsgerät kehrt sie wahrscheinlich zurück auf die normale Abteilung. Wer bekommt das Bett?
Zur Wahl gezwungen, entschieden sich die meisten von uns vermutlich für die junge Frau. Selbst wenn der 94-Jährige bei dem Eingriff nicht stürbe, bliebe ihm wohl nur noch wenig Lebenszeit.
«Priorität hat, wer die besseren Chancen hat, zu überleben und zu genesen», sagte Daniel Scheidegger, der Präsident der Schweizerischen Akademie der Medizinischen Wissenschaften, dem «Tages-Anzeiger». Die neuen Richtlinien der Akademie präzisieren Scheideggers Aussage: Wer trotz Intensivtherapie mutmasslich stirbt und allenfalls an weiteren Krankheiten leidet, die bald zum Tode führen, wie der alte Mann, bekommt kein Bett auf der Intensivstation. Allein das kurzfristige Überleben gibt den Ausschlag, nicht das jugendliche Alter der Frau. Eine Diskriminierung aufgrund der Lebensjahre soll nicht stattfinden; weil das Alter die Chancen senkt, eine Erkrankung zu überstehen, fliesst es als Kriterium allerdings indirekt in die Entscheidung ein.
Auch wer es auf einer normalen Station durchzukommen schafft, ohne dass sich seine Prognose gravierend verschlechtert, wird nicht auf die Intensivstation verlegt. Priorität haben diejenigen, die dank der intensivmedizinischen Behandlung sehr wahrscheinlich überleben, aber stürben, schlösse man sie aus. Die Massnahmen bezwecken, das Überleben möglichst vieler Menschen zu sichern; «den Nutzen für den einzelnen Patienten und das Patientenkollektiv insgesamt zu maximieren, das heisst, so zu entscheiden, dass die grösstmögliche Anzahl von Leben gerettet wird», schreibt die Schweizerische Akademie der Medizinischen Wissenschaften.
Zu krank oder zu gesund
Triage nennt sich das Verfahren, mit dem die Auswahl getroffen wird, wer die intensivmedizinische Behandlung erhält. Triage, vom französischen trier, aussortieren, bezog sich ursprünglich auf die Sortierung von Wolle oder Kaffeebohnen.
Bekanntheit erlangte der Begriff in der Militärmedizin. In der Schlacht bei Jena und Auerstedt im Jahr 1806 verfügte Napoleons Militärarzt und Chirurg Baron Dominique Jean Larrey, die Schwerverletzten unmittelbar auf dem Schlachtfeld zu versorgen. Wer am schlimmsten dran war, erhielt zuerst Hilfe, unabhängig von militärischem Rang und Namen. Und wer vorerst auch ohne Behandlung durchkam, musste warten.
Diese Strategie führte dazu, dass mehr Verletzte überlebten. 1848 modifizierte der britische Marinechirurg John Wilson die Kriterien: Verwundete, die mit hoher Wahrscheinlichkeit ohnehin dem Tode geweiht waren, blieben zunächst aussen vor. Was er vorschlug, entspricht ungefähr den aktuellen Leitlinien der Schweizerischen Akademie der Medizinischen Wissenschaften: Keine Behandlung bekommen diejenigen, die zu krank oder zu gesund sind.
Ob zu krank oder zu gesund – wenn keine Knappheit herrscht, erhält auch derjenige ein Bett, der selbst ohne Intensivtherapie bald sterben wird, der 94-jährige kranke Mann. Ebenso wie Personen, deren Prognose sich wahrscheinlich nicht verschlechtert, wenn man sie auf einer anderen Station versorgt: die zu Gesunden. Scheinbar handelt es sich um Entscheide nach medizinischen Kriterien, nüchtern, wertneutral. Doch stimmt das?
Was zählt?
Seit Jahrzehnten debattieren Medizinethikerinnen über den Begriff der futility, der Sinnlosigkeit einer Behandlung. Wann es einer Therapie an Sinn mangelt, hängt freilich davon ab, welchen Zweck man damit verfolgt. Zielt sie auf die Entlassung aus dem Spital ab? Möchte man dem Kranken Zeit schenken, sich von seiner Familie zu verabschieden? Ist seine künftige Lebensqualität von Belang? Oder zählt allein, ob die Therapie das kurzfristige Überleben sicherzustellen vermag? Weshalb aber genau dieses Ziel? Erschwerend kommt hinzu, dass Prognosen unsicher sind. Im Falle des 94-Jährigen mag sich das baldige Ableben mit einiger Sicherheit prophezeien lassen, doch oft täuschen sich Ärzte auch über die Folgen einer Behandlung.
In einem Handbuch für Chirurgie aus dem Ersten Weltkrieg findet sich eine weitere Ergänzung der Kriterien des Militärarztes Larrey: War absehbar, dass die Behandlung eines Verletzten viel Zeit beanspruchte und sich in derselben Spanne ein Dutzend anderer Verletzter versorgen liesse, stand Ersterer hintan. «Der grösste Nutzen für die grösste Zahl muss die Regel sein», lautet die Anordnung im Handbuch. Wenn allerdings einzig das kurzfristige Überleben der Patientinnen als Kriterium gilt, was soll dann geschehen, falls mehrere Menschen auf ein Beatmungsgerät warten, während eine andere Person dauerhaft beatmet wird? Nähme man der Patientin das Gerät weg, die es über längere Zeit benötigt, liessen sich gleich mehrere Covid-19-Erkrankte retten. Solche Situationen sind zu befürchten. Und was dann?
Laut der Schweizerischen Akademie der Medizinischen Wissenschaften kommt der Abbruch einer Behandlung bloss unter bestimmten Bedingungen infrage: sollten die Kapazitäten auf der Intensivstation ausgeschöpft sein, wenn das Herz eines Kranken stehen bleibt oder mindestens zwei seiner Organe versagen. Nur dann erbt eine andere Patientin sein Bett.
Tun oder Unterlassen
Wenn Ärzte sich hingegen fragen, ob es sich überhaupt lohnt, die Intensivtherapie aufzunehmen, genügen schon eine mittelschwere Demenz oder ein Lebensalter von mehr als 85 Jahren, um eine Patientin abzuweisen – weitaus schwächere Voraussetzungen mithin als bei einem Therapieabbruch. Aber warum? Weshalb differenziert die Schweizerische Akademie der Medizinischen Wissenschaften zwischen dem Verzicht auf eine Behandlung und deren Abbruch und stellt für Letzteres höhere Hürden auf?
Die Absicht dahinter ist schliesslich dieselbe: Eine andere Patientin soll das Bett oder das Beatmungsgerät bekommen. Die Folgen unterscheiden sich – schlimmstenfalls – nicht, ein Kranker stirbt, aus denselben Gründen, ihm wird eine Therapie verwehrt. Dennoch lehnen viele Ärztinnen es ab, einen Behandlungsabbruch und einen Behandlungsverzicht als äquivalent zu betrachten. Weil sie bereits eine Vertrauensbeziehung zu ihrem ersten Patienten aufgebaut haben und sich ihm verpflichtet fühlen? Weil sie es als schlimmer empfinden, etwas zu tun – das Gerät abzuhängen –, als etwas zu lassen, nämlich es gar nicht erst einzuschalten?
Dass ein Unterschied zwischen Tun und Unterlassen besteht, diese Intuition teilen viele, schon bei dem abstrakten Beispiel der Bahn, das sich – scheinbar geringfügig – abwandeln lässt. Nun existiert nur ein Gleis, über das allerdings eine Brücke führt. Darauf stehen zwei Männer, einer von ihnen gross und schwer. Wenn man ihn über das Geländer auf die Gleise schubste, hielte sein Körper die Bahn auf – aber er stürbe. Besser nur ein Toter als fünf? Die meisten Leute schütteln hier den Kopf, obgleich – anders als im Beispiel auf der Intensivstation – sogar mehr als zwei Menschenleben auf dem Spiel stehen.
Erst recht besteht Einigkeit bei einem nochmals erweiterten Gedankenspiel: Eine Ärztin behandelt fünf schwerstkranke Patienten, die alle rasch ein neues Organ benötigen, sonst erwartet sie der sichere Tod. Da kreuzt eines Tages ein junger Mann in der Praxis auf, ein Durchreisender. Als die Ärztin ihn untersucht, stellt sie fest, dass sie mit seinen Organen alle ihre Patienten retten könnte. Und niemand käme ihr auf die Schliche, niemand vermisste den Fremden. Ein Toter oder fünf? Die Antwort fällt stets einhellig aus, die fünf Patienten mit den kaputten Organen müssen sterben.
Das utilitaristische Denken bekommt hier Risse. Sollte die Regel gelten, das Überleben möglichst vieler Menschen zu retten, müsste der Durchreisende seine Organe lassen. Und die dauerhaft beatmete Patientin zugunsten der an Covid-19 Erkrankten sterben.
Lässt man Gruppen über das abgewandelte Trolley-Problem diskutieren, kommen rasch Spekulationen über den Mann auf der Brücke zur Sprache: Wir wissen ja nicht, wer das ist. Vielleicht ein alter Mann, und auf den Gleisen liegen Kinder, die ihr Leben noch vor sich haben. Oder ein Verbrecher.
Schneller an die Front zurück
Im Zweiten Weltkrieg verschifften die Amerikaner das jüngst entwickelte Medikament Penicillin nach Afrika, um erkrankten Soldaten im dortigen Feldzug zu helfen. Das Mittel stand nur in unzureichender Menge zur Verfügung, die Kommandeure mussten eine Entscheidung treffen, wer es erhielt. Sie gaben es nicht den Verwundeten – sondern denjenigen, die sich im Bordell die Gonorrhö eingefangen hatten, aus einem simplen Grund: Sie gesundeten schneller als die Verletzten, konnten rascher wieder an die Front. Auch dahinter steckt freilich ein utilitaristisches Kalkül, bloss mit anderer Definition, was das grösste Wohlergehen für alle schafft. Soll wirklich nur das kurzfristige Überleben ins Gewicht fallen? Oder ebenso der soziale Nutzen?
Auch ausserhalb des Militärs fanden dergleichen Abwägungen Anklang. In den 1960er-Jahren entschied ein Komitee in Seattle darüber, wer einen der knappen Dialyseplätze erhielt. Die als «God Committee» bekannt gewordene Gruppe bezog eine Reihe von Faktoren ein, unter anderem die emotionale Stabilität, die Ausbildung, vergangene Leistungen, das Beziehungsnetz und den Zivilstand. Sobald die Kriterien an die Öffentlichkeit gelangten, entbrannte eine Kontroverse: Das Verteilschema schliesse Minderheiten aus, bestreitbare Wertvorstellungen gäben den Ausschlag über Leben und Tod.
Die Schweizerische Akademie der Medizinischen Wissenschaften formuliert heute unmissverständlich: Diskriminierung kommt nicht infrage; Alter, Geschlecht, Wohnkanton, Nationalität, religiöse Zugehörigkeit, sozialer Status, Versicherungsstatus oder eine chronische Behinderung dürfen keine Rolle spielen.
Wie aber sieht es aus, wenn es sich bei den Covid-19-Patienten um Ärztinnen und Pflegekräfte handelt, um Feuerwehrleute oder Polizistinnen? In einem Ausnahmezustand, in dem es womöglich gerade an den Fähigkeiten dieser Berufsgruppen mangelt? Wer ist unabdingbar, damit die Gesellschaft funktioniert? Wenn nicht ein 94-Jähriger und eine junge Frau auf das Beatmungsgerät warten, sondern eine Reihe ähnlich fitter Gleichaltriger? Kommen dann solche Überlegungen zum Tragen?
Oder bezieht man andere Faktoren ein, etwa die Lebensqualität, und fragt man sich, ob einer Person ein weniger gutes Leben bevorstünde als der anderen, um sie deswegen gegebenenfalls auszusortieren? Erst im Falle mehrerer Patienten mit ähnlicher Prognose nämlich stellt sich das Problem in all seiner Schärfe: wenn sich nicht mehr ohne weiteres ausmachen lässt, wer über die besten Chancen verfügt, kurzfristig zu überleben, weil diese für alle ungefähr gleich hoch ausfallen. Die Schweizerische Akademie für Medizinische Wissenschaften schweigt dazu.
Mit medizinischen Kriterien allein lassen sich die Fragen nicht lösen. Unweigerlich handelt man sich das Problem ein, Leben bewerten zu müssen.
Wenn das Los bestimmt
Vor dieser Schwierigkeit stand auch die Besatzung der «William Brown» im Jahr 1841 nach der Kollision mit einem Eisberg. Die Seeleute und ein Teil der Passagiere retteten sich in die beiden Beiboote. Eines der Boote leckte jedoch, barg zudem zu viele Leute, schliesslich zog auch noch ein Sturm auf.
Die Crew begann, Männer von Bord zu werfen, zwei Frauen sprangen ihren Gatten hinterher, ansonsten verschonte man das weibliche Geschlecht. Am nächsten Tag wurden die Schiffbrüchigen gerettet. Die Besatzung floh – bis auf einen, Alexander Holmes. Der fand sich alsbald vor Gericht wieder, des Mordes angeklagt. Der Richter erklärte ihn für schuldig und verurteilte ihn zu sechs Monaten Haft und zwanzig Dollar Strafe. Das Los hätte über Leben und Tod entscheiden sollen, argumentierte er, denn allein auf diese Weise liessen sich Menschlichkeit und Gerechtigkeit bewahren.
Ein Los über Leben und Tod entscheiden zu lassen, ist ein Verfahren, das auf den ersten Blick kalt, ja frivol wirken mag. Lose wecken die Assoziation einer Chilbi. Doch liesse sich damit vermeiden, über menschliches Leben ein Urteil zu fällen: Alle bekämen dieselbe Chance auf ein Bett. Statt den Nutzen als oberstes Prinzip festzusetzen, stünde hier die Gleichheit aller im Vordergrund, ein egalitaristischer Ansatz. Niemand müsste sich benachteiligt fühlen, weil sein Leben aufgrund bestimmter – diskutabler – Merkmale als weniger schützenswert gälte. Und wenn sich medizinisch nicht oder kaum ausmachen lässt, wessen Überlebenschancen grösser sind, weil sich die Patientinnen stark ähneln, behandelt die Lotterie alle gleich.
Nach einem ähnlichen Prinzip funktionieren Warteschlangen: Wer zuvorderst in der Reihe steht, bekommt das Bett. Praktikabler als eine Lotterie, denn die Kranken gelangen nicht alle gleichzeitig auf die Intensivstation. Allerdings zögern manche Menschen lange, bis sie ein Spital aufsuchen, oder ihr Arzt überweist sie erst bei weit fortgeschrittener Krankheit. Verfügt jemand über genügend Geld, um oft zum Arzt zu gehen, oder begreift er den Ernst der Lage dank seiner Ausbildung womöglich besser, ergattert er einen der vorderen Plätze in der Schlange.
Die Gleichheit hat Grenzen. Doch schützt das Verfahren die Beziehung zwischen Arzt und Patientin. Niemand muss befürchten, seine Ärztin könnte ihn eines Tages aussortieren, statt ihn auf die Intensivstation zu überweisen, oder schaltet sogar gegen seinen Willen das Beatmungsgerät ab, um es für einen anderen Kranken zu gebrauchen. Das Vertrauen bliebe gewahrt, der Respekt vor der Person gewährleistet.
Versetzte man sich gedanklich hinter einen Schleier des Nichtwissens, wie es der Philosoph John Rawls vorschlägt, liesse sich die Frage stellen, auf welche Lösung wir uns unter diesen Voraussetzungen wohl einigten. Wir wüssten nicht, wie es uns später erginge, ob wir schwer an Covid-19 erkrankten, ob wir als 94-jährige Herzpatienten der Beatmung bedürften oder ob wir von alledem verschont blieben. Was empfänden wir als fair? Medizinische Kriterien womöglich? Einen irgendwie definierten sozialen Wert, der etwa eine Ärztin oder einen Pflegenden bevorzugte? Eine Lotterie, zumindest dann, wenn sich alle Betroffenen gleichen?
Wer nicht ausweichen kann
Die Überlegungen drehen sich um statistische Patienten. Um Überlebenswahrscheinlichkeiten, um hypothetische Chancen und Prognosen, um anonyme Kranke und abstrakte Verfahren, die Politiker, Verantwortliche in Fachgesellschaften, Gruppen klinischer Ethikerinnen oder Chefärztinnen festlegen, indem sie Verordnungen und Richtlinien erlassen.
Im Bett auf der Intensivstation liegt aber ein einzigartiger Mensch, der um sein Leben kämpft, vielleicht umringt von seinen Liebsten, die Angst um ihn haben. Ärzte und Pflegende kümmern sich um ihn, fühlen sich verantwortlich, womöglich kennen sie den Kranken schon eine Weile und mögen ihn. Sie führen Gespräche mit den überforderten Angehörigen, spüren ihre Trauer, leiden mit ihnen. Und sollen dann bestimmen, ob sie den Mann auf die Intensivstation überweisen oder nicht. Oder aber sie stehen vor der Wahl, sein Beatmungsgerät weiterzureichen. Sie sollen entscheiden, wer leben darf, wenn nicht alle leben können. Eine unmögliche Frage.
Wer soll sie beantworten? In all der Aufregung um Massnahmen, einander vor einer Infektion mit dem Coronavirus zu schützen, um social distancing, Homeoffice und Hamsterkäufe, bleibt es seltsam still um den Tod, obwohl die Anstrengungen allein seiner Verhinderung gelten. Nicht Infektionen sind das Problem, Menschen sterben. Von einer Überlastung des Gesundheitswesens ist die Rede oder von knappen Ressourcen in den Spitälern, allenfalls von einer Statistik der Todesfälle – so lässt sich die Distanz zur Frage leicht wahren. Niemand möchte sich in der Lage finden, eine Antwort geben zu müssen.
Alle können ausweichen, ausser Ärztinnen mit ihren Teams. Ist es deren Aufgabe, Kriterien oder ein Verfahren zu wählen, um über Leben und Tod zu entscheiden? Oder geht es nicht uns alle an, wer leben darf, wenn nicht alle leben können?
Nina Streeck ist Fachverantwortliche Ethik und Lebensfragen am Institut Neumünster. Sie befasst sich mit ethischen Fragen rund um Sterben, Tod, Alter und Demenz und war Redaktorin bei der «Weltwoche» und «NZZ am Sonntag».
Eva Novak ist freie Publizistin und seit 30 Jahren als Bundeshauskorrespondentin für verschiedene Medien tätig.