Wie bleibt man zu Hause, wenn man keines hat?
Das Virus hat die Schweiz im Griff. Die Einschränkungen treffen alle. Aber manche mehr als alle. Eine Reise an die Ränder.
Von Ronja Beck, Anja Conzett, Carlos Hanimann, Brigitte Hürlimann (Text) und Dominic Nahr (Bilder), 11.04.2020
Wie bei der Dunkelheit dauert es einen Moment, bis sich der Blick gewöhnt. Dann sieht man sie. Den Mann mit den ausgebeulten Einkaufstaschen und dem aufgerollten Schlafsack auf der Parkbank. Die Frau, die unauffällig der Verkäuferin folgt, die kurz vor Ladenschluss Esswaren zum halben Preis markiert. Die Frauen, die gelangweilt an der Ecke Zigaretten rauchen, weder unterwegs noch am Ziel. Die jungen Männer, die wie ausgeschnitten und aufgeklebt vor dem Bunker am äussersten Rand des Orts sitzen.
Normalerweise gehen sie im alltäglichen Treiben mühelos unter. Aber normal ist seit dem 16. März nicht mehr viel. Seit den Anordnungen des Bundes zur Eindämmung von Covid-19 hat sich das öffentliche Leben ins Private zurückgezogen. Zurück bleiben all jene, die nicht Teil der Mehrheitsgesellschaft sind: Obdachlose, Asylbewerber, Prostituierte, Armutsbetroffene, Menschen, deren Lebensmittelpunkt die Strasse ist.
Für die meisten von ihnen war das Leben schon vor der Pandemie ein Krisenzustand. Jetzt stellen sich ihnen noch ganz andere Fragen.
Wie geht social distancing, wenn man im Asylheim mit hundert anderen wohnt? Wie ernährt man sich in Zeiten von Hamsterkäufen, wenn das Geld auch sonst kaum fürs Essen reicht? Und was tun, wenn man nicht viel mehr als die Arbeit auf der Gasse hat, ihr aber nicht mehr nachgehen kann?
Wie bleibt man zu Hause, wenn man keines hat?
Notschlafstelle wird zur Anlaufstelle
Seit zehn Minuten gibt es Gemüsesuppe mit Wienerli. Hermann interessiert das nicht, er hat viel zu erzählen. Hermann ist ein freundlicher Hüne mit grauen Haaren, grauem Bart und violettem Shirt. Um den Hals trägt er einen Messerschaft aus Leder, ohne Messer, und Kabel-Kopfhörer, die nirgends eingesteckt sind. Hermann, der anders heisst, spricht ein sehr schnelles, gepflegtes Deutsch. Nur, aneinandergereiht ergeben die Sätze wenig Sinn. In Kürze: Seine Tochter ist eine bekannte Sängerin, und der deutsche Geheimdienst ist hinter ihm her. Letzteres ist auch der Grund, dass er jetzt auf den Strassen von Zürich lebt. Corona? Er winkt ab und wendet sich doch der Suppe zu.
Hermann ist einer von 35 Menschen ohne Obdach, die sich an diesem Freitagabend Ende März beim Pfuusbus des Sozialwerks Pfarrer Sieber verpflegen. «Dass seine Tochter eine bekannte Sängerin ist, stimmt übrigens wirklich», sagt Stefan Haun, Leiter des Bereichs Auffangen, während er schaut, dass nicht zu viele Menschen gleichzeitig im Vorzelt des Sattelschleppers Suppe fassen.
Eigentlich ist der Pfuusbus eine Winter-Notschlafstelle. Doch auf Anweisung des Bundesrats ist er seit dem 16. März geschlossen – zu nahe liegen die Schlafplätze beieinander. In Zürich ist einzig die städtische Notschlafstelle an der Rosengartenstrasse noch geöffnet. Hier können im Normalbetrieb 52 Personen übernachten. Aktuell hat die Stadt die Belegung schrittweise auf rund 20 Plätze reduziert, damit der nötige Abstand eingehalten werden kann. Mit anderen Worten: Von den maximal rund 200 Notschlafplätzen, die in Zürich sonst von der Stadt, dem Sozialwerk Pfarrer Sieber und anderen Privaten wie der Heilsarmee in dieser Jahreszeit für alleinstehende Erwachsene angeboten werden, steht noch etwa ein Viertel zur Verfügung. Die Stadt Zürich betont aber, dass niemand abgewiesen wird, der Unterkunft sucht – wenn nötig, würden Lösungen ausserhalb der Notschlafstelle gefunden.
Die Stadt geht davon aus, dass in Zürich rund drei Dutzend Menschen obdachlos sind. Stefan Haun will dazu lieber keine Schätzung abgeben. Sicher ist: Eine unabhängige Studie darüber, wie viele Menschen in Zürich ohne Obdach sind, gibt es nicht. Dafür aber eine für das weitaus kleinere Basel: Dort leben gemäss der Fachhochschule Nordwestschweiz rund 100 Personen auf der Strasse.
Den Pfuusbus mit seinen 50 Schlafplätzen, das Iglu mit weiteren 20, die Anlaufstelle Brot-Egge und das Gassencafé Sunestube – das alles musste die Sieber-Stiftung von einem Tag auf den anderen schliessen. Drei Tage dauerte es, dann öffnete der Pfuusbus wieder – nicht als Notschlafstelle, sondern als Anlaufstelle, die 24 Stunden am Tag betreut wird.
Es herrscht Maskenpflicht, und wer auf das Terrain vor der Schiessanlage Albisgüetli will, muss sich erst die Hände waschen, sie desinfizieren und sich das Fieber messen lassen. Bei erhöhter Temperatur wird die Betroffene gesondert betreut. Dann folgen medizinische Abklärungen.
Zusätzlich sind Duschen aufgestellt worden – und ein zwanzig Meter langes Zelt. Im Zelt liegen Matten und Schlafsäcke, fein säuberlich auf dem Holzboden ausgelegt. Zwei Meter Abstand von Statt zu Statt. «Offiziell sind wir nicht mehr als Notschlafstelle gelistet», sagt Haun. «Aber wenn sich jemand hinlegt und schläft, werden wir ihn sicher nicht rauswerfen, solange der Sicherheitsabstand gewährleistet werden kann.»
Der Pfuusbus ist während der Krise streng denen vorbehalten, die sonst nirgends hinkönnen. Das heisst: Jene, die in Zürich gemeldet sind und deshalb Anspruch auf kostenlose Übernachtung in der städtischen Notschlafstelle haben, werden dorthin verwiesen. In Zusammenarbeit mit den anderen Hilfseinrichtungen und dem Stadtzürcher Sozialdepartement sucht die Sieber-Stiftung zudem nach längerfristigen Übernachtungslösungen. Keine leichte Aufgabe: «Hotels, die eigentlich in Kostenrücksprache mit der Stadt Obdachlose aufnehmen, verweigern seit kurzem die Zimmer.»
Aber es gebe Lichtblicke, sagt Bereichsleiter Haun. Wie das Hotel in Rümlang, das spontan Zimmer zur Verfügung stellt. Die Freiwilligen und Angestellten packen umso mehr an, und es werden genügend Lebensmittel gespendet.
Das ist auch nötig. Denn jetzt, wo die sozialen Angebote eingeschränkt werden mussten, ist die Nachfrage grösser denn je.
Brot für Basel
Lilian Senn zupft ihre grauen Haare von der roten Fleecejacke, an ihren Ohren hängen Tropfen aus Perlmutt. «Nie habe ich verwahrlost ausgesehen», sagt sie. «Das hat mir meine Mutter beigebracht.»
Armut versteckt sich oft, hinter Kleidern, hinter Mauern. Zum Beispiel in der Wohnung einer alleinerziehenden Mutter, die ihre Familie nicht über Wasser halten kann. Oder, wie bei Lilian Senn, bei einer schwer verschuldeten Frau über sechzig, die einen kranken Mann zu Hause hat – und wegen der Pandemie ihren Arbeitsplatz verloren hat.
Lilian Senn stemmt sich in ihre Krücken. Vor zwei Monaten hat sie ein neues Kniegelenk bekommen. Für den Verein Surprise hätte sie Anfang März wieder auf die Gasse gehen sollen, dann kam das Virus. Normalerweise verkauft Lilian Senn «Surprise»-Hefte und macht Rundgänge durch Basel. Sie führt die Menschen dorthin, wo Armutsbetroffene mit und ohne Obdach schlafen, essen, Hilfe suchen. Lilian Senn war selbst vier Jahre obdachlos – bevor sie Liebe und eine Wohnung fand.
Letztes Jahr hat Lilian Senn etwa 13’000 Franken verdient. Wegen der Knieoperation bekommt sie zurzeit Taggelder. Wenn diese im Mai auslaufen, droht das grosse Loch.
Surprise hat den Heftverkauf und die sozialen Stadtrundgänge vollständig eingestellt. Der Sicherheitsabstand, wie ihn der Bundesrat verlangt, kann nicht gewahrt werden. Für die rund 450 Verkäuferinnen des «Surprise» bedeutet das: kein existenzsicherndes Einkommen mehr – auf einen Schlag. Um diejenigen zu federn, die besonders hart fallen, sucht der Verein Surprise nun nach Spendern. Wie viel in Zahlen zusammengekommen ist, sagt Geschäftsführerin Jannice Vierkötter nicht, nur so viel: «Es ist viel besser angelaufen, als ich erwartet hatte. Dafür bin ich sehr dankbar.»
Ihre Krücken stoppen Lilian Senn vor einem zehn Meter langen Drahtzaun auf dem Wettsteinplatz in Basel. Der Zaun ist üppig behängt mit Plastiktüten, einige sind aufgerissen, darin Dosen, Eingemachtes, ein Pullover, eine Jeans. «Hier haben sich Leute Gedanken gemacht, wie sie den Armutsbetroffenen jetzt helfen können», sagt Lilian Senn. «Ich habe Figur und kann mich leider nicht bedienen.» Sie meint damit: Sie ist zu füllig. Sie lacht.
Der sogenannte Gabenzaun ist spontan während der Krise entstanden. Eine Gruppe Menschen hat sich zusammengetan und das Projekt über Social Media bekannt gemacht. An inzwischen vier Orten in Basel können sich Menschen in Not das vom Zaun pflücken, was sie brauchen.
«Das Angebot wird rege genutzt», sagt Lilian Senn. «Die Corona-Krise betrifft zwar alle. Nur hat der Reiche halt sein Polster.» Armutsbetroffene würden im Moment doppelt bestraft. «Ich habe zum Beispiel eine Karte von ‹Tischlein deck dich›, kann sie aber wegen des Virus nicht mehr nutzen.»
Die neue Direktive des Bundesrats brachte «Tischlein deck dich» praktisch zum Erliegen. Der Verein hat alle 132 Abgabestellen geschlossen. Dort konnten sich bis vor kurzem armutsbetroffene Menschen für einen symbolischen Franken mit frischen Lebensmitteln eindecken, die Detailhändler sonst in die Tonne geworfen hätten. 20’000 Personen in der Schweiz nutzten das Angebot jede Woche.
Weil die freiwilligen Helferinnen im Schnitt 67 Jahre alt und somit in der Risikogruppe sind und weil der Sicherheitsabstand nicht gewahrt werden konnte, traf der Verein den «sehr schmerzhaften Entscheid», sagt Geschäftsführer Alex Stähli. Immerhin: Die Abgabestellen in Hinwil und Lyss konnten, mit überarbeitetem Konzept, vergangene Woche wieder geöffnet werden. Weitere sieben Orte sollen bis nach Ostern folgen. Lilian Senn hingegen ist im Moment auf die Solidarität von Privaten angewiesen: «Eine sehr nette Frau hat mir einen Einkaufsgutschein für die Migros geschenkt.»
Sie hält vor einem Lieferwagen, ein Mann hebt Kisten voller Lebensmittel aus dem Heck und verschwindet durch eine Tür. Die Gassenküche, sagt Lilian Senn. Das Zmorge ist bereits vorbei. Am Abend werden sie hier wieder anstehen, auf dem Trottoir, die Füsse auf dem silbernen Klebeband, das jetzt in der Sonne glitzert und die Bedürftigen später fein säuberlich trennen wird.
Acht Frauen, gestrandet in Olten
Ein wunderbarer Aprilnachmittag im Industriegebiet von Olten – dort, wo die Aare eine scharfe Kurve wagt, zwischen Grosswäscherei, Gleisen und Metallverarbeitung. Die Bäume schlagen aus, die Vögel zwitschern, Velofahrer strampeln vorbei und werfen neugierige Blicke auf eine Gruppe junger Frauen, die im Schlabberlook draussen an der Sonne sitzen. Sie rauchen. Warten. Und schauen gelangweilt in den Himmel.
Es ist eine Schicksalsgemeinschaft von acht Frauen, die hier im Kanton Solothurn gestrandet sind. Sie stammen aus Ungarn, Rumänien und Spanien, wohnen und arbeiten in drei unauffälligen Wohnhäusern nebeneinander: eins gelb, eins grau, eins blassrosa.
Das ganze Ensemble, inklusive Kontaktbar am Fluss, gehört zum Oltner Rotlichtviertel; weit weg von der pittoresken Altstadt, den Flaniermeilen, Einkaufszonen, Schulen oder Kirchen. Zwanzig bis dreissig Sexarbeiterinnen bieten normalerweise in dieser eng und streng definierten Zone ihre Dienste an, von 20 Uhr bis in die frühen Morgenstunden hinein.
Doch seit dem 16. März ist das vorbei. Der Bundesrat hat in seiner Covid-19-Verordnung explizit auch Erotikbetriebe und «personenbezogene Dienstleistungen mit Körperkontakt» verboten. Damit haben Sexarbeiterinnen in der Schweiz von einer Stunde auf die andere sämtliche Einnahmen verloren. Die wenigsten von ihnen können auf Erspartes zurückgreifen; ein Grossteil der Einnahmen fliesst in die Heimatländer, zu den Kindern, Eltern, Grosseltern oder Partnern.
Glücklich ist, wer von den Zimmervermietern und Bordellbetreibern nicht auf die Strasse gesetzt wird. Manche Bordellchefs wollen aus Angst vor Bussen und rechtlichen Konsequenzen keine Sexarbeiterinnen mehr unter ihrem Dach. Sie riskieren, dass ihnen die Betriebsbewilligung entzogen wird, wenn die Polizei vermutet, die Frauen könnten trotz Arbeitsverbot Kunden bedienen.
«Wir bekommen regelmässig Anrufe von besorgten Betreibern, die sich bei uns erkundigen, wie sie vorgehen sollen», sagt Judith Aregger, die für die Genfer Fachstelle Aspasie tätig ist und als Sexualbegleiterin arbeitet. Was derzeit natürlich auch verboten ist.
Insofern haben die acht Frauen in Olten Glück. Viel Glück sogar: Ihre Vermieterinnen lassen sie weiterhin in ihren Zimmern wohnen und verlangen während der Zeit des Berufsverbots keine Miete – welche die Frauen gar nicht bezahlen können. Wie Melanie Muñoz am späten Nachmittag mit ihrem Mobility-Budget-Auto vorfährt, rennen sie ihr jubelnd entgegen. Muñoz wurde sehnlichst erwartet, denn sie bringt Rat, Geld, Esswaren und Nachrichten über die neusten behördlichen Entscheide.
Muñoz, Geschäftsleiterin der Solothurner Fachstelle Lysistrada, bittet höflich um Distanz und verteilt Plastikhandschuhe. Jede Frau erhält gegen Unterschrift siebzig Franken in bar – eine Spende aus Zürich, ein hochwillkommenes Geschenk.
Muñoz muss viele Fragen beantworten. «Melanie, wie geht es weiter, wann dürfen wir wieder arbeiten? Jeden Tag kommen Kunden vorbei und verstehen nicht, dass wir sie abweisen müssen. Wie lange dauert das noch an? Dürfen wir eine andere Arbeit annehmen? Wir möchten so gerne arbeiten, irgendetwas, einfach ein bisschen Geld verdienen und etwas tun, die Tage sind so lang. Sie werden uns nicht aus der Schweiz ausweisen, nur weil wir finanzielle Hilfe benötigen, nicht wahr?»
Kranke Kinder in der Massenunterkunft
Herr Z. sollte eigentlich gar nicht mehr in der Schweiz sein. Zumindest nicht, wenn es nach dem Bund geht. Herr Z. stammt aus Nordafrika, lebt seit fast zwanzig Jahren in der Schweiz, seit fünfzehn Jahren illegalisiert als abgewiesener Asylbewerber.
Im Moment hat Herr Z. aber noch ganz andere Sorgen: Als Diabetiker mit weiteren Vorerkrankungen zählt er zur Risikogruppe. Im vergangenen Jahr wurde er fünfmal operiert. Eine Venenkrankheit, das Blut zirkuliert nicht recht. Er kann keine zweihundert Meter ohne Schmerzen gehen.
Herr Z. hat die letzten Jahre in Notunterkünften verbracht; Rückkehrzentren nennen sie die Behörden. In der Regel heruntergekommene Anlagen, wo abgewiesene Asylbewerber mit 8.50 Franken Nothilfe ihr Dasein fristen. Man hofft, dass sie von sich aus abreisen. Doch selbst wenn sie wollten, ist das zurzeit nicht möglich. Die Grenzen in Europa sind zu.
Im Kanton Zürich waren die Verhältnisse in den Notunterkünften schon vor der Corona-Krise prekär. Jetzt hat sich die Situation noch verschärft. Hilfsorganisationen, Ärzte und Juristen haben Alarm geschlagen: Die Notunterkünfte müssten geschlossen werden. Sie seien eine Gefahr – nicht nur für die oft angeschlagenen Bewohnerinnen, sondern auch für die öffentliche Gesundheit.
Die Notunterkunft Urdorf ist als «Bunker» bekannt. In der unterirdischen Anlage lebten bis zu achtzig Menschen. Seit einigen Monaten sind es noch rund vierzig Männer, die dort eng auf eng wohnen, in Massenlagern schlafen, in denen die Betten mit Tüchern notdürftig abgetrennt sind. Die Duschen sind vergammelt, die WC-Anlagen schmutzig, Tageslicht gibt es keins.
Aktuelle Bilder aus der Notunterkunft zeigen, wie prekär die Verhältnisse sind. Die Betten so eng aufeinander, dass die Bewohner gegenseitig den Atem des Nachbars riechen können. Social distancing? Höchstens, wenn man die Mauern einreissen würde.
Ende März waren in den meisten Zimmern sechs statt bis zu zwölf Personen einquartiert. Ein kahler Raum mit zwei Matratzen dient als notdürftiges Isolierzimmer für allfällige Covid-Erkrankte. Die Bilder erinnern an Lazarette während der Spanischen Grippe.
Am letzten Märzwochenende, kurz bevor die ersten Covid-Fälle in anderen Zürcher Asylunterkünften bekannt wurden, wurde Herr Z. von Urdorf nach Glattbrugg verlegt. Die Betreuer hätten ihm gesagt, er gehöre zur Corona-Risikogruppe. Mehr nicht.
Auch die Notunterkunft Glattbrugg ist nicht für die Epidemie ausgerüstet. Laut Herrn Z. befinden sich derzeit etwa zwanzig Personen in der Barackenanlage, die sich drei Duschen teilen.
Noch schlechter sieht es für die Bewohner von Asylheimen in Graubünden aus, die zu einer Risikogruppe gehören. Sie werden gar nicht erst ausquartiert, sondern bleiben in Unterkünften, in denen bis zu 100 Personen eine Küche, sanitäre Anlagen und Aufenthaltsräume teilen müssen.
Frau K. ist eine Bewohnerin einer solchen Bündner Asylunterkunft. Wo genau sie untergebracht ist, dürfen wir nicht schreiben. Zu gross ist die Furcht vor Repressalien. Frau K. berichtet, dass Risikopatienten keine Masken oder Handschuhe bekommen. Desinfektionsmittel stehe im Heim erst seit einem Tag zur Verfügung – drei Wochen nachdem der Bund die «besondere Lage» bekannt gab.
Sechs Bündner Asylhilfe-Vereine versuchen seit Tagen, beim Kanton eine Verbesserung zu erwirken. Bislang erfolglos. Derweil heisst es in einer Stellungnahme des Migrationsamts in der «Südostschweiz», die «relativ» wenigen Personen seien überwiegend jung und in einem «relativ» guten Gesundheitszustand.
Frau K. weiss von Bluthochdruckpatienten, die weiterhin im Heim leben. Und dass in einem der Heime ein Kind mit Diabetes lebt. Dass die Mutter jeden Tag verzweifelt darum bittet, dass man ihr Kind schütze. Zwar kann Diabetes bei Kindern im Zusammenhang mit Covid-19 unproblematisch sein. Für eine Mutter, die keine Möglichkeit hat, ihr krankes Kind zu isolieren, ein schwacher Trost.
Eine andere Bewohnerin eines Bündner Asylheims beschreibt, wie angespannt die Stimmung bei allen sei. Wird jemand unter Quarantäne gestellt, wird er danach geschnitten – sogar die Angehörigen werden ausgeschlossen. Informationen über das Virus sind spärlich, fast nur schriftlich und nur auf Deutsch.
Mangelnde Betreuung, Isolation und Desinformation – Frau K. macht sich Sorgen. «Die Menschen sind unsicher, haben Angst.» Sie habe Verständnis für die Angestellten der Unterkünfte, sagt sie. Auch sie seien unter Druck, nicht gewappnet und unterbesetzt. Doch was es jetzt brauche, sei jemand, der die Bewohner in ihrer Muttersprache informiere. «Und jemand, der uns endlich schützt.»
Unterm Himmel von Zürich
Den Trekkingrucksack an die Wand gelehnt, feste Schuhe, warme, saubere Kleidung, die Haare länger nicht gewaschen, eine Flasche billigen Weisswein in der Hand. Christine und Tom tauschen einen Blick. Ist das einer für uns? Tom geht hin. Es ist einer – seit drei Tagen gestrandet in Zürich; ohne Geld, ohne Ahnung, wie es weitergehen soll, wohin er sich wenden kann.
Jede Stadt hat zwei Infrastrukturen. Eine offensichtliche, in der man sich mit einem festen Einkommen durchschlägt. Und eine verborgene, in der etwas anderes zählt: Orientierung.
Orientierung darüber, welche Geschäfte Aussensteckdosen haben, an denen sich das Telefon aufladen lässt, hinter welchem Busch man ungestört schlafen kann, welche Tiefgaragen in der Nacht offen bleiben, in welchen halböffentlichen Toiletten man sich einigermassen waschen kann, wo man sein Hab und Gut sicher deponiert, welcher McDonald’s fast die ganze Nacht offen hat – und Orientierung darüber, bei welchen Einrichtungen man eine Mahlzeit, einen Schlafplatz oder einfach Raum zum Sein und Austausch findet.
Seit die «ausserordentliche Lage» gilt, hat sich in der zweiten Infrastruktur Zürichs viel geändert. Deshalb ist Christine Diethelm, Leiterin der aufsuchenden Arbeit der Sieber-Stiftung, öfter unterwegs als sonst – auf Patrouille an den einschlägigen Hotspots der Stadt.
Sie und ihr Kollege Tom Moldovanyi bieten Obdachlosen Orientierung. Und sie betreuen die Stammkunden der geschlossenen Anlaufstellen, die zwar ein Dach über dem Kopf, aber ihren Lebensmittelpunkt auf der Strasse haben. «Irgendwo ein Zimmer in einem Keller ist noch kein Zuhause», sagt Diethelm. Wie für Obdachlose gilt auch für diese Menschen: Zu Hause bleiben ist keine Option.
Die Bäckeranlage ist ihre Stube, die Parkbank ihr Sofa, der Denner ihre Beiz und die Langstrasse ihre Migros. Auf der Strasse ist ihr ganzes soziales Netz. Auch weil Menschen am Rand oft einsam sind, gehen sie trotzdem raus, selbst wenn sie drinnen bleiben könnten.
Am Nachmittag treffen Diethelm und Moldovanyi auf mehrere Gruppen beim Bier. Es ergeben sich kürzere oder längere Gespräche, über bessere oder schlechtere Zeiten. Rainer erzählt ausführlich, warum er sich mit «ai» schreibt, obwohl im Pass Reiner steht. «Zuhören», sagt Diethelm, «das reicht oft schon.»
Spätestens nach Einbruch der Dämmerung verziehen sich diese Grüppchen. Wer jetzt noch auf der Strasse ist, ist entweder auf dem Heimweg oder hat keine andere Wahl, als draussen zu sein.
Normalerweise muss Diethelm ihre Klienten in der Menge suchen – mit geschultem Blick und Gespür, denn viele wollen keinen hilfsbedürftigen Eindruck machen. Insofern machen die leeren Gassen die Arbeit einfacher. Gleichzeitig schwieriger: «Menschen ohne Obdach fallen nicht gern auf, und sie verkriechen sich in diesen Tagen noch mehr als sonst.»
Bis zu zwölf Menschen kampieren ganzjährig draussen, schätzt die Stadt Zürich. 20 Prozent ihrer Notschlafgäste seien geübt, auch im Winter draussen zu übernachten, schätzt die Sieber-Stiftung.
Es ist kurz nach neun im Zürcher Niederdörfli, und die Temperatur fällt im Minutentakt. Giorgio sitzt auf dem Boden des Häringsplatzes, die dünne Jacke steht offen. Er sagt, er komme aus Lugano. Pfuusbus? Ja, kenne er, aber er schlafe lieber hier, er müsse sowieso noch arbeiten. Sagts, packt einen Laptop aus und beginnt zu tippen. Homeoffice unterm Himmel von Zürich.
In solchen Momenten ist Christine Diethelm froh, dass die SIP, die Einsatztruppe des Stadtzürcher Sozialdepartements, in diesen Tagen verstärkt patrouilliert. «Sie haben mehr Autorität, Menschen notfalls vor sich selbst zu schützen.» Auch sonst lobt Diethelm die Sozialeinrichtungen der Stadt für ihren Umgang mit der Krise. Sowieso sei die Zusammenarbeit mit der Stadt und den andern privaten Organisationen sehr gut. Jetzt sei sie sogar noch besser.
Zürich ist gerüstet. Das ist nicht selbstverständlich: In Lausanne und Genf ist seit kurzem Médicins sans Frontières unterwegs. Die Ärzte, die sonst in Kriegs- und Krisengebieten im Einsatz sind, unterstützen die Westschweizer Städte bei der Versorgung und Betreuung besonders verletzlicher Menschen wie der Obdachlosen.
An diesem Abend lehnen die meisten, denen Diethelm und Moldovanyi noch begegnen, Hilfe ab. Das ist okay. «Wichtig ist, dass die Menschen wissen, dass wir auch in dieser schwierigen Zeit da sind, dass wir sie nicht vergessen – auch wenn sie gerade keine Hilfe brauchen», sagt Diethelm.
Es ist etwas nach 22 Uhr, achteinhalb Stunden und 20’000 Schritte nach Schichtbeginn. Die letzte Begegnung. Am Paradeplatz steht ein Mann mit langem Bart, den Schlafsack geschultert. Er schüttelt den Kopf, noch bevor die Streetworker ihn ansprechen können. Er passe schon auf, ruft er den beiden zu. Und etwas leiser: «Aber merci.»
Denen, die es nötiger haben
«Es ist nicht nur das Finanzielle», sagt Lilian Senn in Basel. «Die Situation setzt vielen Armutsbetroffenen auch psychisch sehr zu.» Viele vermissen die sozialen Kontakte. Ohne Tagesstruktur sitzen sie den ganzen Tag lang in ihren kleinen Wohnungen. Einige haben ihr erzählt, dass sie nicht mehr leben wollen.
Senn geht weiter, vorbei an Sozialwohnungen, bis ins offene Sexgewerbe, durch die leblose Ochsengasse, vorbei am Caritas-Laden, der noch immer offen ist. Die Caritas konnte ihren Betrieb in der Schweiz grösstenteils aufrechterhalten. Das sei wichtig, sagt Aline Masé: «Die Krise macht die strukturellen Probleme, die schon vorher da waren, richtig sichtbar.» Masé, die bei Caritas die Fachstelle Sozialpolitik leitet, spricht von einem Arbeitsmarkt, der keinen Platz finden will für Menschen mit Einschränkungen. Von prekären Arbeitsverhältnissen, von befristeten Verträgen ohne fixes Pensum. «Es gibt Verträge auf Abruf, die muss der Arbeitgeber nicht mal künden. Diese Menschen haben, wenn das Pensum stark schwankt – was es meistens tut –, keinen Anspruch auf Arbeitslosengelder.»
Wird die Politik die Wunden schliessen, die die Pandemie aufgebrochen hat? «Ich war überrascht, wie schnell der Bundesrat Sofortmassnahmen getroffen hat», sagt Masé. «Doch ich glaube, viele finanzielle Engpässe werden einfach zeitlich verschoben. Für viele wird die Situation Ende Mai nicht einfacher sein. Das gilt insbesondere für die vielen Familien, deren Lohn bereits unter normalen Umständen kaum reicht, um ihre Existenz zu sichern.»
Im Moment versucht die Caritas, Menschen in ganz prekären Situationen immerhin einige hundert Franken zukommen zu lassen. Dafür nutzt sie unter anderem die Million, die sie durch die Sammelaktion der Glückskette vor wenigen Tagen erhalten hat. Laut Medienstelle wird es jedoch nicht möglich sein, ganze Einkommensausfälle zu überbrücken. Ende März hat die Caritas einen Appell an Bundesrat Alain Berset geschrieben. Armutsbetroffene, die an Covid-19 erkrankt sind und medizinische Hilfe brauchen, sollen nicht selber dafür bezahlen müssen. Berset hat darauf noch nicht reagiert.
Surprise hat für Lilian Senn und weitere Verkäuferinnen und Stadtführer einen Antrag auf Kurzarbeit gestellt. «AHV-Bezüger, die Hefte verkaufen, haben leider keinen Anspruch auf Kurzarbeit», sagt Geschäftsführerin Jannice Vierkötter. «Generell ist es unsicher, ob Verkaufende bezugsberechtigt sind, da sie kein fix definiertes Pensum haben. Wir hoffen, dass die Ämter in der Krise offener und kulanter sind. Im Moment jedoch müssen wir finanziell mit beiden Szenarien – einem mit und einem ohne Kurzarbeit – rechnen.»
«Mal schauen, ob der Antrag bewilligt wird», sagt Lilian Senn. «Zum Glück habe ich vor der Krise bereits einen Notvorrat angelegt.» Sie hält vor einer Apotheke. «Wir haben Schutzmasken» steht auf einem Stück Karton im Schaufenster. Zwölf Franken das Stück. Lilian Senn sagt ohne Bitterkeit: «Ja, die machen jetzt ihr Geschäft. Aber wenn du keine hast und eine brauchst, musst du’s halt zahlen.» Sie will für sich und ihren Mann zwei Masken kaufen, zur Sicherheit. «Und wenn wir sie nicht brauchen, gebe ich sie jemandem, der sie nötiger hat.»
Jasskarten und Respekt
Hilfe nötig haben auch die Sexarbeiterinnen. Sie waren schon vor der Pandemie in einem vulnerablen Gewerbe tätig, nun trifft sie der Ausnahmezustand unmittelbar und brutal. Doch das Bundesamt für Gesundheit hat die existenziellen Nöte erkannt und ungewöhnlich schnell reagiert. Gemeinsam mit den Fachstellen FIZ in Zürich und Xenia in Bern sowie dem Sexwork-Netzwerk Prokore hat es ein Projekt für eine landesweit tätige Troubleshooter-Stelle ausgearbeitet. Das Bundesamt sichert die Finanzierung für mindestens drei Monate zu – ein bisher einzigartiges Engagement des Bundes zur Unterstützung der Sexarbeiterinnen.
In der Stadt Zürich verhandeln die Stadtmission und die städtische Fachstelle Flora Dora mit Hotelbesitzern, damit diese gestrandete Sexarbeiterinnen aufnehmen und verpflegen. Die Stadtmission, ein privater Verein, hat jenen Frauen, die zurück in die Heimat reisen wollten, Flugtickets organisiert und finanziert: «So lange es noch Flüge und Einreisemöglichkeiten gab», sagt Geschäftsführerin Beatrice Bänninger.
Ihre Mitarbeiterinnen klappern zudem Etablissements im ganzen Kanton ab, um herauszufinden, wie es den Sexarbeiterinnen geht. Ob sie Medikamente oder Essen brauchen. Ob sie sich ans Arbeitsverbot halten. Und wie sie mit den Freiern umgehen, die trotz verschlossener Bordelltür Sturm läuten. Man befürchte, sagt Grazia Aurora von der Stadtmission, dass gewisse Frauen wegen ihrer prekären Situation trotz Verbot und trotz gesundheitlicher Risiken weiterarbeiteten. Im Versteckten. Das sei eine brandgefährliche Ausgangslage – weil die Illegalität von den Freiern ausgenützt werden könnte.
Die Probleme sind gross, die Aufgabenliste der Troubleshooter ist entsprechend lang. Sie müssen Zugang zu Sexarbeiterinnen in Regionen finden, in denen keine staatlichen oder privaten Stellen tätig sind; medizinische Betreuung sicherstellen, Quarantäneplätze finden, Obdach und Lebensmittel organisieren und finanzieren, Nothilfe oder Sozialhilfe vermitteln – und verhindern, dass die Sexarbeiterinnen ihr Aufenthaltsrecht verlieren, wenn sie Sozialhilfe beziehen. Zudem wollen sie einen Notfonds errichten und den Sexworkern Unterstützungsmassnahmen zugänglich machen, private oder jene des Bundes.
Ein Cabriolet fährt im Schritttempo an den drei Häusern am Oltner Aareknie vorbei, Minuten später eine dunkle Limousine, in der drei junge Männer sitzen. Ältere Herren spazieren betont ziellos das Strässchen entlang und versuchen, die jungen Frauen in ein Gespräch zu verwickeln.
Aber die Haustüren bleiben verschlossen, die Frauen konsequent. Sie wollen keine Busse riskieren. Ausserdem haben sie der Chefin versprochen, dass sie sich ans Arbeitsverbot halten. Und nicht nur das: «Es geht auch um unsere Gesundheit», sagt Claudia, 27 Jahre alt, die aus Ungarn stammt und in Wirklichkeit anders heisst. Sie ist Mutter von zwei Buben, acht Jahre und sieben Monate alt. Die Kinder leben bei ihrer Schwester in Österreich, wohin sie bis vor kurzem regelmässig so viel Geld wie nur möglich geschickt hat. Das geht nicht mehr, und ihre Kinder darf Claudia auch nicht sehen. Die Grenzen sind dicht.
Die Sonne geht unter, es ist kalt geworden, die Frauen frösteln und ziehen sich langsam ins Haus zurück, ins blassrosa, gelbe oder graue. Sandra aus Rumänien – auch sie heisst anders – verteilt Zigaretten an ihre Kolleginnen; ein weiteres willkommenes Geschenk. Sie trägt einen pastellfarbenen Bademantel mit Einhorn-Kapuze, und sie greift schlichtend ein, wenn es zu Zankereien kommt. Einer ihrer Stammkunden hat ihr versprochen, Arbeit bei einem Gemüseproduzenten zu organisieren, für sie und ein paar andere Frauen. Sandra hofft, dass es klappen wird.
«Die Freier merken nun endlich, was sie an uns haben», sagt sie. «Sie vermissen unsere Dienstleistung, sie sitzen daheim, und es ist ihnen langweilig. Jetzt plötzlich bieten sie uns viel Geld an. Das müssen wir uns für die Zeit nach der Pandemie merken. Endlich bekommen wir den Respekt, den wir auch verdienen.»
Sandra begleitet Melanie Muñoz zum Auto zurück. «Melanie, wenn du nächste Woche kommst, bringst du uns Peperoni, Kartoffeln und Jasskarten mit? Bitte?»
La vie pour nous
Während die Risikopatienten in Graubündens Asylheimen noch immer auf eine Verlegung warten, wohnt Herr Z. jetzt statt in einem unterirdischen Sechserzimmer in einem überirdischen Dreierzimmer. «Aber es ist hier noch enger als zuvor», sagt er. «Ich schlafe deshalb auf dem Sofa im Fernsehzimmer.»
Herr Z. ist wütend, weil sich niemand um die Situation in den Unterkünften schere. Weil die Asylsuchenden behandelt würden wie Hunde. «Wenn einer krank wird, sind wir alle krank.»
Die prekären Platzverhältnisse in Asylunterkünften sorgen bei Hilfsorganisationen, Aktivisten und Anwältinnen für Unruhe. Wie gefährlich ist die Lage? Das sei derzeit eine der wichtigsten Fragen, sagt Moreno Casasola von der Freiplatzaktion Basel. «Nirgends in der Schweiz sitzen vermutlich so viele Menschen so eng aufeinander wie in den Asylunterkünften.»
Casasola hat Mitte März einen offenen Brief an Staatssekretär Mario Gattiker geschrieben. Die wichtigste Forderung: die sofortige Sistierung der Asylverfahren in der Schweiz. Zahlreiche NGOs folgten diesem Aufruf, darunter die Schweizerische Flüchtlingshilfe, Amnesty International Schweiz, Solidarités sans Frontières. Direkte Befragungen von Asylsuchenden seien nur unter grossem Ansteckungsrisiko möglich. Zudem seien Rechtswege nicht mehr garantiert, weil Juristinnen und Berater wegen Krankheit schliessen oder reduzieren mussten. «Ein sachgemässes und faires Asylverfahren ist unter solchen Umständen nicht sichergestellt», schreibt etwa Amnesty.
Beim Staatssekretariat für Migration wollte man lange nichts von einem solchen Moratorium wissen. Ende März sistierte Staatssekretär Gattiker die Verfahren für eine Woche. In dieser Zeit sollten Plexiglasscheiben aufgestellt werden, um die Anhörungen fortzusetzen wie bisher. Danach stellte Justizministerin Karin Keller-Sutter klar, es komme nicht infrage, die Asylverfahren auszusetzen. Man müsse die Rechtsstaatlichkeit gewährleisten. Sie schlug vor, die Asylsuchenden könnten bei den Anhörungen auf ihre Rechtsvertretung verzichten. Dann würden weniger Personen in einem Raum sitzen, und das Ansteckungsrisiko wäre geringer.
Immerhin, sagt Herr Z., seien jetzt alle gleich: «Ich kann seit Jahren nicht ausgehen, wann und wohin ich will. C’est la vie pour nous. Jetzt sehen die Leute mal, was das heisst.»
Früher habe er sich Papiere gewünscht. Jetzt wünsche er sich bloss ein Zimmer, wo er geschützt sei. Aber seine Chancen stehen schlecht, das weiss er: Als abgewiesener Asylbewerber steht er ganz unten auf der Prioritätenliste.
Ende März kommt es in der Notunterkunft in Glattbrugg zu einem grossen Polizeieinsatz. Die Bewohner sind in Aufruhr, weil ein an Covid-19 erkrankter Mann in die Unterkunft gebracht worden ist. Auch Herr Z. fürchtet, sich mit dem Virus anzustecken. Erst als die Polizei den Erkrankten in Schutzkleidung abholt, beruhigt sich die Situation. Herr Z. aber, der sich gegen die Unterbringung eines Kranken in der Unterkunft gewehrt hat, wird mit einem Hausverbot belegt. Warum, kann er nicht recht erklären. Vielleicht, sagt er, weil er die Polizisten beim Einsatz fotografiert hat.
Das erste Aprilwochenende jedenfalls verbringt der Diabetiker auf der Strasse. «Ich bin 45 Jahre alt», sagt Herr Z. «Ich weiss nicht, wie viel Zeit mir Gott noch gibt. Jedem sein Schicksal. Und überhaupt: Was kommt nach Corona? Zurück zur Normalität? Das heisst für mich: zurück in den Bunker. Jeden Tag im Büro der Unterkunft vorbeigehen, Unterschrift abgeben, zehn Franken Nothilfe abholen. Und am nächsten Tag wieder von vorn.»
In einer früheren Version haben wir geschrieben, es stünden in Zürich maximal 38 Notschlafplätze zur Verfügung. Diese Zahl beruhte auf einem Missverständnis. Korrekt ist: An der Rosengartenstrasse stehen 20 Plätze zur Verfügung, weitere Personen werden dezentral untergebracht..