Auftanken, abfackeln
Die Tankstelle ist ein Mythos, ein Sehnsuchtsort, eine explosive Begegnungszone. Und Symbol für unser Leben im Anthropozän.
Von Christine Lötscher, 25.04.2020
Tankstellen sind so alltäglich, dass man sie kaum wahrnimmt. Doch ihr unauffälliges, wenig variationsreiches Erscheinungsbild lenkt davon ab, dass der Rhythmus des Lebens im Zeitalter von Spätkapitalismus und Klimakrise an jeder Tankstelle zu einem Zwischenhalt kommt. In diesen Pausen werden abstrakte, aber allgegenwärtige Konzepte fassbar: Mobilität, Technik, Konsum. An der Tankstelle werden sie auf engstem Raum für einen Moment lang ganz konkret: fossile Brennstoffe, Maschinen, in PET und Plastik verpackte Erfrischungen, einander begegnende Körper.
Davon, was das Leben im sogenannten Anthropozän ausmacht, erzählen Tankstellen, wann immer sie in der Literatur, im Film oder in der Kunst auftauchen. In ihnen konkretisiert sich die ökologische, ökonomische und soziale Schwellensituation, die unsere Gegenwart bestimmt.
Dieses Phänomen ist nicht neu. Wer sich auf die Suche macht, findet es bereits, lange bevor das Bewusstsein für den Klimawandel einsetzte und der Begriff «Anthropozän» geprägt wurde. Es findet sich als Name für das gegenwärtige Erdzeitalter, in dem der Mensch zum zentralen geologischen Faktor geworden ist und als Verursacher der Klimakrise das gesamte biologische Leben auf dem Planeten prägt.
In Dürrenmatts «Versprechen» (1958) soll der Serienmörder an der einzigen Tankstelle zwischen Zürich und Chur, einer beispiellosen Errungenschaft des einsetzenden Wirtschaftswunders, in die Falle gehen. Und in der langen Tradition des US-amerikanischen Roadmovie erscheint die Tankstelle als gefährliche Kontaktzone, die jederzeit in die Luft gehen kann – buchstäblich und im übertragenen Sinn. Da verwandeln sich Tankstellen unvermittelt von einem rein funktionalen, anonymen, transitorischen «Nicht-Ort» (um einen Begriff des französischen Anthropologen Marc Augé zu verwenden) in einen symbolisch hoch aufgeladenen Knotenpunkt von Geschichten. Und das umso mehr, als die Tankstelle ihren Zenit längst hinter sich hat.
Ist der Wahnsinn, den wir derzeit auf dem Ölmarkt besichtigen können, wo trotz stürzender Preise umso panischer weitergebohrt wird, schon ein Fanal eines zu Ende gehenden Kapitels der Wirtschaftsgeschichte?
Die Vorstellung jedenfalls, dass es bald nur noch Steckdosen braucht, um Elektroautos aufzuladen, sorgt schon seit geraumer Zeit für eine romantische Verklärung von Benzingeruch, Ölpfützen und dem Tankwart im Blaumann.
Freiheit und Gefahr
Es erstaunt deshalb nicht, dass Tankstellen eine seltsame Faszination entfalten. Die allgemeine Nostalgiewelle hat auch sie erfasst, wie eine kleine Instagram-Recherche zeigt: Da finden sich unter #tankstelle über 42’000, unter #gasstation mehr als 427’000 Fotos – von Retro-Tankstellen, Ruinen mitten in der Wüste und nächtlichen Lichtspektakeln bei nassem Asphalt, gern mit Kommentaren versehen wie «Diese Tankstelle ist Kult».
Die Tankstelle ist längst zum modernen Mythos geworden – und darüber hinaus zu einer Art Museum für die Mythen der Moderne. Obwohl sich ihre Funktion vom bedienten Autoservice mit Tankwart zum 24/7-Einkaufs- und Begegnungsort verschoben hat, ist ihr Erscheinungsbild vergleichsweise konstant geblieben.
Dieser Spannung ist es wohl zu verdanken, dass sich immer wieder neue Träume und Ängste an der Tankstelle festmachen. Im Film sorgen die Zapfsäulen nicht nur für den Rhythmus des Aufbruchs und für neue Abenteuer; in automobilaffinen Horrorfilmen, allen voran Robert Harmons «Hitcher» (1986) mit Rutger Hauer in der Rolle des Highway-Killers, geben sie dem Unheimlichen ein Gesicht: Dass an diesem Ort jederzeit alles passieren kann, ist ihnen immer schon eingeschrieben.
Um diese Widersprüchlichkeit wusste die Kunst schon zu einer Zeit, als fossile Brennstoffe noch längst nicht mit Klimawandel, sondern ungebrochen mit Fortschritt und Freiheit assoziiert wurden.
Das bekannteste Zeugnis davon legt Edward Hoppers Bild von 1940 ab, das, schlicht mit «Gas» betitelt, zurzeit eigentlich in der Fondation Beyeler zu sehen wäre. Hoppers Tankstellenszene erscheint wie eine Zwischenwelt aus Einsamkeit und Melancholie. Mit ihren eleganten roten Tanksäulen ist sie in ein Dämmerungslicht getaucht, während die Strasse im Dunkel des Waldes verschwindet. Der – zumindest für Automobilisten – zugänglichste aller Orte wirkt, als liege er unerreichbar hinter Glas.
Es ist gerade die nackte Funktionalität der Tankstelle, die dazu einlädt, sie mythisch aufzuladen. Nirgends lassen sich Geschichten aus dem Anthropozän besser erzählen. Ganz von der Logik des Kapitalismus geprägt, eingebettet in die automobile Infrastruktur, mit klar definierten und kanalisierten Abläufen des Instant-Konsums für Mensch und Maschine, kann die Logistik auch jederzeit aus dem Ruder laufen. Und genau wie das Benzin in den Zapfsäulen explodiert, wenn es mit Feuer in Kontakt kommt, birgt die Tankstelle auch ästhetische und gesellschaftskritische Explosionsgefahr.
Die Konsumpraktiken, die dem Ensemble von Strasse, Auto, Zapfsäulen, Shop und Konsumenten eingeschrieben sind, können unterlaufen werden – von Jugendlichen, die an der «Tanke» herumhängen. Von Dieben und bewaffneten Räubern, die sich die Anonymität zunutze machen.
In Romanen und Filmen ereignen sich an Tankstellen unerwartete Begegnungen, die an anderen Orten wenig plausibel wären. Figuren verlieben sich aus heiterem Himmel oder versuchen genauso unvermittelt, sich gegenseitig umzubringen, Konflikte brechen aus – als zeigten sich gerade dort, am Knotenpunkt kapitalistischer Praktiken, Träume und Ängste. Und als würde hier die andere Seite einer streng durchgeplanten Ordnung sichtbar, die das Leben in den globalisierten, von Mobilität und einwandfrei funktionierender Technologie geprägten Gesellschaften des Westens bestimmt.
Gleichzeitig lauern Zufall, Chaos, Tod, Liebe und Inspiration: alle Risiken, die eine Gesellschaft unter Dauerstrom in Kauf nimmt; aber auch all das, was eben nur unter Risiko erfahrbar wird.
Ihre Faszination und ihren Schrecken erhält die Tankstelle als Symbol unseres Lebens im Anthropozän gerade dadurch, dass alles untrennbar miteinander verbunden ist. Wer als aufmerksame Beobachterin an der Tankstelle steht, weiss, dass Fortschritt, Mobilität und Freiheit nur um den Preis von Einsamkeit, Gewalt und Zerstörung von Ressourcen zu haben sind.
Das Auto braucht Treibstoff, die Geschichte Futter
Es sind die Roadmovies in all ihren Spielarten, die Tankstellen zu ikonischen Orten gemacht haben – oft übrigens mit deutlicher Bezugnahme auf Hoppers «Gas». Und dennoch ist es die Tankstelle in der Literatur, die den interessantesten Beitrag zu einer Ästhetik des Anthropozäns leistet. Literarische Texte inszenieren die Tankstelle nicht nur als Inbegriff einer explosiven Kontaktzone; ihre Autorinnen und Autoren denken auch über Möglichkeiten nach, die Welt ausgerechnet von diesem Ort aus zu verstehen.
Denn so wie sie die unterschiedlichsten Materialien und wildfremde Menschen zusammenzubringen vermag, fungiert die Tankstelle auch in der schriftstellerischen Gestaltung als Kontaktzone. Ihre Funktion für den Fortgang der Erzählung ist ganz und gar mit der symbolischen Ebene verwoben.
Pragmatisch orientierte Leserinnen und Leser könnten entgegnen, die Tankstelle habe doch eine rein dramaturgische Funktion: Denn wenn Figuren unterwegs sind, müssen sie irgendwann einmal anhalten, damit die Reise – aber eben auch die Erzählung – weitergehen kann. Das Auto braucht Treibstoff, die Geschichte Futter: Figuren müssen sich begegnen, damit Konflikte ausbrechen können.
Das ist alles richtig. Doch erst das Zusammenspiel aus formaler Klarheit, gespiegelt in der strengen Funktionalität der Tankstelle, und der unendlichen Kombinatorik von Figuren und Geschichten, die in dieser Kontaktzone möglich ist, macht die Tankstelle zu einem symbolischen Ort der Literatur. Einem Ort, an dem sich das Lebensgefühl des Anthropozäns einfangen lässt.
Houellebecq: Grossmeister der literarischen Tankstelle
Einer, der an der Tankstelle einen bahnbrechenden Einfall hat, ist Jed Martin, der Protagonist von Michel Houellebecqs Roman «Karte und Gebiet» (2011). Mit einer genial einfachen, aber medientheoretisch abgründigen Idee wird er zum Superstar der Kunstszene. Er faltet Michelin-Karten auf und stellt sie Satellitenbildern von derselben Region gegenüber. So entsteht ein Spannungsverhältnis: zwei Perspektiven auf eine Landschaft. Dabei reichen beide weit über die Möglichkeiten einer unmittelbar sinnlichen Raumerfahrung hinaus. Die Folge: Die unterschiedlichen Methoden, die Landschaft technisch zu vermessen, schaffen auch zwei visuelle Wirklichkeiten. Sodass sich jeder Versuch, die eine Realität zu erfassen, als unmöglich erweist.
Houellebecq erfindet mit Jed Martin einen Künstler des Anthropozäns. Denn der Mensch, so formuliert es die Wiener Literaturwissenschaftlerin Eva Horn, erlebt sich im Anthropozän nicht mehr als Gegenüber der Dinge und Ereignisse; er steckt mittendrin, zutiefst verstrickt in die Faktoren, welche die Zerstörung der Landschaften und die Klimakrise herbeigeführt haben.
Um das Gefühl dieses unübersichtlichen In-der-Welt-Seins literarisch einzufangen, reicht es nicht, den Klimawandel zu thematisieren, wie es etwa das neue Genre der Climate Fiction tut. Es vermittelt zwar Wissen und ruft zur Umkehr in Sachen Konsum und Mobilität auf, doch tut es dies in der Regel mit den bewährten Mitteln des traditionellen Erzählens.
Um die Verstrickung und die damit einhergehende Verstörung wirklich erfahrbar zu machen, brauchen die Künste des Anthropozäns neue Formen. Solche findet Horn bei der Künstlerin Tara Donovan, die aus industriellen Materialien und Alltagsgegenständen wie Plastikbechern, Papier oder Folien grosse Installationen baut. Oder bei Olafur Eliasson, dessen Werk zu Beginn dieses Jahres im Zürcher Kunsthaus zu sehen war. Eliassons Installations- und Videokunst scheint die privilegierte Form zu sein, um das latente Gefühl des Lebens im Anthropozän aus einer posthumanistischen, den menschlichen Blick überwindenden Perspektive zu gestalten – ganz im Gegensatz zur erzählenden Literatur, die nicht ohne menschliche Figuren auskommt.
Doch genau darin liegt die Stärke der Literatur. Denn eine Welt jenseits des Menschen zu denken, ist nicht halb so aufregend, wie ein Szenario zu erfinden, in dem Menschen sich als Teil eines unübersichtlichen Ganzen neu erfahren können.
Houellebecq als kulturanalytisch gewiefter Autor scheint dieses Potenzial genau verstanden zu haben und arbeitet mit einem Kniff, indem er schreibend ein Kunstprojekt erfindet. Er beschert Jed einen Augenblick der Inspiration, versorgt ihn mit einem veritablen Musenkuss, als er ihm an einer Tankstelle eine Michelin-Karte in die Hände fallen lässt:
Und als er dort, ein paar Schritte von den in Zellophan gehüllten Sandwiches entfernt, seine Karte auseinanderfaltete, wurde ihm seine zweite grosse ästhetische Offenbarung zuteil. Diese Karte war geradezu erhaben; bis ins Innerste aufgewühlt begann er vor dem Verkaufsständer zu zittern.
Für Jed, wie vom Blitz getroffen, wird das latente Gefühl des Lebens im Anthropozän mit einem Schlag manifest:
Noch nie hatte er so etwas Herrliches gesehen, das so reich an Emotionen und Sinn war wie diese Michelin-Karte der Departements Creuse und Haute-Vienne im Massstab 1:150’000. Die Quintessenz der Moderne, der wissenschaftlichen und technischen Erfassung der Welt, war hier mit der Quintessenz animalischen Lebens verschmolzen.
Und er spürt, in der abstrakten Komplexität und Schönheit der Karte, «das Herzklopfen, den Ruf Dutzender Menschenleben, Dutzender, Hunderter Seelen – von denen die einen zur Verdammnis und die anderen zum ewigen Leben berufen waren».
Die Worte, die Houellebecq für diese ästhetische Erfahrung wählt, nähren sich ironischerweise ganz aus der literarischen Tradition, die das von seiner Umwelt getrennte Subjekt vor dem Erhabenen erzittern und schliesslich zur Erkenntnis der Welt und seiner selbst gelangen lässt.
Erst im Zusammenhang des gesamten Romans, erst nachdem Jed im Verlauf der Handlung einen Schriftsteller namens Michel Houellebecq kennenlernt, der kurz darauf auf bestialische Weise ermordet wird, zeigt sich so etwas wie eine Ästhetik des Anthropozäns. Und diese besteht nun gerade darin, dass ungebrochen konventionell erzählt wird: Denn es gibt keinen Bezugsrahmen ausserhalb der Literatur, ausserhalb des Spiels mit literarischen Genre-Modellen. Houellebecq weiss, dass Literatur immer von der Wirklichkeit abweicht. Die Welt, die sie schafft, entsteht aus Worten, nach literarischen Verfahren also – nicht als Abbild. Gerade deshalb gelingt ihr eine atmosphärische Verdichtung: als zutiefst menschliche, aber zugleich auch posthumane Verlorenheit und Melancholie. Die Michelin-Karten wirken wie die Vermessung einer kollektiven Seelenlandschaft.
Entscheidend ist aber, dass Jeds Epiphanie sich ausgerechnet an einer Tankstelle ereignet. Die Tankstelle wird zum Katalysator, zum Ort der Verdichtung. Sie ist der Punkt, an dem Texte Elemente der sozialen Wirklichkeit mit symbolischen, imaginativen Räumen vernähen. Und sie weckt ein Gefühl dafür, wie sehr die Realität des mobilen Konsumenten im 20. und 21. Jahrhundert aus modernen Mythen des Aufbruchs gemacht ist.
Die Tankstelle ist der Ort, an dem sich Dinge, die nichts miteinander zu tun haben, auf produktiv-explosive Weise verbinden.
Deshalb nutzt Houellebecq sie gern, um eine Wende im Leben seiner Figuren zu inszenieren. «Serotonin» (2019) beginnt sogar mit einer Tankstellenszene, nur startet dort kein künstlerischer Höhenflug. Vielmehr ereignet sich der traurige letzte Höhepunkt im erotischen Leben des Icherzählers, als er zwei hübschen jungen Spanierinnen dabei hilft, den Reifendruck ihres VW Käfers zu kontrollieren. Allerdings ist es an jenem Sommertag im Juli unmenschlich heiss. Es könnte also sein, dass Benzinschwaden über glühendem Asphalt eine Fata Morgana produziert haben.
Gegenorte: Die «Tanke» bei Stanišić und Kushner
Houellebecq mag eine besondere Affinität zur Tankstelle haben, doch ist er bei weitem nicht der Einzige, der sie einsetzt, um eine andere Seite der Wirklichkeit aufleuchten zu lassen – und andere, imaginäre, erotische Räume.
Saša Stanišićs Roman «Herkunft» (2019) feiert die Aral-Tankstelle in Heidelberg als fast utopischen Gegenort. Hier wird alles möglich, was innerhalb der sozialen Ordnung nicht sein darf:
Die soziale Einrichtung, die sich für unsere Integration am stärksten einsetzte, war eine abgerockte ARAL-Tankstelle. Sie war Jugendzentrum, Getränkelieferant, Tanzfläche, Toilette. Kulturen vereint in Neonlicht und Benzingeruch. Auf dem Parkplatz lernten wir voneinander falsches Deutsch und wie man Autoradios wieder einbaut. Die einzige Regel: In der Nähe von Zapfsäulen – Rauchen verboten. […] Die ARAL-Tankstelle war Heidelbergs innere Schweiz: neutraler Grund, auf dem die Herkunft selten einen Konflikt wert war. Multikultureller Faustdialog fand jedenfalls kaum statt. Gelegentlich überfallen wurde sie aber schon. Und auch dabei sprach man sich wohl ab, damit nicht etwa ein Deutscher und ein Russlanddeutscher am gleichen Abend mit der Gaspistole anmarschiert kamen.
Stanišić entdeckt die Tankstelle als anarchischen literarischen Raum, in dem sich alles mit allem verbinden lässt. Und aus diesen Möglichkeiten, welche die Tankstelle der Sprache bietet, geht die Vision eines Zusammenlebens hervor: als Zusammen-Spiel und Zusammen-Erzählen wild zusammengewürfelter Menschen und Dinge.
Oft sind es nur kurze Szenen, die an Tankstellen spielen, doch sie zeichnen sich durch eine enorme Verdichtung aus.
In Rachel Kushners Roman «Flammenwerfer» (2015) fährt die Icherzählerin auf ihrem Motorrad von Reno nach Salt Lake City, um dort an einem Rennen teilzunehmen. Sie geniesst es, über den Asphalt zu rasen, im Wissen darum, dass es unvernünftig ist: «Die Gedanken schweifen zu lassen war Selbstmord. Ich hatte mir versprochen, das nicht zu tun.»
Als Reno – die Heldin heisst genau wie ihr Geburtsort – in der Abenddämmerung tanken muss, erlebt sie eine noch viel mörderischere Situation. Ein Paar schwenkt streitend in die Tankstelle ein, und während des Tankens eskaliert der Konflikt. Der Mann richtet den Zapfhahn auf die Frau und übergiesst sie mit Benzin, zieht eine Streichholzpackung aus der Hosentasche, zündet eins nach dem anderen an. Und plötzlich löst sich die Spannung, als hätten wir es nicht mit einem versuchten Mord, sondern mit einer Sexszene zu tun. Die Beobachterin hält fest: «Sie lächelte ihn an, als wollten sie gleich zusammen eine Bank ausrauben.»
Auch hier ist es eine eigentümliche Spannung, welche die Szene unvergesslich macht. Im exzessiven Spiel des Paars mit Benzin und Feuer, ebenso wie in Renos Temporausch auf dem Highway, nimmt die Raserei des Menschen im Anthropozän eindringlich Gestalt an. In der Angstlust dieses Nach-mir-die-Sintflut-Gefühls klingt die zynische, um nicht zu sagen apokalyptische Haltung an, die nicht nur für einen Sieg beim Autorennen, sondern auch für (selbst)mörderischen Spass und individuelle Freiheit Verkehrstote und schmelzende Polkappen in Kauf nimmt.
Doch wie immer bei literarischen Tankstellen hat die Sache auch eine andere Seite. In «Flammenwerfer» begegnen wir nicht nur Reno, die ihren eigenen Hang zum Exzess in dem Paar wiedererkennt. Sondern auch der melancholischen Sehnsucht und der zarten Schönheit, die untrennbar mit dem rücksichtslosen Begehren der Menschen und der kalten Gleichgültigkeit der Ökonomie verbunden ist. Kushner erzählt von Körpern, Benzin und Feuer, von künstlichem Licht und dem eindunkelnden Himmel, von den Geräuschen des Zapfhahns, mit dem hantiert wird. Und den Insekten der Dämmerung, die der Szenerie den Klangteppich legen.
Letzter Halt
Warum also die Tankstelle als literarischer Ort unvergleichlich ist? Weil zwischen Tanksäulen, Café, Shop und Toilette buchstäblich alles passieren kann.
Hier begegnen sich nicht nur Menschen in grösstmöglicher Anonymität. Auch die ganze Welt der Dinge, die das Anthropozän ausmachen – Maschinen, Rohstoffe, industrielle Materialien, Konsumgüter –, sind auf engstem Raum versammelt. An einer Schnittstelle von Technik- und Infrastrukturgeschichte, Konsum und Mobilität, Klimawandel. All das spielt gerade nicht nach kausalen Gesetzen zusammen. Vielmehr ermöglichen Tankstellen, dass mit der Inszenierung des Zufalls auch das Unplanbare und Unübersichtliche die Bühne betritt.
Tankstellen sind Anthropozän-Assemblagen. An Houellebecqs «Karte und Gebiet» lässt sich das vielleicht am programmatischsten überprüfen. Dass Jed Konzeptkünstler ist, erlaubt es dem Roman, seinen Helden voller Pathos interpretieren zu lassen, was über die Landkarten hinweg und durch das Tankstellenglas hindurch sichtbar wird. Und so zeigt uns Houellebecq auch etwas Prinzipielles über Literatur: nämlich, dass eine ihrer aufregendsten Funktionen darin besteht, Latentes sichtbar zu machen.
Denn anders, als gern angenommen wird, spiegeln Romane und Erzählungen nicht einfach die soziale Realität und spitzen die Verhältnisse zu – sie gestalten sie mit. Die literarische Moderne erfand zum Beispiel die Kinderperspektive. So konnte sie die Welt plötzlich aus der Sicht der abhängigsten, aber auch offensten und empfänglichsten Menschen erfahrbar machen. Diese Idee von Kindheit beeinflusste wiederum die Art, wie wir Kinder sehen; welche Rechte, Fähigkeiten und Bedürfnisse wir ihnen zuschreiben und zugestehen. Auch wenn der bildliche Sprung gewagt ist: Etwas Vergleichbares lässt sich über die Tankstelle sagen. Als Kontaktzone von Menschen und Dingen aller Art rückt sie das ansonsten nur latent wahrnehmbare, höchst ambivalente Gefühl von Verstrickung und Verstörung, von Freiheit und Aufbruch im Anthropozän ins Licht.
Es kann das warme Leuchten der Firmenlogos sein. Aber auch das atemberaubende Spektakel einer Explosion.
Friedrich Dürrenmatt: «Das Versprechen». Roman, Diogenes, 160 Seiten, ca. 14 Franken.
Michel Houellebecq: «Karte und Gebiet». Roman. Aus dem Französischen von Uli Wittmann. Dumont 2011, 416 Seiten, ca. 19 Franken.
Michel Houellebecq: «Serotonin». Roman. Aus dem Französischen von Stephan Kleiner. Dumont 2019, 330 Seiten, ca. 35 Franken.
Saša Stanišić: «Herkunft». Roman. Luchterhand 2019, 368 Seiten, ca. 32 Franken.
Rachel Kushner: «Flammenwerfer». Roman. Aus dem amerikanischen Englisch von Bettina Abarbanell. Rowohlt 2015, 560 Seiten, ca. 34 Franken.
Christine Lötscher hat Germanistik und Geschichte in Zürich und München studiert und sich als Literaturkritikerin in Printmedien und im Fernsehen einen Namen gemacht. Heute ist sie Privatdozentin am Institut für Sozialanthropologie und Empirische Kulturwissenschaft der Universität Zürich, wo sie über Populäre Kulturen lehrt und forscht. Aktuell beschäftigt sie sich unter anderem mit dem Verhältnis von Mensch und Natur in der Literatur. Im Herbst erscheint ihr Buch «Die Alice-Maschine. Figurationen der Unruhe in der Populärkultur» im Metzler-Verlag. Für die Republik schrieb sie bereits über Peter Handke und war zu Gast im «Buchclub».