Die Politik der Pilze
Morgen wird Peter Handke der Nobelpreis für Literatur überreicht, der Entscheid polarisiert heftig. Lässt sich die Person mit ihren politischen Ansichten vom Werk trennen?
Von Christine Lötscher, 09.12.2019
Seit vor zwei Monaten bekannt wurde, dass der diesjährige Literaturnobelpreis an Peter Handke geht, beherrscht die Debatte um die Parteinahme des Autors für die serbische Führung im Jugoslawienkrieg und seine Verharmlosung von Kriegsverbrechen die Feuilletons. Der Tenor ist grob der folgende: Als Dichter gehört Handke zu den Grossen; für die Person Handke und ihre politischen Äusserungen hingegen gibt es kaum Verständnis bei den Kommentatorinnen. Die Geister scheiden sich in der Beurteilung, ob Handke als Person von seinem Werk zu trennen sei.
Man darf allerdings bezweifeln, ob diese Frage richtig gestellt ist. Denn nicht nur begründete Gun-Britt Sundström, die soeben ihren Rücktritt aus dem Nobelpreiskomitee erklärt hat, ihren Schritt unter anderem damit, es sei nicht ihre Auffassung, dass die Literatur sich über die Politik stellen könne. Auch aus Handkes eigener Poetik lässt sich kaum eine kategorische Trennung von Literatur und Politik ableiten.
Bereits im Kontext von 1968, in der Diskussion um die Aufgabe eines politischen Theaters, vertrat Handke die Ansicht, dass Kunst in ihrem Spiel mit Widersprüchen gerade auch dann politisch sei, wenn sie nicht explizit Stellung bezieht. Vielmehr traute er dem Theater, der Literatur zu, die Sensibilitäten einer Gesellschaft durch die ästhetische Erfahrung zu verändern. Sein gesamtes Werk ist seither von einem poetischen Blick auf die Welt geprägt, dessen politische Dimension darin besteht, dass er Schichten der Wirklichkeit sichtbar machen soll, die im gesellschaftlichen Alltag keinen Platz haben.
Im Zentrum des Streits stehen heute (und standen bereits seit den 1990er-Jahren) vor allem die Jugoslawien-Texte des Autors sowie seine öffentlichen Auftritte und Aussagen in diesem Zusammenhang. Kritikerinnen stören sich an der Nähe von poetischer Sensibilität beim Erleben von Landschaften und der Parteinahme für Serbien und folgern daraus, das Werk sei durch die Haltung des Autors kontaminiert. Seine Verteidiger wiederum betonen, es sei ja nur ein kleiner Teil des Gesamtwerkes betroffen und dieser werde überdies falsch interpretiert.
Doch wie steht es mit scheinbar unverfänglichen Texten, die sich ganz auf die Naturerfahrung konzentrieren? Was ist mit Handkes literarischen Streifzügen durch die Natur, die Wildnis, die menschenferne Einsamkeit, für die er morgen in Stockholm offenbar auch ausgezeichnet wird? «Die besondere Kunst von Peter Handke ist die aussergewöhnliche Aufmerksamkeit für Landschaften und die materielle Präsenz der Welt», heisst es in der Begründung der Nobelpreis-Jury.
Machen wir doch die Probe aufs Exempel und schauen uns ein Sujet an, das politikferner nicht sein könnte: das Pilzesammeln. Einer von Handkes seltsamsten, witzigsten, verspieltesten und damit zunächst ideologisch unverdächtigsten Texten der letzten Jahre widmet sich einem Mann, der sich obsessiv der Welt der Pilze hingibt: «Versuch über den Pilznarren» (2013). Es ist der fünfte und letzte Essay in einer Reihe, die Handke 1989 mit dem «Versuch über die Müdigkeit» begonnen hatte. Haben wir es hier mit einem Handke zu tun, der allem Politischen den Rücken kehrt und losgelöst davon zu betrachten ist?
Zur Einordnung lässt sich zunächst einmal sagen, dass Handkes Texte, wenn es um die Wahrnehmung von Natur und Landschaft geht, nicht ganz so einzigartig sind, wie sie behaupten, wenn sich die Erzählerstimme elitär vom Gros der unsensiblen Konsummenschen distanziert, die mit Kopfhörern durch die Wälder rennen. In den Feuilletons kaum wahrgenommen, in der ökokritischen Literaturwissenschaft aber geradezu gefeiert, leistet Handke hier einen Beitrag zum Genre des Nature Writing, das unter anderem auf Henry David Thoreaus «Walden» von 1854 zurückgeht, die Aufzeichnungen des amerikanischen Autors über sein Leben allein im Wald. Heute erfreut sich Nature Writing grosser Beliebtheit: Robert Macfarlanes «Im Unterland» steht seit Wochen auf der «Spiegel»-Bestsellerliste und zeichnet sich nicht nur durch poetische Einsichten aus, sondern ebenso durch ein differenziertes Nachdenken über die menschliche Erkenntnis.
Macfarlanes Frage lautet: Was sind die Möglichkeiten und Grenzen unserer Erfahrung? Wie nahe kommt das Subjekt mit seiner Wahrnehmung den Phänomenen der Natur? Genau das zeichnet für den Literaturwissenschaftler Ludwig Fischer gelungenes Nature Writing aus, wie er in seiner Studie «Natur im Sinn. Naturwahrnehmung und Literatur» ausführt. Es müsse ästhetisch ambitioniert sein, auf unmittelbare Erfahrung zurückgehen und die Naturerfahrung reflektierend durcharbeiten.
Dazu muss man wissen, dass Nature Writing bei all dem Zuspruch auch viel Kritik hervorruft. Skeptikerinnen sehen die Gefahr, dass in neoromantischer Verherrlichung vormoderner Lebensweisen eine Wildnis verklärt werde, die es gar nie gab – weil sie in Wirklichkeit ein Produkt menschlichen Fantasierens ist und erst Ende des 18. Jahrhunderts überhaupt erfunden wurde. So bewegt sich Nature Writing immer in einem Spannungsfeld zwischen avancierten Konzepten (etwa dem «Sympoiesis»-Prinzip der feministischen Philosophin Donna Haraway) und der reaktionären Vorstellung einer Natur, die ohne Menschen besser dran wäre.
Wo in diesem Spannungsfeld steht nun Handke mit seinen Landschaftstexten?
Auffallend ist, dass sich seine Erzählhaltung im Lauf der Jahre verändert hat. Der Roman «Die Wiederholung» (1986) eröffnete einen Raum zwischen Naturerfahrungen und Erinnerungsarbeit. Die Suche nach verlorenen slowenischen Wörtern für die Natur in Kärnten lässt sich als ein Durcharbeiten von Geschichte deuten, ganz ähnlich, wie es Macfarlane für die Landschaften der britischen Inseln macht, wenn er die vergessenen Wörter für das menschliche Wirken aufspürt: ein konservatives, aber auch hoch reflektiertes Unternehmen.
Anders verhält es sich mit Handkes Texten seit dem Monumentalroman «Mein Jahr in der Niemandsbucht» (1994). Darin beschliesst der Erzähler, das Reisen, Wandern und Pilgern aufzugeben. Stattdessen will er von seiner Schreibstube aus einer Reihe von Figuren auf ihren Streifzügen durch die Welt folgen. Diese Erzählkonstruktion führt dazu, dass der Ich-Erzähler nicht selbst erlebt, sondern erleben lässt – und den Figuren scheinbar nur virtuos hinterherdichtet. Das ist an sich ein klug reflektierendes Verfahren, denn Unmittelbarkeit ist schreibend niemals zu haben; die Gegenwart der Erfahrung ist immer schon Vergangenheit, wenn sie in Sprache eingefangen wird.
Doch Handkes Ich-Erzähler beschränkt sich keineswegs auf die Erfahrung der Figuren. Vielmehr kittet er den Bruch zwischen Erleben und Schreiben, indem er mit dem Blick des Visionärs alle Zusammenhänge erkennt und sie mit kulturkritischem Impetus als Widerstand gegen eine verkommene und verblödete Menschheit deutet.
Auch im «Versuch über den Pilznarren» berichtet der Ich-Erzähler vom Schreibtisch aus und folgt einem Jugendfreund in die Wälder. Dieser ist in engster Nachbarschaft mit dem Erzähler aufgewachsen und hatte schon als Kind eine Neigung zum Pilzesammeln. Der Ich-Erzähler weiss alles über seinen Freund, der zwischendurch vor lauter Pilznarrentum in den Wäldern verschollen geht. Wie von einem Märchenerzähler werden die Leserinnen immer wieder direkt angesprochen. Nicht das, was der Narr mit seinen Pilzen wirklich erlebt, ist entscheidend. Sondern vielmehr die Deutung, die der Erzähler dem äusseren Geschehen und den Ekstasen des Pilzsuchers gibt.
Denn Handkes Erzähler ist es darum zu tun, die Welt in ein Reich der Poesie zu verwandeln, zu dem er allein Zugang hat – und dessen Bedeutung nur er der Leserin verkünden kann.
Tatsächlich gibt es eindrückliche Passagen, in denen Handke eine Sprache für die Sinneseindrücke findet, die seinen Pilznarren im stadtnahen Wald überkommen, als er ganz Ohr wird:
Und von den Autobahnen und Peripherieschnellstrassen jenseits der Wälder ein noch nie in solchem Gleichmass gehörtes Brausen, Dröhnen und Röhren, im Gleichmass damit auch das Hupengellen, sogar die Ambulanz- und Polizeisirenen, und all das mehr oder weniger nahe und ferne Getöse zudem im Gleichmass mit dem ebenso zum ersten Mal so gehörten Sausen des Sommerwaldlaubs zu seinen Häupten, dem Aneinanderklopfen und -schaben, dem Knarren, Quietschen, gar Pfeifen und Flöten, da und da, eines oder mehrerer in den Windböen übers Kreuz oder einander in die Quere kommender Äste.
Was der Pilznarr hier erlebt, könnte man einen Zustand absoluter Gegenwart nennen. Etwas, das in der alltäglichen Wirklichkeit erst benannt werden kann, wenn es schon wieder vorbei ist. Selbst im Präsens hinkt die Sprache zwangsläufig immer hinter dem vom Pilznarren und seinem Erzähler so begehrten «Jetzt!» her. Das lässt Handke aber nicht etwa stehen, als Ausdruck einer unerfüllbaren Sehnsucht nach Gegenwart. Vielmehr interpretiert er es als poetische Epiphanie – weniger für den Pilznarren und seine Natur, sondern für den Erzähler und seine Poesie. Anders gesagt: Es geht um eine Parallelisierung von radikaler Naturerfahrung und poetischer Offenbarung.
Dagegen wäre an sich nichts einzuwenden, wenn sich darin nicht ein absoluter Wahrheitsanspruch manifestierte – und wenn Handke nicht selbst die Brücke ins Politische schlagen würde.
Denn der Pilznarr ist auch ein erfolgreicher Anwalt. Er verteidigt Klienten, die als mutmassliche Kriegsverbrecher vor Gericht stehen. In der Auflösung der Grenzen zwischen Pilznarr und Pilz offenbaren sich ihm nicht nur Gefühle von Verbundenheit, sondern der Naturzustand lässt ihn die Wahrheit hören, gibt ihm seine Plädoyers ein. Wenn sich der Pilznarr neben seinen Fund legt, wird er «ganz Ohr (…) Er kam ins Hören, so wie man ins Gehen kommt, ins Sinnen, ins Denken, oder auch ins Stocken.» Also macht er sich immer öfter in die Wälder auf, um dort seine Plädoyers auszuarbeiten – und siehe da, «seine Angeklagten wurden, fast ohne Ausnahme, freigesprochen». Seit der Pilzepiphanie und durch die «sich steigernden Sensationen des Pilznarrentums» flogen ihn «das Zusammendenken, Schlüsseziehen, zuletzt Schlüssigwerden» geradezu an.
Die Verschmelzung des Menschen mit den Pilzgeflechten wird hier auf verstörende Weise instrumentalisiert: Der weltabgewandt-elitäre Pilznarr, der die dumpf konsumierenden Massen verachtet, wird wegen seines exklusiven Zugangs zur Wahrheit über alles Gesellschaftliche, Institutionelle gestellt – und über alles politische Aushandeln. Auf die Pilze sei, wie uns der Erzähler belehrt, Verlass. Sie seien die «inzwischen einzigen Gewächse auf Erden (…), welche sich nicht und nicht züchten, nicht und nicht zivilisieren, geschweige denn domestizieren liessen; welche einzig wild wuchsen, unbeeinflussbar von gleichwelchem menschlichen Eingriff». Die Pilze werden in poetisch hochdifferenzierten Bildern zwar in ihrer Eigenart wahrgenommen; vor allem aber stehen sie für die letzte Wildnis, in der das visionäre Genie mit seiner ultimativen Aufgabe betraut wird.
Vor dem Hintergrund der Debatte um Handkes Parteinahme für die serbische Führung im Jugoslawienkrieg und seine Nähe zum als Kriegsverbrecher verurteilten Slobodan Milošević fällt es schwer, hier keinen Zusammenhang zu sehen: Die Durchlässigkeit gegenüber der Natur und dem archaischen Flechtwerk der Pilze verbindet den Pilznarren-Anwalt mit einer Wahrheit, gegen die eine von Menschen gemachte Gerichtsbarkeit nicht ankommt. Wo der frühe Handke das Spiel mit Widersprüchen in seinen Texten stehen lassen und die Leserin in eine produktive Unruhe versetzen konnte, bringt er seine poetische Sensibilität seit den 1990er-Jahren in Stellung gegen eine Öffentlichkeit, die er gerne pauschal dämonisiert.
Handkes Erzähler beruft sich auf seine visionäre, sensorische, seine letztlich poetische Kraft, die ihn als auserwählten Seher weit über dem anstrengenden Geschäft des ständigen Aushandelns, des Aushaltens von Widersprüchen schweben lässt, von dem demokratische Gesellschaften leben.
Ironischerweise sind Pilze, wie man im eindrücklichen Buch «Der Pilz am Ende der Welt: Über das Leben in den Ruinen des Kapitalismus» der Anthropologin Anna Lowenhaupt Tsing nachlesen kann, Experten solcher Aushandlungsprozesse.
Christine Lötscher hat Germanistik und Geschichte in Zürich und München studiert und sich als Literaturkritikerin in Printmedien und im Fernsehen einen Namen gemacht. Heute ist sie Privatdozentin am Institut für Sozialanthropologie und Empirische Kulturwissenschaft der Universität Zürich, wo sie über Populäre Kulturen lehrt und forscht. Aktuell beschäftigt sie sich unter anderem mit dem Verhältnis von Mensch und Natur in der Literatur. 2020 erscheint ihr Buch «Die Alice-Maschine. Figurationen der Unruhe in der Populärkultur» im Metzler-Verlag.