Reise in die arabische Welt – Folge 2

Die Regierung geht mit aller Härte gegen die Proteste vor: In Najaf trauern Angehörige um einen getöteten Demonstranten.

Märtyrer der Nation

Gräber, so weit das Auge reicht: Wadi al-Salam ist der grösste Friedhof der Welt. Statt Kriegs­gefallene werden dort jetzt die Toten der Demonstrationen begraben. Die Kleriker im «Vatikan der Schiiten», der nach langer Unterdrückung aufgeblüht ist, stellen sich hinter die Proteste. Trotz der Repression, der geopolitischen Verstrickungen – viele Iraker glauben, dass sie mehr zu gewinnen haben als zu verlieren.

Von Amir Ali, Monika Bolliger (Text) und Hawre Khalid (Bilder), 30.11.2019

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Vorgelesen von Anna-Tina Hess
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Der grosse, pummelige junge Mann wirft sich auf den Erdwall am Rand des senkrecht ausgehobenen Grabes. Er gräbt die Hände in die trockene Erde und schluchzt, sein ganzer Körper zittert. Ein anderer junger Mann, von zierlicher Statur und mit rötlich braunem Haar, das unter einer Baseball­cap hervor­schaut, kniet neben dem Grab, die Hände gefaltet. Er murmelt einen Namen, während ihm die Tränen über die Wangen kullern: Sajjad, Sajjad. Es ist der Name des Toten. Dessen Sarg, eine aus Span­platten gezimmerte Kiste, wird von schwarz gekleideten Männern unter lauten Trauer­rufen herbeigetragen.

Es gibt kaum Platz zum Stehen zwischen den eng beieinander­liegenden Grab­steinen. Grab reiht sich an Grab, so weit das Auge reicht: Wadi al-Salam in Najaf, das «Tal des Friedens», ist der grösste Friedhof der Welt. Etwa zehn Quadrat­kilometer gross ist die Fläche, sie beherbergt mindestens fünf Millionen Gräber. Schiitische Muslime von überall auf der Welt wollen hier ihre letzte Ruhe finden, denn Wadi al-Salam liegt in der heiligen Stadt Najaf neben dem Mausoleum von Ali ibn Abi Talib, dem Schwieger­sohn des Propheten Mohammed. Imam Ali nennen ihn die Schiiten; für sie ist er der erste rechtmässige Nachfolger des Propheten. Der Platz ist derart eng geworden, dass Gräber bisweilen senkrecht ausgehoben werden – so wie das von Sajjad.

Die Reise in die arabische Welt

Diese Serie entstand aus drei Recherchereisen, zu denen die Republik-Reporter Amir Ali und Monika Bolliger Ende August aufbrachen. Sie reisten vom Libanon nach Ägypten, in den Sudan und in den Irak und sind der Frage nachgegangen: Was haben die Menschen in der arabischen Welt heute für Perspektiven, bald neun Jahre nach dem Arabischen Frühling? Zur Übersicht mit allen Episoden.

Zwei Golfkriege, ein gescheiterter schiitischer Aufstand gegen den Diktator Saddam Hussein, der Sturz Saddams durch die USA und die darauf folgende amerikanische Besetzung, ein Bürger­krieg zwischen Sunniten und Schiiten und der Krieg gegen den sogenannten Islamischen Staat (IS) haben in den vergangenen Jahrzehnten Hundert­tausende Todes­opfer gefordert.

Als der Krieg gegen den IS tobte, verdoppelte sich in Wadi al-Salam die Zahl der täglichen Beerdigungen beinahe. Über vielen Gräbern hängen Bilder junger Männer, viele davon in Uniform, dekoriert mit der irakischen Flagge und Referenzen zu Imam Alis Sohn Hussein, mit dessen Martyrium die Entwicklung der schiitischen Glaubens­richtung ihren Anfang nahm.

Aus Platzmangel werden die Gräber senkrecht ausgehoben: Ein Angehöriger von Sajjad wartet auf den Sarg mit dem Leichnam.
Der grösste Friedhof der Welt: Schiitische Muslime von überall wollen im «Tal des Friedens» ihre letzte Ruhe finden.

Sicher Hunderte, vermutlich Tausende schiitische Kämpfer, die im Krieg gegen den IS gefallen sind, fanden hier ihre letzte Ruhe.

Doch Sajjad, der hier gerade beerdigt wird, ist nicht an der Front gefallen. Die Kriege des Irak sind vorbei. Sajjad kam bei einer Demonstration in der Stadt Diwaniya unweit von Najaf ums Leben, mit nur 23 Jahren. Wie Tausende andere junge Iraker war er Anfang Oktober auf die Strasse gegangen, um für mehr Arbeits­plätze und gegen Korruption sowie die vielen weiteren Versäumnisse der Regierung zu demonstrieren. Schnell reagierten Mitglieder der Sicherheits­kräfte sowie unbekannte Scharf­schützen mit scharfer Munition. Über 300 Demonstrierende wurden seit Anfang Oktober getötet. Sajjad war einer der ersten. Und gerade in diesen Tagen nimmt die Gewalt gegen die Proteste wieder zu, allein in der Nacht auf den 29. November wurden in Bagdad, Najaf und einer weiteren Stadt mindestens 40 Menschen erschossen.

«Wir werden morgen wieder demonstrieren»

«Sajjad war der einzige Sohn der Familie. Sein Vater ist schon länger tot, und er musste für seine Mutter und seine Schwestern sorgen. Deshalb machte er kein Studium. Er versuchte, sich als Elektriker durchzuschlagen, aber er fand kaum Arbeit», erzählt uns der Onkel des Verstorbenen.

«Das ganze irakische Volk ist müde. Von all den Ressourcen, die unser Land hat, bekommen wir nichts. Wir können nicht mehr.» Sajjads Freunde werfen ein: «Wir werden morgen wieder demonstrieren.»

Die Stimme des Klerus: Ein Stellvertreter von Grossayatollah Sistani verurteilt die Gewalt gegen die Demonstrierenden.

Sajjad sei ein Märtyrer, fährt der Onkel fort. «Na ja, wir sagen Märtyrer, aber wir wissen es nicht, Gott wird entscheiden», fügt er an. Für die Jungen ist der Fall klar: Es findet eine Revolution statt, sagen sie – und wer dabei stirbt, ist ein shahid, was auf Arabisch wörtlich «Zeuge» heisst und in der Regel jemanden bezeichnet, der für eine Sache stirbt – nicht zwingend für die Religion. Und so werden heute im Irak junge Schiiten, die sich gegen ihre schiitisch dominierte Regierung erheben, zu Märtyrern. Im Vorfeld der Proteste sagten viele Junge im Gespräch, sie wollten nichts mehr wissen von dem Gegensatz zwischen Schiiten und Sunniten, den Politiker seit Jahrzehnten schüren und für ihre Interessen instrumentalisieren. Patriotische Slogans und irakische Flaggen dominieren die Proteste.

«Wir wollen ein Heimat­land», fordern die Demonstranten.

Der ausgebliebene Aufschwung

In einem Jugendcafé von Najaf treffen wir eine Gruppe junger Iraker, die bei den Protesten waren. Das Café Moja ist eine kleine liberale Insel in der konservativen schiitischen Pilger­stadt, in der sich sonst fast alles um Religion dreht, in der kaum je eine Frau zu sehen ist, die nicht von Kopf bis Fuss schwarz verhüllt ist. «Wir sind eine Gruppe von Studierenden, die Moja begründet haben. Was uns vereint, ist der Wunsch nach Veränderung. Wir sind gegen Extremismus und für Redefreiheit.» Yasser Makki, der führende Kopf des Kultur­cafés, sprüht vor Energie, während er sein Projekt erklärt.

«Wir erleben einen historischen Moment»: Yasser Makki schläft zurzeit nur drei bis vier Stunden pro Nacht.

Ein Ort der Vielfalt, an dem sich alle sicher fühlen können, ein Ort für Debatte und progressive Kultur. An der Wand am Eingang klebt eine Collage aus Fotos berühmter Persönlichkeiten, Frauen und Männer, aus Ost und West, die Wände sind mit Holz aus gebrauchten Paletten verkleidet, an denen Gemälde und Tablare mit Büchern befestigt sind. Hier gibt es sonst Film­vorführungen, Musik oder Diskussions­abende über Feminismus.

Doch jetzt geht es ums Existenzielle. Mohammed Jaafar hatte Glück im Unglück. Seine Hand hat bei der Demonstration am Vortag eine Kugel abbekommen und ist in einen dicken Verband gewickelt, ansonsten ist er unversehrt. Jetzt sitzt er hier in der Runde aufgebrachter junger Männer, die am Protest waren. Sie reden alle durcheinander. Einer zeigt uns Bilder von Verletzten in einem Spital von Najaf auf seinem Handy. Er habe heimlich fotografiert, denn man habe es ihm verboten. Allein in diesem Spital habe es etwa 25 Verletzte gehabt, sagt er. Einer sei am Vortag seinen Wunden erlegen.

Mohammed selber redet erst, als wir ihn dazu auffordern.

«Es waren spontane Proteste. Ich habe auf Facebook davon erfahren. Es begann alles friedlich. Am Abend, als die Demonstration sich schon aufgelöst hatte und wir auf dem Gehsteig rumsassen, kamen plötzlich Bereitschafts­polizisten und eröffneten das Feuer ohne Vorwarnung», erzählt er.

«Sie schossen direkt auf uns. Mich erwischte es an der Hand. Einer wurde am Kopf getroffen.» Mohammed, Ende 20, hat auf dem Bau gearbeitet, um sich, seine Eltern und seine Geschwister zu ernähren. «Ich komme nicht immer über die Runden. Die von der Regierung haben alles Geld. Für uns gibt es nichts», sagt Mohammed, und die anderen nicken.

«Als die Demonstration sich schon aufgelöst hatte, kamen plötzlich Polizisten»: Mohammed Jaafar wurde von einer Kugel getroffen.

Die Parteien und Eliten bereichern sich schamlos auf Kosten des Volkes – das ist es, was die Demonstrierenden beschäftigt, worüber sich Gesprächs­partner immer wieder beschweren. «Millionen gehen verloren bei Bauprojekten, welche die Hälfte des offiziellen Preises kosten und nicht richtig umgesetzt werden», sagt Maytham, der sich zusammen mit Yasser im Kulturcafé Moja engagiert. «Nach dem Sturz von Saddam 2003 kamen viele Oppositionelle zurück, unter ihnen waren Anführer religiöser Parteien, und diese erlebten einen Aufschwung. Sie führten den Diskurs von den Schiiten ein, die nach Jahrzehnten der Unter­drückung endlich aufblühen würden. Aber nichts von dem geschah. Es gibt immer noch keine staatlichen Dienst­leistungen, gerade in den schiitischen Gebieten.»

Der Kleriker, der einst Marxist war

Bei den Protesten wurde hier und dort auch der Ruf nach einem starken Mann laut. Der Schluss, die Demokratie habe versagt, schien für manche naheliegend. Das Problem am irakischen System ist, ähnlich wie im Libanon, dass es Posten nach Quoten an Schiiten, Sunniten und Kurden vergibt, statt an Parteien, die sich mit echten politischen Programmen einen Wettbewerb um die Gunst der Wählerinnen liefern würden. Somit werden nicht fähige Politiker begünstigt, vielmehr befördert das System eine Klientel­politik in einem Land, dessen Institutionen ohnehin von Kriegs­gewinnlern unterwandert sind.

Zwei Begegnungen im Irak

Baraa Mahmoud

Peace-Marathon-Organisatorin

Labib Kashef al-Ghita

Start-up-Gründer

Dass Schiiten im Irak die Geschicke des Landes lenken, ist relativ neu. Sie machen heute die Mehrheit der irakischen Bevölkerung aus. Lange dominierten Sunniten das Land, einst die Osmanen, später die von den britischen Kolonial­herren eingesetzte Königs­familie. Unter dem Diktator Saddam Hussein wurden Schiiten brutal verfolgt. Linke und revolutionäre Ideologien, welche die Herrschaft Saddams heraus­forderten, fanden im schiitischen Milieu viele Anhänger. Die schiitische Idee vom entrückten Imam, der einst als Messias zurückkehrt und die Tyrannen stürzen wird, soll Saddam Hussein ein besonderer Dorn im Auge gewesen sein.

1979 übernahm im Iran mit der Islamischen Revolution ein revolutionäres schiitisches Regime die Macht und inspirierte auch irakische Schiiten. Als Reaktion darauf intensivierte Saddam Hussein die Repression, viele Kleriker flohen ins Exil oder wurden ermordet.

Der Religions­gelehrte Sayyed Salih al-Hakim, der aus einer bedeutenden Gelehrten­familie Najafs stammt, hat so seine ganze Familie verloren. Ein Verwandter von ihm hatte im Iran eine Partei gegründet, welche im Irak eine Revolution nach iranischem Vorbild anstrebte. Das Baath-Regime von Saddam Hussein verhaftete Dutzende aus der Familie Hakim und exekutierte 18 von ihnen. Salih al-Hakim war während der Verhaftungs­welle gerade in Syrien. Bis zu Saddams Sturz kehrte er nicht wieder in den Irak zurück.

«Bloss drei Familien­mitglieder waren damals politisch aktiv, und dafür wurden alle bestraft. Selbst meine 14-jährige Schwester haben sie verhaftet», sagt der Religions­gelehrte. Er selber war in seiner Jugend wie viele seiner Generation Marxist, und dann Islamist, ehe er zur Überzeugung gelangte, dass die Religion ein ethisches und nicht ein politisches Regelwerk sei.

Die Mehrheit der Kleriker von Najaf befürwortet eine Trennung von religiösen Institutionen und Politik. Sie lehnen das iranische Modell ab, nach dem die Religions­gelehrten als Stellvertreter des entrückten Imams regieren (wilayet al-faqih). Gerade wegen ihrer Distanz zur politischen Macht, so argumentiert Salih al-Hakim, hätten die Religions­gelehrten von Najaf eine breit abgestützte Legitimität. Nicht der Staat ernennt religiöse Anführer; die Autorität eines Gelehrten wächst vielmehr mit der Zahl seiner Anhänger. «Es ist wie in einem Laden: Wenn man schlechte Güter verkauft, kommt keine Kundschaft», sagt Salih al-Hakim.

«Sexualität und Wahrheit» in der Bibliothek des Imams

Der mächtigste der irakischen Kleriker, Gross­ayatollah Sistani, weigert sich strikt, Politiker zu empfangen. Zugleich gibt er aber aktiv Kommentare zum politischen Geschehen ab und verfasst einfluss­reiche Rechts­gutachten, etwa jene Fatwa, mit der er seine Glaubens­brüder zum Kampf gegen den IS aufrief. Zehntausende folgten damals seinem Ruf und schlossen sich den Hashd al-Shaabi an, wie die Einheiten der Volks­mobilmachung genannt werden.

Am Anfang der Proteste verurteilt ein Stell­vertreter Sistanis in der Freitags­predigt die Gewalt gegen Demonstrationen und fordert Reformen. Dann, nach einer neuen Eskalation der Gewalt Ende November fordert Sistani das Parlament dazu auf, der Regierung seine Unterstützung zu entziehen. Nur Stunden später kündigt Premier­minister Adel Abdel Mahdi an, er wolle seinen Rücktritt einreichen. Früher, unter der Baath-Diktatur, konnte Sistani nur im Land bleiben, weil er ein Schatten­dasein fristete und zu politischen Themen schwieg.

Neben religiöser Literatur findet man hier auch Werke von Marx und Foucault: Bibliothek im Schrein des Imam Ali in Najaf.

Überhaupt ist Najaf aufgeblüht nach dem Sturz Saddam Husseins. Während die Zahl der Studenten im «Vatikan der Schiiten» am Ende der Herrschaft von Saddam noch auf 3000 geschätzt wurde, ist sie inzwischen auf über 15’000 angestiegen. Die vielen Bibliotheken von Najaf erwachten zu neuem Leben. Die Imam-Ali-Bibliothek, die zum gleichnamigen Schrein gehört, wurde 2005 auf Geheiss von Sistani wiedereröffnet. Unter Saddam war sie geplündert und geschlossen worden. Jetzt werden Manuskripte restauriert und Bücher digitalisiert. Neben schiitischer Juris­prudenz findet man hier auch alle sunnitischen Rechts­schulen – «zum Erstaunen sunnitischer Kleriker, die kürzlich zu Besuch waren», bemerkt der Bibliothekar, der insistiert, es gebe hier alle Bücher der Welt. Vielfältig ist die Auswahl jedenfalls; wir finden medizinische Bücher, Literatur oder atheistische Denker wie Karl Marx. Bei einer Stichproben­suche nach Michel Foucault listet die Datenbank gleich ein Dutzend Titel auf, darunter auch «Sexualität und Wahrheit».

Komplizierte Beziehungen zum Iran

Während das Baath-Regime religiöse Prozessionen und Feiern der Schiiten unterdrückt hatte, strömen heute jährlich Millionen Pilger in die beiden heiligen Städte Najaf und Kerbala. Jetzt, im schiitischen Trauer­monat Muharram, sind sie schwarz gekleidet. Viele kommen zu Fuss, machen Zwischenhalt in Najaf und marschieren danach weiter bis ins 75 Kilometer entfernte Kerbala. Sie betrauern den Tod Husseins, des Sohnes von Imam Ali; Hussein verlor den Streit um die rechtmässige Anführerschaft der Muslime bei der Schlacht von Kerbala im Jahr 680 und wurde von seinen Gegnern getötet. Um den Ansturm der Pilger zu bewältigen, sind in Najaf Bauarbeiten zum Ausbau des Imam-Ali-Mausoleums im Gange. Das bereits jetzt weitläufige Gelände um die Moschee mit der goldenen Kuppel soll danach mehr als dreimal so gross werden.

Jedes Jahr besuchen Millionen schiitische Pilger die Stadt Najaf: Strasse beim Schrein des Imam Ali.

Die Baufirma ist aus dem Iran, genauso wie die Mehrheit der Pilger. Die Beziehungen zum Iran sind hier aus religiösen Gründen eng; die Kleriker bewegen sich oft zwischen Najaf und dem iranischen Pendant Qom, beide Städte sind Zentren schiitischer Gelehrsamkeit. Gross­ayatollah Sistani wurde wie zahlreiche andere Kleriker im Iran geboren.

An einem Stand unweit des Eingangs zur Altstadt, der Devotionalien und Souvenirs für Pilger anbietet, plärrt aus einem Lautsprecher religiöse Musik, Elogen für den Märtyrer Hussein, in persischer Sprache. Beim Näher­treten werden wir als Besucher sogar zuerst auf Persisch angesprochen. Viele Iraker haben keinerlei Berührungs­ängste, was die persische Kultur betrifft, wie etwa jener säkular gesinnte Mann, der bei unserer Begegnung leidenschaftlich für persische Musik schwärmte – nur um im selben Atemzug über die politische Rolle des Iran im Irak zu schimpfen.

«Najaf ist die Hauptstadt der Schia, nicht Teheran»: Scheich Fadel al-Ibdeiri in seinem Empfangszimmer.

Politisch sind die Beziehungen kompliziert. In Najaf goutieren es viele nicht, dass sich der Iran als Führungs­macht der Schiiten in der Region gebärdet. «Najaf ist die Haupt­stadt der Schia, nicht Teheran», bemerkt etwa der Geistliche Fadel al-Ibdeiri. Er ärgert sich über eine Freitags­predigt eines iranischen Klerikers, der unlängst verkündet hatte, der Iran sei grösser als seine Grenzen, und dabei den Irak, Syrien, den Libanon und den Jemen als Einfluss­gebiete erwähnt hatte. Es war kurz nach dem Angriff auf die saudischen Erdöl­anlagen im September, für den die vom Iran unterstützten jemenitischen Huthi-Rebellen die Urheberschaft beanspruchten. Manche mutmassten, dass der Angriff in Wahrheit aus dem Irak kam.

Der Premier als Marionette Teherans

Der Iran hat sein Einfluss­gebiet in der Region durch Beziehungen zu schiitischen Milizen im Libanon, im Jemen, in Syrien und im Irak ausgebaut sowie durch eine enge Allianz mit dem syrischen Regime von Bashar al-Assad. Die Revolutions­garden des Iran spielten eine zentrale Rolle beim Aufbau, Training und Kommando der schiitischen Milizen des Irak, welche gegen den IS kämpften und unter dem Dachverband der Hashd al-Shaabi («Volks­mobilisierung») zusammen­geschlossen sind. Es sind viele verschiedene Milizen, aber einige davon sind eng mit dem Iran verbandelt. Ein ehemaliger Kommandant der Hashd niederen Ranges erzählt uns im Gespräch in Najaf, wie der iranische General Qassim Soleimani bei der Planung von Offensiven gegen den IS mitwirkte; der iranische Kommandant der Al-Quds-Brigaden, einer Elite­einheit der Revolutions­garden, steht auf einer amerikanischen Terrorliste.

Der ehemalige Hashd-Kommandant erzählt uns ausserdem, dass er von iranischer Seite Angebote erhalten habe, um gegen gute Bezahlung Kämpfer für die Unterstützung des syrischen Regimes zu rekrutieren. Er habe abgelehnt: «Wir wollten den Irak verteidigen. Syrien ist nicht unser Krieg.»

Geht die Kluft zum Iran weiter auf, könnte sich das auf den Strom von iranischen Pilgern auswirken: Markt in der Altstadt in Najaf.

Viele irakische Gesprächs­partner bekunden Sorge darüber, dass der Iran sein geopolitisches Kräfte­messen mit Saudi­arabien, Israel und den USA im Irak austragen wolle. «Der Iran ist bereit, den Irak dafür abzubrennen», sagt ein Regierungs­berater im Gespräch, der nicht namentlich genannt werden möchte. Auch bei den Protesten sind Rufe gegen die iranische Dominanz laut geworden. Hinter vorgehaltener Hand beschweren sich Leute über Milizen, die ihre eigenen Wirtschafts­imperien aufgebaut haben. «Sie kontrollieren alles, und keiner darf etwas gegen sie sagen», schimpft etwa der Assistent eines Klerikers in Najaf. «Deswegen demonstrieren wir.»

Hinter den Scharf­schützen, welche auf Demonstranten geschossen haben, sollen vom Iran unterstützte Milizen stehen, wie unter anderem die Agentur Reuters unter Berufung auf anonyme Quellen aus den Reihen der irakischen Sicherheitskräfte berichtete. Minister­präsident Adil Abdul-Mahdi hat behauptet, er wisse nicht, wer die Scharf­schützen seien, was ihn erst recht wie eine Marionette aussehen lässt.

Scheichs, Priester, Arbeiter – alle protestieren

Ende Oktober kommt es im Irak zu einer neuen Protest­welle, und sie ist noch grösser als die erste. Sie umfasst vor allem schiitische Gebiete im Süden sowie Bagdad. Bei Demonstrationen in Kerbala erschiessen maskierte Männer mindestens 18 Demonstranten. Doch die Leute gehen danach erst recht auf die Strasse. Die Bewegung wächst, wird grösser und breiter. Alte, Junge, muslimische Scheichs, christliche Priester, Arbeiter, Studentinnen schliessen sich der Protest­bewegung an. In Najaf demonstrieren jetzt auch einige Religions­gelehrte und Scharen von Religions­schülern.

Irans oberster Anführer Ayatollah Ali Khamenei verunglimpft die Proteste als saudisch-amerikanischen Plot. Man fühlt sich unweigerlich an Bahrain während des Arabischen Frühlings 2011 erinnert, wo umgekehrt die Saudis und die Regierung von Bahrain die mehrheitlich schiitischen Demonstranten als Agenten des Iran abtaten. Und Abu Mahdi al-Muhandis, Vizechef der Hashd und ehemaliges Mitglied der iranischen Revolutions­garden, drohte, die Proteste seien eine mit dem IS vergleichbare Verschwörung, welche Zwietracht säen und den Irak zerstören wolle. Die Hashd seien bereit, zu gegebener Zeit zu reagieren.

Die kühnsten Träume

Die Demonstrationen sind unangenehm für jene Macht­haber, welche die schiitische Identität für sich instrumentalisiert haben. Es ist noch nicht lange her, dass im Irak oder auch im Libanon die Schiiten marginalisiert und in der Politik untervertreten waren. Das hat sich geändert; heute gibt es mächtige schiitische Anführer, Milizen und politische Parteien, die im Namen der Schia an die Macht gekommen sind. Und der Iran, der mit vielen dieser Parteien und Milizen verbandelt ist, gebärdet sich als regionale Schutz­macht der Schiiten. Dass die Demonstranten manchmal schiitische Symbole und Lieder verwenden, entzieht dem Iran diese Legitimität als Führungs­macht der Schiiten. Dabei darf man allerdings nicht vergessen, dass Sistani in Najaf immer der unbestrittene spirituelle Anführer der meisten Schiiten war, auch der Schiiten des Iran, ungeachtet der politischen Rolle Teherans. Irans oberster Anführer Khamenei hat religiös nicht denselben Rang wie Sistani.

Es ist noch nicht lange her, dass die Schiiten marginalisiert waren, heute sind sie an der Macht: Auf dem Markt von Najaf.

Wenn die politische Kluft mit dem Iran weiter aufgeht, dann könnte sich das auf den Strom von iranischen Pilgern in Kerbala und Najaf auswirken. Bereits gab Teheran eine Reise­warnung für den Irak heraus. Die Reaktion kam postwendend: «Iraner, bleibt hier und seid vernünftig. Sonst werden wir dafür sorgen, dass ihr den Schrein von Hussein künftig via Youtube besuchen müsst!» stand auf einem Transparent, das Demonstranten im irakischen Kerbala hochhielten. Je deutlicher der Iran sich gegen die Proteste stellt, umso mehr richtet sich die Wut der Demonstranten nicht nur gegen die eigene Regierung, sondern auch gegen Teheran. An den Protesten tauchen Transparente mit durchgekreuztem Porträt von Khamenei auf. In Kerbala und Najaf, den beiden wichtigsten heiligen schiitischen Städten im Irak, attackierten wütende Mobs die jeweiligen iranischen Konsulate und setzten sie in Brand.

Der irakische Analyst Ali Abdelhadi al-Maamouri warnt: «Es ist eine gefährliche Entwicklung, wenn man den Iran als den einzigen Bösewicht im Irak sieht – wobei die Iraner ihre Fehler selber zu verantworten haben. Aber es gibt noch andere Akteure, die im Irak eigene Interessen verfolgen, etwa die USA oder Saudi­arabien, Katar und so weiter.» Der Iran wird den Irak nicht einfach aufgeben, zu wichtig ist das Nachbar­land für Teheran als Trumpf gegen seine geopolitischen Rivalen wie auch als Absatz­markt für Exporte.

Geopolitik hat Volks­bewegungen in der Region immer verkompliziert. Aber viele Iraker lassen sich derzeit weder davon noch von der brutalen Repression der Proteste einschüchtern. Das deutet darauf hin, dass ein Punkt erreicht ist, wo viele nichts mehr zu verlieren haben – und umgekehrt durch die Proteste erstmals das Gefühl bekommen, sie könnten etwas gewinnen.

Yasser Makki, der Mitbegründer des Jugend­cafés Moja, ist voller Hoffnung. Er schlafe nur drei bis vier Stunden pro Tag, die restliche Zeit verbringe er damit, Aktivitäten zu koordinieren.

«Der Patriotismus war vielleicht noch nie so stark hier, und auf eine gute Art. In unseren kühnsten Träumen hätten wir uns nicht vorstellen können, dass die Iraker so wundervolle Demonstrationen machen würden. Wir erleben einen historischen Moment.»

Diese Reportage wurde aus dem Rechercheetat der Project R Genossenschaft realisiert.

Zu den Autorinnen

Die Arabistin Monika Bolliger arbeitet als Analystin und Forscherin in Beirut und Zürich. Zuvor war sie als Nahost­korrespondentin der NZZ in Jerusalem, Kairo und Beirut tätig. Amir Ali, der ebenfalls fliessend Arabisch spricht, war fünf Jahre Co-Leiter des Strassen­magazins «Surprise». Seit diesem Sommer ist er als freier Journalist tätig, der Schwer­punkt seines Interesses gilt den Ländern im Nahen Osten.

Zum Fotografen

Der kurdische Fotojournalist Hawre Khalid wurde 1987 im irakischen Kirkuk geboren und war viermal in seinem Leben ein Flüchtling. Mit seinen Bildern zeigt er die normaler­weise nicht sichtbaren Momente von Menschen in Kriegszeiten. Seine Arbeiten erschienen in internationalen Publikationen wie «Times Magazine», «New York Times», «Washington Post», «Le Monde», «Der Spiegel» oder «National Geographic» und wurden weltweit ausgestellt.

Reise in die arabische Welt

Folge 1

Irak, Teil 1: Der Krieg ist vorbei, die Revolution beginnt

Sie lesen: Folge 2

Irak, Teil 2: Märtyrer der Nation

Folge 3

Sudan, Teil 1: Die Revolution ist weiblich

Folge 4

Sudan, Teil 2: Brot oder Ge­rech­tig­keit?

Folge 5

Ägypten, Teil 1: Eine Brücke öffnet Gräben

Folge 6

Ägypten, Teil 2: Die eiserne Hand ist nervös