«Hier sind wir und wissen nicht, was passieren wird»
Baraa Mahmoud, Organisatorin des Peace-Marathons.
Ein Porträt von Monika Bolliger (Text) und Hawre Khalid (Bilder), 29.11.2019
«Sport gegen Gewalt» steht in grossen arabischen Lettern an der Wand des sauber aufgeräumten Büros, in dem Baraa Mahmoud arbeitet. Bunte Post-it-Zettelchen kleben neben ein paar Fotos und Postern von Anlässen der NGO. Im Nebenzimmer sieht es chaotischer aus: Hier basteln Freiwillige Plakate und Schilder für den diesjährigen Marathon von Bagdad. Kartons, Farbtöpfe, Holzbretter, Plastikbehälter liegen herum. «Du kannst gewinnen, wenn du willst» steht in Englisch auf einem Schild, in rosaroten Lettern auf violettem Hintergrund. Und auf einem anderen, in roter und gelber Farbe: «Ruhm erwartet dich am Ende».
Baraa Mahmoud, eine zierliche Frau Ende zwanzig in Jeans und T-Shirt, entschuldigt sich lächelnd für die Unordnung. Dann beginnt sie zu erzählen.
«2015 haben wir zum ersten Mal einen Marathon in Bagdad organisiert. Wir waren eine Gruppe von Freiwilligen. Es kamen 500 Leute. Ein Jahr später waren es mehr als doppelt so viele. Ich weinte vor Freude, als ich die Menschen sah, Frauen, Männer, Kinder, Junge und Alte – es war ein so schöner Anblick nach all den Jahren, in denen wir Angst hatten, nur schon aus dem Haus zu gehen. Beim ersten Mal machten nur 3 Frauen mit. Vergangenes Jahr hatten wir 1400 Teilnehmer, unter ihnen 500 Frauen! Inzwischen sind wir eine registrierte NGO, und ich arbeite hier.»
Diese Serie entstand aus drei Recherchereisen, zu der die Republik-Reporter Amir Ali und Monika Bolliger Ende August aufbrachen. Sie reisten vom Libanon nach Ägypten, in den Sudan und in den Irak und sind der Frage nachgegangen: Was haben die Menschen in der arabischen Welt heute für Perspektiven, bald neun Jahre nach dem arabischen Frühling? Zur Übersicht mit allen Episoden.
Der Marathon ist für Baraa Mahmoud mehr als nur Sport. Er steht für den Frieden. Dafür, dass der Bürgerkrieg vorbei ist, dass die Menschen wieder atmen können. Und dafür, dass sich gerade Frauen wieder freier bewegen können. Diese Entwicklung spiegelt sich auch in ihrer persönlichen Biografie.
Erst die Amerikaner, dann die Extremisten
Baraa Mahmoud wurde 1991 in der Provinz Diyala nordöstlich von Bagdad geboren. Ihr Vater arbeitete bei der Armee in Bagdad. Zwei Jahre später zog die Familie in die Hauptstadt: «Als Baby war ich krank geworden, und weil es in Diyala keine adäquate medizinische Versorgung gab, zogen wir nach Bagdad. Es war die Zeit der Sanktionen.» Als 2003 die Amerikaner einmarschierten, floh die Familie wieder nach Diyala ins Haus des Grossvaters, wo sie zwei Monate lang blieb. «Ich erinnere mich, dass mehrere Familien bei uns unterkamen, auch solche, die wir nicht persönlich kannten. Unser Haus in Bagdad wurde damals von einer Rakete beschädigt. Die Amerikaner sagten, sie kämen als Befreier. Aber um ehrlich zu sein, sie kamen als Zerstörer. Viele Leute kamen in dieser Zeit ums Leben. Manchmal kamen in der Nacht amerikanische Soldaten in die Häuser und durchsuchten alles, auch bei uns. Und dann begann der Bürgerkrieg.»
Baraa hat schwierige Erinnerungen an jene Zeit, in der Extremisten fast täglich Bombenanschläge verübten, in der Politiker religiöse Identitäten zementierten und diese in Machtkämpfen instrumentalisierten. «Ehen zwischen Schiiten und Sunniten wurden geschieden. Wir hatten alle Angst. Wir Mädchen begannen, ein Kopftuch zu tragen. Wir konnten nicht allein aus dem Haus. Es gab keine Verkehrsmittel. Als ich zu studieren begann, mussten meine Eltern mich zur Tür der Uni bringen und von dort wieder abholen. 2007 musste unsere Familie vorübergehend in ein anderes Viertel ziehen. Unser Quartier war mehrheitlich schiitisch, und als Sunniten wurden wir dort bedroht. Wir blieben zwei Monate weg, dann gingen wir zurück. Mein Bruder musste ein ganzes Jahr wegbleiben, denn er hiess Omar, ein eindeutig sunnitischer Name.» Allein in ihrem Viertel seien sieben Männer umgebracht worden, nur weil sie Omar hiessen, sagt Baraa.
In den vergangenen Jahren hat sich die Lage beruhigt. «Heute fragen die Leute einander nicht mehr, woher sie kommen oder zu welcher Religionsgruppe sie gehören. Wir glauben den Politikern nicht mehr, die behaupten, sie würden diese oder jene Religionsgruppe verteidigen. Bei den Wahlen habe ich jemanden gewählt, der für die Trennung von Religion und Politik einsteht», erzählt sie. 2018 hat sie entschieden, das Kopftuch abzulegen. «Das war ein befreiender Moment für mich. Mein Vater hat mich dabei unterstützt, wie er mich immer unterstützt hat. Mein Bruder war am Anfang skeptisch, inzwischen hat er seiner Frau vorgeschlagen, den Hidschab abzulegen.»
Baraa sagt, nicht alle hätten es so leicht mit der Familie. Viele Frauen würden von Traditionen beherrscht und eingeschränkt. Das habe nichts mit Glauben zu tun. Die Leute fürchteten nicht Gott, sondern hätten Angst davor, was die Gesellschaft denke.
«Ich bin praktizierende Muslimin. Aber Glaube ist etwas zwischen mir und Gott, es ist im Herzen und hat nichts mit dem Kopftuch zu tun.»
Reisen – aber nicht auswandern
Die Arbeit mit der NGO hat es Baraa ermöglicht zu reisen. Sie war im Libanon und in Deutschland. «Anfangs war das etwas schwierig mit der Familie, aber jetzt akzeptieren sie es. Viele junge Frauen träumen davon, in meiner Position zu sein. Aber vielen fehlt es an Selbstvertrauen, sie werden von ihren Familien unterdrückt. Ich hatte das Glück, dass meine Familie hinter mir stand. Vor allem mein Vater.»
Eigentlich hat Baraa Journalismus studiert, aber sie will momentan nicht in diesem Metier arbeiten. Die Medien im Irak seien alle mit irgendeiner Partei oder politischen Fraktion verbandelt, sagt sie. Es gebe keinen unabhängigen Journalismus, und deshalb könne sie nicht als Journalistin arbeiten. «Als Kind träumte ich davon, eine berühmte Journalistin zu werden. Vielleicht war dieses Studium die schlechteste Entscheidung meines Lebens!» Sie lacht. «Würde sich die Situation ändern, dann würde ich nach wie vor gerne als Journalistin arbeiten.»
Sie habe jetzt die Arbeit mit der NGO, aber viele Junge würden keine Jobs finden. «Es gibt ein Heer von alten Beamten, die auf ihren Posten sitzen, Geld bekommen und nichts tun: Sie weigern sich, den Platz der Jugend zu überlassen, die etwas für das Land machen möchte. Aber wir Jungen sind die Zukunft. Wir brauchen eine Chance, um hier etwas zu machen.» Das ist ein Grund, weshalb kurz nach unserem Treffen in Bagdad eine Protestwelle begann. Auch Baraa teilt uns später via Whatsapp mit, dass sie bei den Demonstrationen mitmacht. «Viele sind umgekommen bei den Protesten. Hier sind wir und wissen nicht, was passieren wird», schreibt sie.
Der Marathon, der am 8. November geplant war, wird zunächst verschoben. Dann, zwei Wochen später, findet er doch statt, in kleinerer Form: Rund 300 Aktivistinnen und Aktivisten rennen laut Baraa auf eigene Initiative auf der Abu-Nuwas-Strasse in der Nähe vom Tahrir-Platz, wo die Proteste stattfinden. Die Rennenden tragen einen Mundschutz, so wie es viele Demonstranten zum Schutz vor dem Tränengas tun – ein Zeichen der Solidarität mit dem Aufstand, wie Baraa erklärt: «Der Marathon ist eine Form des friedlichen Protestes.»
Davor, beim Treffen in Bagdad, spricht Baraa mit uns auch darüber, dass viele die Emigration als einzigen Weg sehen, weil sie in der Heimat keine Perspektiven haben. Davon will sie nichts wissen. «Ich liebe Bagdad, ich liebe die Strassen und die alten Häuser. Es liegt etwas ganz Besonderes in der Luft. Für mich fühlt es sich an, als ob die Häuser zu mir sprechen würden», sagt sie in einem fast beiläufigen poetischen Anflug über ihre Stadt, die auch als Stadt der Dichter gilt. Und sie fügt an: «Ich hoffe, dass ich nicht zum Auswandern gezwungen sein werde. Wenn wir alle weggehen, wer wird dann das Land aufbauen?»
Die Arabistin Monika Bolliger arbeitet als Analystin und Forscherin in Beirut und Zürich. Zuvor war sie als Nahostkorrespondentin der NZZ in Jerusalem, Kairo und Beirut tätig.
Der kurdische Fotojournalist Hawre Khalid wurde 1987 im irakischen Kirkuk geboren und war viermal in seinem Leben ein Flüchtling. Mit seinen Bildern zeigt er die normalerweise nicht sichtbaren Momente von Menschen in Kriegszeiten. Seine Arbeiten erschienen in internationalen Publikationen wie «Times Magazine», «New York Times», «Washington Post», «Le Monde», «Der Spiegel» oder «National Geographic» und wurden weltweit ausgestellt.