«Am Limit», Teil 4 – Der Prozess
Heute steht Mike einmal mehr vor Gericht. Der unter dem Pseudonym «Carlos» landesweit bekannt gewordene Mann muss sich wegen versuchter schwerer Körperverletzung und mehrerer Dutzend anderer Vorfälle verantworten – allesamt Ereignisse, die im Strafvollzug geschahen.
Von Elia Blülle und Brigitte Hürlimann, 30.10.2019
Knüpfen wir da an, wo wir aufgehört haben.
Mike hat die Justizvollzugsanstalt Pöschwies soeben verlassen und wird nach Lenzburg ins Gefängnis verlegt. Dafür hatten er, seine Familie und sein Verteidiger, Rechtsanwalt Thomas Häusermann, monatelang gekämpft.
Die Verlegung stellt einen Befreiungsschlag dar, der die verfahrene Situation beruhigen soll. In der Pöschwies kam es immer wieder zu Eskalationen. Mike rebellierte gegen das harte Haftregime, die Gefängnisleitung reagierte mit Sanktionen; Mike begehrte noch mehr auf, verweigerte jegliche Kooperation, jegliche Gesprächsbereitschaft und wurde für das Personal unerreichbar.
Zum Interview «Bei schwierigen Fällen muss man aufpassen, dass keine Vorurteile oder sogar Hass aufkommen»
Dass der inzwischen 24-Jährige von dieser Kampfzone entfernt wird, bedeutet ein Fünkchen Hoffnung auf Normalität, eine Verschnaufpause für alle – nicht zuletzt auch für den Inhaftierten: einen zwar muskulösen, aber psychisch fragilen Mann mit einer belasteten Lebensgeschichte.
Mike hat einiges auf dem Kerbholz, hat schon als Bub die Behörden herausgefordert, Strafanzeigen gesammelt. Er hat jedoch auch krasse Fehlentscheide erdulden müssen, die sein Vertrauen in die Behörden nachhaltig zerstörten.
Mindestens viermal in seinem jungen Leben hat der Staat versagt:
Als 10-Jähriger wird er vor den Augen seiner Eltern in Handschellen abgeführt. Der Verdacht erweist sich im Nachhinein als haltlos. Mit 12 wird Mike erstmals ins Gefängnis gesteckt, teilweise in Einzelhaft.
Im Alter von 15 Jahren unternimmt er in der Untersuchungshaft zweimal einen Suizidversuch. Er wird daraufhin in die Psychiatrische Universitätsklinik Zürich eingewiesen, 13 Tage lang am Bett fixiert und mit starken Medikamenten vollgepumpt. Gegen die verantwortlichen Ärzte soll noch diesen Herbst Anklage erhoben werden.
Mike befindet sich in einem Sondersetting und bewährt sich erstmals, hält sich an sämtliche Regeln. Als in einer Fernsehsendung die Kosten des Sondersettings bekannt gegeben werden und ein Sturm der Entrüstung übers Land fegt, wird die Massnahme abrupt abgebrochen und Mike ins Gefängnis gesteckt – angeblich zu seinem eigenen Schutz. Das Bundesgericht erklärt die Inhaftierung für unzulässig.
Im Bezirksgericht Pfäffikon muss Mike zwei Wochen lang auf dem nackten Boden schlafen, nur mit einem Poncho bekleidet, ohne Unterwäsche. Die Zelle ist unterkühlt, der Inhaftierte bekommt keine Decke. Er darf nicht duschen und tagelang die Zähne nicht putzen, die Nahrung besteht aus belegten Broten. Der Berner Staatsrechtsprofessor Jörg Künzli spricht von einer Menschenrechtsverletzung.
In den ersten drei Teilen dieser Serie haben wir darüber berichtet, wie sich der schwierige Insasse mit dem Strafvollzug verkeilt und umgekehrt. Wie der jetzt 24-Jährige die Justiz an seine Grenzen bringt. Wie seit Monaten eine Abwärtsspirale im Gang ist, die je länger, desto mehr unaufhaltbar scheint.
Und wir haben die Frage gestellt: Wo soll das enden?
Dies ist die Geschichte von Mike, dem jungen Intensivtäter, der unter dem Pseudonym «Carlos» national bekannt wurde. Mehrere Monate haben Elia Blülle und Brigitte Hürlimann recherchiert, haben Gerichtsakten, Gutachten, Gesuche und Verfügungen studiert. Sie haben mit Anwältinnen, mit Angestellten des Justizvollzugs, mit Professoren, Politikerinnen, NGO-Vertretern gesprochen – und mit Mikes Eltern. Ihre Leitfrage: Sind Fairness und Professionalität überhaupt möglich im Umgang mit einem Straftäter, der seit dreizehn Jahren die Strafjustiz überfordert? Zur Übersicht.
Teil 2
Die Tortur
Teil 3
Die Verzweiflung
Sie lesen: Teil 4
Der Prozess
Was uns bei der Recherche aufgefallen ist: In einigen Gefängnissen funktioniert es erstaunlich gut. Mike wird nicht isoliert, sondern macht im normalen Vollzug mit und kooperiert. Die Deeskalation gelingt. So etwa Anfang 2018 im Regionalgefängnis Burgdorf, wo Mike vier Monate lang untergebracht ist. Anfang Juni 2019 erfolgt dann die langersehnte Versetzung in die Lenzburger Strafanstalt. Eine Massnahme, die spät komme, haben wir in der letzten Folge dieser Serie geschrieben: «Vielleicht zu spät.»
Was ist seither passiert?
In Burgdorf und Lenzburg läuft es anders
Auch in Lenzburg beginnt es hoffnungsvoll. Mike und seine Familie wussten von Anfang an, was zu erwarten ist. Sie hatten einen detaillierten Vollzugsplan in den Händen, in dem Schritt für Schritt festgehalten war, welche Vollzugslockerungen bei gutem Verhalten gewährt werden. Und was passiert, wenn sich der Inhaftierte nicht regelkonform benimmt.
Alles lief nach Plan. In der zweiwöchigen Angewöhnungszeit galt zwar ein strenges Regime, Mike durfte aber von Anfang an unter der Woche eine Stunde lang in den Spazierhof – und zwar ohne Fesselung. Dafür lag ein Fussball für ihn parat. In den ersten zwei Wochen musste er allerdings die Wochenenden in der Zelle verbringen, allein, 24 Stunden pro Tag. Nichts Ungewohntes für Mike.
Der junge Mann hielt sich in Lenzburg an die Regeln und bewährte sich. Ab der zweiten Woche durfte er jeden Tag in den Spazierhof, hatte nicht nur einen Fussball, sondern auch einen Hometrainer zur Verfügung, ging arbeiten, zum Unterricht, durfte Krafttraining absolvieren, Zeitungen und Bücher in der Gefängnisbibliothek ausleihen. Und was wichtig ist: Bei seinen Hofgängen wurde er nicht von vermummten Aufsehern begleitet.
Es ist kompliziert
Es ging gut. Und dann, etwa einen Monat nach seiner Versetzung in die Justizvollzugsanstalt Lenzburg, hielt es Mike plötzlich nicht mehr aus.
Wir sprechen mit seinem Vater über den Sinneswandel seines Sohnes, und Herr K. hält sich bedeckt. Es sei kompliziert, sagt er.
Dieses Verhalten kennen wir seit längerem, und wir respektieren es, wenn auch manchmal zähneknirschend: Der Vater hält zu seinem Sohn. Er weigert sich, schlecht über ihn zu reden, er verteidigt ihn durch alle Böden hindurch. Es ist eine Art von Gegenreaktion auf die Vorurteile und auf die Anschuldigungen, die seit Jahren auf Mike niederprasseln.
Herr K. duldet keine Kritik am Junior.
In den Wochen vor dem bevorstehenden Prozess treffen wir Herrn K. zweimal. Aus seinen vagen Äusserungen zum Scheitern des Lenzburg-Aufenthalts hören wir heraus, was wir in unserer Serie mehrfach geschildert haben und was auch Mikes Verteidiger in aller Deutlichkeit sagte: Die lange Inhaftierung und die totale Isolierung des jungen Mannes, die schon viel zu lange andauert, haben dazu geführt, dass sich Mike in einem Kampf wähnt. Er ist zum Krieger geworden. Er kämpft gegen das Justizsystem, gegen den Strafvollzug, misstraut jedem, auch den Gerichtspsychiatern. Er verweigert jegliche Kooperation und ist überzeugt davon, dass man ihn brechen will. Und dieser Kampf, sein Widerstand, ist der Strohhalm, an den er sich klammert. Es ist seine Überlebensstrategie.
Was auch immer die Gründe waren: Mike wird nach einem guten Monat in Lenzburg zurück in die Pöschwies geschafft. Dort wartet er nun auf den Prozess von Ende Oktober. Er befindet sich wieder in der gleichen Zelle auf der Sicherheitsabteilung, in der er schon Monate verbracht hat. Und das Vollzugsregime ist erneut bedrückend, ganz anders als in Lenzburg oder Burgdorf.
Sein Vater berichtet, dass der einstündige Hofgang pro Tag – wenn er denn stattfindet – nur in Fesselung gewährt wird. Sein Sohn dürfe sich seit über zwei Monaten weder rasieren noch die Haare schneiden lassen. Er sehe fürchterlich aus. An den Wochenenden gebe es keinen Hofgang, dann verbringe Mike 24 Stunden pro Tag allein in der Zelle. Es sei ihm nach wie vor verboten, Fachmagazine über den Boxsport zu lesen. Einen Vollzugsplan für die Inhaftierung in der Pöschwies, sagt Herr K., habe er noch nie gesehen. Verhalte sich sein Sohn nicht korrekt, kämen zusätzliche Restriktionen hinzu, etwa ein Fernsehverbot oder eben die Verweigerung des Hofgangs – der ein Menschenrecht ist.
Fernsehschauen ist für Mike in der Pöschwies schwierig, auch wenn es ihm erlaubt wird. Der Fernseher befindet sich ausserhalb seiner Zelle, er muss durch ein vergittertes Türfenster auf den Bildschirm schauen, und zwar stehend. Teilweise werde ihm das Wasser stundenlang abgestellt, berichtet der Vater. Und die Toilette bestehe aus einem Loch.
Diese Schilderungen kennen wir bestens. Sie sind mehrfach dokumentiert. Die aussergewöhnlich restriktiven Haftbedingungen Mikes in der Pöschwies beschäftigen schon seit Monaten diverse Fachleute inner- und ausserhalb der Strafanstalt.
Die allerletzte Chance?
Vater und Sohn sehnen den Prozesstermin herbei, beide voller Hoffnungen auf einen Neuanfang, ausserhalb von Gefängnismauern. Zur bevorstehenden Hauptverhandlung wollen sich zum jetzigen Zeitpunkt weder Herr K. noch Mikes Verteidiger äussern. Aus prozesstaktischen Gründen, was nachvollziehbar ist. Das Gericht soll nicht vergrault werden.
Es geht um viel.
Bleibt Mike für lange Zeit hinter Gittern, oder kommt er bald nach dem Prozess auf freien Fuss?
Staatsanwalt Ulrich Krättli wird seine Strafanträge erst am Prozess stellen – und allenfalls sogar eine Verwahrung fordern. Der Verteidiger beurteilt die Sache anders, das hatte er gegenüber der Republik so geäussert; lange bevor der Prozesstermin feststand. Vor allem was den Hauptvorwurf betrifft, eine tätliche Auseinandersetzung im Büro eines Abteilungsleiters in der Pöschwies, gehen die Darstellungen diametral auseinander.
Vergeblich hatte der Verteidiger eine Tatrekonstruktion verlangt. Der Staatsanwalt schildert, wie Mike auf einen Gefängnismitarbeiter losgegangen sei, mehrfach und mit Wucht mit der Faust gegen dessen Kopf geschlagen habe. Der Mitarbeiter erlitt ein leichtes Schädel-Hirn-Trauma und Prellungen, was der Staatsanwalt als versuchte schwere Körperverletzung qualifiziert. Der Verteidiger sagt, der in der Anklageschrift geschilderte Ablauf sei gar nicht möglich.
Ab dem 30. Oktober wird das Bezirksgericht Dielsdorf unter dem Vorsitz von Gerichtspräsident Marc Gmünder über die eingeklagten Vorfälle befinden – im Zürcher Exil, in den Räumen des Bezirksgerichts – wegen des erwarteten Zuschauerandrangs. Für die Verhandlung sind zwei Tage vorgesehen, das Urteil soll am 6. November verkündet werden.
Wird es für Mike die allerletzte Chance bedeuten?
Am 6. November 2019 erfolgt das Urteil in der ersten Instanz: «Mike soll therapiert werden – aber hinter Gittern».
Am 8. Dezember 2021 greift das Bundesgericht ein: Nach der Antifolterkommission und dem Uno-Sonderberichterstatter gibt das höchste Gericht einer Beschwerde von Brian vollumfänglich recht.
Zum Podcast «Aus der Redaktion»
Journalistinnen und Reporter der Republik erzählen von den Geschichten hinter der Geschichte. Welche Idee, welcher Hinweis stand am Anfang, welche Fragen stellten sich im Lauf der Recherche, und welche Schwierigkeiten galt es zu meistern, bis die Reportage publiziert werden konnte? Hier gehts zum Podcast «Am Limit» – der Fall Mike.