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Brian gewinnt vor Bundes­gericht

Nach den mahnenden Worten der Anti­folter­kommission und des Uno-Sonder­bericht­erstatters sagt nun das Bundesgericht, man müsse den «Fall Brian» anders angehen. Was das bedeutet.

Von Brigitte Hürlimann, 08.12.2021

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Seit drei Jahren begleitet die Republik das Schicksal eines jungen Mannes, der als Jugend­straftäter unter dem Pseudonym «Carlos» ins Scheinwerfer­licht der Öffentlichkeit geraten war. Brian, wie der heute 26-Jährige mit richtigem Namen heisst, befindet sich seit Mitte August 2018 fast ununter­brochen in der Zürcher Strafanstalt Pöschwies in strengster Einzel­haft. Der Inhaftierte ist einem für die Schweiz einzigartig rigiden Vollzugs­regime ausgesetzt, obwohl keine rechts­kräftige Verurteilung vorliegt.

Zur Serie

In der vierteiligen Serie «Am Limit» zeigt die Republik auf, wie der als Straf- und Gewalt­täter in Verruf geratene Brian schon seit frühster Kindheit gravierende behördliche Übergriffe erdulden musste. Seit dem Sommer 2020 besucht die Republik den Inhaftierten regelmässig in der Justiz­vollzugs­anstalt Pöschwies.

Brian wehrt sich verzweifelt gegen seine Haft­bedingungen. Im Juli 2020 berichtet er in einem Republik-Gespräch von der Isolation, von seinen Träumen und Hoffnungen, vom Kampf um Würde: «Ich bin ein Mensch und will wie ein Mensch behandelt werden.»

Nun bekommt der Langzeit­häftling Unterstützung vom Bundes­gericht, nachdem sich bereits andere Instanzen, nationale und internationale, eingeschaltet haben.

So geht das nicht.

Schaut genau hin.

Macht eure Arbeit.

Das sagt – sinn­gemäss – das Schweizerische Bundes­gericht, das eine Beschwerde von Brian vollumfänglich gutheisst.

Was bedeutet das Urteil des höchsten Gerichts?

Erstens wird ein Entscheid des Ober­gerichts Zürich vom Mai dieses Jahres aufgehoben, mit dem der 26-Jährige zu einer Freiheits­strafe von 6 Jahren und 4 Monaten verurteilt worden war; unter anderem wegen versuchter schwerer Körper­verletzung, Sach­beschädigung, Drohung oder Beschimpfung. Lauter Delikte, die im Straf­vollzug stattfanden oder stattgefunden haben sollen.

Zweitens, und das ist nicht minder wichtig, wird mit diesem Bundes­gerichts­urteil eine Beschwerde der Zürcher Ober­staatsanwaltschaft gegenstandslos. Die Strafverfolger hatten bis vors höchste Gericht verlangt, der junge Mann sei zu verwahren. Brian wiederum kämpft um einen Frei­spruch – und dafür, dass er aus der Sicherheits­haft entlassen wird (was durchaus möglich wäre, da bis anhin kein rechts­kräftiges Urteil vorliegt).

Was immer Brian mit seinen Rechts­mitteln zu erreichen versucht: Im Zentrum stehen stets auch die Haft­bedingungen, denen er seit über drei Jahren ausgesetzt ist.

Die Folter­hinweise ernst nehmen

Seine Anwälte sprechen von Folter und von erniedrigender, unmenschlicher Behandlung, die gravierende Auswirkungen auf die physische und psychische Gesundheit des Inhaftierten zur Folge habe. Von einer Isolations­haft, die nationales Recht und internationale Regeln verletzt. Und die das Aufbegehren des Insassen befeuert – je länger, desto mehr. Brian, so die Anwälte, befinde sich in einer Notstands­lage; das sei der Grund für sein Verhalten im Gefängnis, für die vielen ihm vorgeworfenen Delikte.

Das Bundes­gericht nimmt diese Hinweise ernst. Es fordert das Zürcher Obergericht auf, sich mit den Argumenten der Verteidiger und ihres Mandanten auseinander­zusetzen. Nicht nur den belastenden, sondern auch den entlastenden Umständen nachzugehen. Das rechtliche Gehör zu gewähren. Der Begründungs­pflicht nachzukommen. Der massgebliche Sachverhalt, so das Bundes­gericht, sei «nur unvollständig» festgehalten worden. Das heisst, mit anderen Worten: Es bleibt unklar, auf welche Fakten das Obergericht seine rechtliche Einordnung abstützt.

Das sind gravierende Rügen. Und die Zürcher Richter erhalten aus Lausanne konkrete Anweisungen fürs weitere Vorgehen:

  • Sie haben sich damit auseinander­zusetzen, was Brian seit seinem zehnten Lebens­jahr in der Straf­justiz erlebt hat; weil das einen Einfluss auf sein heutiges Verhalten im Gefängnis haben könnte. Sie dürfen sich nicht bloss auf die Haftzeit beschränken, in der die ihm vorgeworfenen Delikte geschahen.

  • Das Obergericht muss sich mit den Gefängnis­tagebüchern Brians sowie mit den Gutachten beschäftigen, die von den Anwälten eingereicht worden waren. Die vom Verteidiger­team vorgelegten Expertisen bestätigen die Illegalität der jahre­langen Isolations­haft und zeigen auf, dass der Widerstand und das Aufbegehren eines Häftlings in einer solchen Extrem­situation das einzige Mittel sind, um nicht noch mehr Schaden zu nehmen – es ist eine Überlebens­strategie.

  • Und nicht zuletzt macht das Bundes­gericht die Zürcher Instanz darauf aufmerksam, dass sie sich nicht mehr auf frühere höchst­gerichtliche Entscheide berufen sollte, in denen es um anderes gegangen sei: einmal um das Anliegen Brians, in ein Untersuchungs­gefängnis verlegt zu werden (weg von der Pöschwies), und zweimal um Gesuche, aus der Sicherheits­haft entlassen zu werden. In allen drei Urteilen, so das Bundes­gericht, sei eine «kurzfristige Sichtweise im Vorder­grund» gestanden. Die «Auswirkungen der Haft­bedingungen in persönlicher, sozialer und insbesondere psychischer Hinsicht» seien bis heute nicht abschliessend geklärt worden.

Ermahnungen aus Lausanne, Bern und Genf

Das Zürcher Obergericht wird sich nochmals intensiv mit dem Fall Brian auseinander­setzen müssen – dieses Mal mit einem erweiterten Blick­winkel und mit mehr Tiefe. Den Ermahnungen aus Lausanne waren Monate zuvor schon ebenso deutliche Aufforderungen aus Bern und Genf voraus­gegangen:

  • Die Nationale Kommission zur Verhütung von Folter formulierte im September eine ganze Reihe von Empfehlungen zuhanden der Zürcher Justiz­direktion, wie die Haft­bedingungen Brians geändert werden sollten. Der 26-Jährige brauche regelmässige menschliche Kontakte («meaningful contacts») sowie Sport­möglichkeiten. Seine Familie soll ihn ohne Trennscheibe besuchen dürfen, und es sei eine angemessene medizinische Versorgung sicherzustellen. Arrest als disziplinarische Massnahme sei für Brian «aufgrund der Gesamt­situation nicht zielführend».

An der Haftsituation geändert hat sich bis heute: nichts.

Das Urteil des Bundes­gerichts vom 12. November 2021 (6B_882/2021, 6B_965/2021) ist ab dem 8. Dezember 2021 um 13 Uhr auf www.bger.ch abrufbar.