Mike soll therapiert werden – aber hinter Gittern
Das Gericht verzichtet auf eine Verwahrung. Eine Einschätzung zum Urteil im «Fall Mike».
Von Brigitte Hürlimann, 06.11.2019
Das Schlimmste, was ihm hätte passieren können, ist nicht eingetroffen: Das Bezirksgericht Dielsdorf hat am Mittwochabend sein Urteil gegen Straftäter Mike eröffnet, der unter dem Pseudonym «Carlos» seit sechs Jahren die Schlagzeilen beherrscht. Das erstinstanzliche Gericht verzichtet auf eine Verwahrung, die von Staatsanwalt Ulrich Krättli verlangt worden war. Und es spricht eine geringere Freiheitsstrafe aus: 4 Jahre und 9 Monate, kombiniert mit einer unbedingten Geldstrafe von 70 Tagessätzen à 10 Franken. Der Staatsanwalt hatte 7 Jahre und 5 Monate verlangt, Verteidiger Thomas Häusermann ein Jahr Freiheitsstrafe.
Alle kennen «Carlos», den Täter. Doch hinter dem Pseudonym steckt auch ein Opfer: «Am Limit. Die Geschichte von Mike».
Doch das Gericht begnügt sich nicht mit einer Bestrafung, es spricht zusätzlich noch eine stationäre Massnahme aus, um Mike intensiv therapieren zu können: damit die Rückfallgefahr sinkt. Es geht hier um Prävention, nicht um die Vergeltung vergangenen Unrechts.
Und das ist einschneidend.
Denn im Gegensatz zur Freiheitsstrafe, bei der jeder Verurteilte weiss, wann er das Gefängnis wieder verlassen darf, kann die stationäre Massnahme nach Artikel 59 des Strafgesetzbuches beliebig verlängert werden. Sie wird deshalb als «kleine Verwahrung» bezeichnet.
Das Bezirksgericht Dielsdorf hat zudem entschieden, dass Mike in einer geschlossenen Einrichtung therapiert werden soll. Also in jener Umgebung, in der er sich seit über einem Jahr in zerstörerischer Verzweiflung und Wut gegen Regeln und Anordnungen wehrt. Der 24-Jährige führt einen erbitterten Kampf gegen den Justizvollzug und soll nun ausgerechnet dort therapiert werden und ein besserer Mensch werden. Der Vollzug der Freiheitsstrafe wird zugunsten der «kleinen Verwahrung» aufgeschoben.
Es brauche Kreativität und Durchhaltewillen, meint Gerichtspräsident Marc Gmünder bei seiner kurzen, mündlichen Urteilsbegründung. Rückschritte seien unvermeidlich. Und: «Der Schlüssel zum Erfolg liegt in seiner Hand. Wir hoffen, er wird irgendwann in der Lage sein, dies zu erkennen.»
Das dreiköpfige Gerichtsgremium übernimmt die Sichtweise der Staatsanwaltschaft und spricht Mike in sämtlichen 29 Anklagepunkten schuldig. Auch was den schlimmsten Vorwurf betrifft, die tätliche Auseinandersetzung im Büro eines Abteilungsleiters im Gefängnis Pöschwies, weicht das Gericht keinen Millimeter von der Anklageschrift ab: Es handle sich um eine versuchte schwere Körperverletzung. Auf dieser Grundlage, mit dieser Qualifikation, hätte sogar eine Verwahrung ausgesprochen werden können.
Die acht Mitarbeiter, sagt Gmünder, hätten den Kerngehalt der Ereignisse übereinstimmend geschildert, die Widersprüche in den Details liessen keine Zweifel aufkommen. Solche Widersprüche seien bei einem dynamischen Geschehen normal. Und vor allem sei kein Motiv ersichtlich, warum die Aufseher den Insassen falsch beschuldigen sollten, so der Gerichtspräsident.
Verteidiger Thomas Häusermann hatte an der Hauptverhandlung von letzter Woche vergeblich versucht, in einem vierstündigen Plädoyer darzulegen, dass sich die tätliche Auseinandersetzung ganz anders abgespielt haben müsse: aus zeitlichen und räumlichen Gründen. Und dass auch das Verletzungsbild des Opfers nicht mit den Schilderungen in der Anklageschrift übereinstimme. Denn hätte Mike wirklich mit voller Wucht zugeschlagen, so Häusermann, wären andere Verletzungen entstanden. Der betroffene Mitarbeiter erlitt nur leichte Kopfverletzungen. Doch das Gericht wollte von einer Tatrekonstruktion nichts wissen. Der Sachverhalt sei erstellt.
Gerichtspräsident Gmünder schildert, wie Mike in Rage auf den Aufseher losgegangen sei, der ihm schräg gegenüber sass, mit einem Tisch dazwischen. Wie der Rasende von sechs hereinstürmenden Mitarbeitern habe überwältigt werden müssen. Mike habe sich nicht mehr unter Kontrolle gehabt und später in der Zelle weitergetobt. Das unterscheide sich von anderen Zwischenfällen gegen Mitinsassen, bei denen das Gericht von leichten Körperverletzungen ausgeht. Obwohl es auch Schläge gegen den Kopf gab.
Anders als Staatsanwalt Krättli berücksichtigt das Bezirksgericht Dielsdorf immerhin die schwere Kindheit und Jugend Mikes – und die diversen «negativen Erfahrungen in Zusammenhang mit staatlichen Interventionen». Marc Gmünder nennt an der Urteilseröffnung die dreizehntägige Fixierung des damals 15-Jährigen an einem Spitalbett in der Psychiatrie, den abrupten und unverschuldeten Abbruch des Sondersettings und die erniedrigende Behandlung im Gefängnis Pfäffikon.
Doch der Gerichtspräsident hält nichts davon, das problematische Verhalten Mikes einzig und allein mit den behördlichen Fehlern zu erklären. Der junge Mann habe sich schon zuvor gewalttätig, aggressiv, uneinsichtig und renitent verhalten. Das Deliktsmuster ziehe sich wie ein roter Faden durch sein Leben.
Gerichtsgutachter Henning Hachtel diagnostiziert bei Mike eine dissoziale Persönlichkeitsstörung mit psychopathischen Wesenszügen und eine hyperaktive Störung. Er stellte seinen Befund letzte Woche mündlich vor Gericht vor.
Und zur Erinnerung: Mit all diesen Krankheitsbildern schmort der 24-Jährige nun schon seit über einem Jahr in einer Isolationszelle, die er 23 Stunden am Tag und viel zu oft auch 24 Stunden pro Tag nicht verlassen darf. Obwohl zumindest der einstündige Hofspaziergang zu den grundlegenden Rechten der Gefangenen gehört. Und obwohl erwiesen ist, wie schädlich sich eine lang andauernde Isolationshaft auf einen Menschen auswirkt.
Das Bezirksgericht Dielsdorf sieht die Problematik der aktuellen Situation durchaus. Marc Gmünder spricht von einer Abwärtsspirale, die dem Insassen physisch und psychisch stark zusetze. Zum Schutze des Betroffenen brauche es deshalb die angeordnete stationäre Massnahme, sprich, eine intensive Therapie. Damit sich die Abwärtsspirale nicht weiterdrehe, schlimmstenfalls bis zur «finalen Erschöpfung».
Das bedeutet: bis zum Tod des Insassen. Das müsse verhindert werden, sagt der Gerichtspräsident.
Aber wie? Was ist die Lösung in dieser verfahrenen Situation? Und wie viele Leute haben sich darüber schon den Kopf zerbrochen? Und sind gescheitert? Das Einzige, was bisher funktioniert hat, war das Sondersetting. Davon ist heute, im Rahmen des Erwachsenenstrafrechts, keine Rede mehr. Aber vielleicht wäre gerade das der geforderte kreative Ansatz. Eine ambulante Massnahme mochte das Gericht allerdings nicht verhängen: «Das wäre zu wenig wirksam, und wegen der hohen Rückfallgefahr bräuchte es unverhältnismässig hohe Sicherheitsvorkehrungen», sagt Marc Gmünder.
Das Urteil des Bezirksgerichts Dielsdorf ist noch nicht rechtskräftig, es kann mit Berufung vor Obergericht gezogen werden. Und Mike bleibt vorerst in Sicherheitshaft, das hat das Gericht am Mittwoch angeordnet.
Urteil des Bezirksgerichts Dielsdorf DG190013 vom 6. November 2019.