Straight White Male
Der Aargauer SP-Grossrat Florian Vock ist schockiert über die Ignoranz unserer Reporter. FDP-Nationalrat Hans-Ulrich Bigler dagegen lässt sie eiskalt auflaufen. Serie «Homestory», Folge 12.
Von Daniel Ryser, Olivier Würgler (Text) und Goran Basic (Bilder), 21.08.2019
Debriefing im «Aargauerhof» an der Langstrasse. Als Erstes müssen wir SP-Grossrat Florian Vock beichten, dass wir in den Tiefen des Zürcher Nachtlebens neben einem Kaschmirpullover und einer Designersonnenbrille auch seine Informationsbroschüre über Transmenschen verloren haben, die er uns nach dem Gespräch in seiner Badener Wohnung mitgegeben hatte. Wir können uns nicht wirklich an den Tag in Vocks Wohnung erinnern, aber dank Fragmenten, die unser Resthirn abgespeichert hat, wissen wir, dass Vock, der ziemlich nüchtern war, uns mehrfach vorgeworfen hatte, transphob zu sein. Die Aufnahmegeräte waren da längst abgeschaltet. Vock kann sich leider auch nicht mehr so genau daran erinnern, wie es eigentlich dazu gekommen ist. Eine Frau serviert Fleischkäse mit Spiegelei, Vocks Freitagsmenü, wie er sagt, und dann sagt er: «Doch! Jetzt erinnere ich mich wieder.»
«Ich war in erster Linie schockiert, wie wenig ihr als Journalisten über Transmenschen gewusst habt, nämlich nichts», sagt Vock. «Etwa darüber, wie hoch die Suizidraten bei jungen Transmenschen sind. Überhaupt irgendwelche Dinge. Und dass ihr auch keine kennt.» Er habe uns vorgeworfen, dass wir in unserer gesellschaftlichen Position mehr wissen müssten. «Deswegen habe ich euch zum Abschied die Broschüre mitgegeben, die ihr nun im Suff verloren habt.»
«Kann man sich denn überhaupt für alles interessieren?», fragen wir ihn, und Vock sagt: «Ich finde schon. Das sollte der Anspruch an ein erfülltes Leben sein.»
Zwei seriöse Republik-Reporter touren kreuz und quer durch die Schweiz und suchen Politikerinnen heim. Sie wollen die Demokratie retten … obwohl, nein, eigentlich wollen sie sich vor allem betrinken und dass die Politiker sie nicht mit Floskeln langweilen. Das ist «Homestory» – die Wahljahr-Serie. Zur Übersicht.
Folge 3
Protestantische Disziplin, katholischer Genuss
Folge 4
Lust for Life
Folge 5
Highway to the Danger Zone
Folge 6
Und täglich grüsst das Murmeltier
Folge 7
Like a Prayer
Folge 8
Black Hawk Down
Folge 9
Brokeback Olten
Folge 10
Kommando Leopard
Folge 11
In einem Land vor unserer Zeit
Sie lesen: Folge 12
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Folge 13
When the Man Comes Around
Folge 14
Die Posaune des linksten Gerichts
Folge 15
Guns N’ Roses
Folge 16
Wir Sonntagsschüler des Liberalismus
Folge 17
Alles wird gut
Folge 18
Höhenluft
Folge 19
Im Osten nichts Neues
Folge 20
Here We Are Now, Entertain Us
Aber letztlich sei es auch wiederum gar nicht weiter überraschend, dass wir so wenig über Transmenschen wüssten, sagt der LGBTQ-Aktivist, denn letztlich sei es eine Tatsache, dass wir alle homophob oder transphob seien, und wir fragen ihn, wie das denn bitte gemeint sein soll.
«Die Gesellschaft ist homophob. Also sind wir es auch, denn die Gesellschaft konstituiert sich aus uns Menschen», sagt Vock. «Auch ich als Homosexueller bin manchmal homophob. Wenn ich mit jemandem unterwegs bin, der laut und tuntig ist, und ich mich frage: Muss das jetzt sein? Ich denke ja nicht einfach, er ist laut, sondern ich schäme mich, weil er tuntig ist. Das ist homophob. Ich denke aber, es ist beruhigend zu wissen, dass Homophobie ein gesellschaftliches Verhältnis ist. Denn damit können wir arbeiten.»
«Sind wir auch Rassisten, Herr Vock?»
«Ja, absolut.»
«Und Sexisten?»
«Es ist dieselbe Logik.»
«Wir sind also alle homophob, sexistisch und rassistisch?»
«Dass Sie das anerkennen, ist ein emanzipatorischer, befreiender Moment. Es befreit einen von der Last zu glauben, dass es allein unser Fehler ist, wenn es ist, wie es ist. So ist es nicht. Aus der Erkenntnis aber entspringt auch eine Verantwortung als aktiver Teil dieser Gesellschaft.»
Wir werfen ihm vor, in einer Bubble zu leben, und dass diese Gesellschaft doch eigentlich gar nicht mehr zu retten sei, weil sie im Eiltempo in immer noch mehr Bubbles zerfalle, in immer mehr kaum noch vereinbare Subsysteme, die nicht miteinander kommunizierten, und Vock sagt, er sehe das komplett anders: «Die Differenzen in unserer Gesellschaft werden so krass wahrgenommen, weil wir überhaupt angefangen haben, miteinander zu reden.»
«Wie meinen Sie das?»
«Dieses Land war doch schon immer extrem geteilt, schon allein der christliche und freisinnige Turnverein. Haben die miteinander geredet? Nein. Was sich verändert hat, ist die Sichtbarkeit. Wer ist es denn, der in den Schweizer Medien ständig diese Behauptung aufstellt, es gebe immer mehr Bubbles? Es sind die Rechten. Sie verknüpfen diese Debatte immer mit einem Vorwurf an Minderheiten. Aber was ist es denn, das sich geändert hat, seit auf den Sozialen Medien alle mitreden? Die ungeteilte Autorität des weissen Professors, der die hohe Wahrheit verkündet, gibt es nicht mehr. Ich halte das für einen gesellschaftlichen Fortschritt. Und was ist das überhaupt für eine Logik, dass vor allem Minderheiten schuld sein sollen an Bubblebildung? Bubbles, das waren doch in erster Linie exklusive Männerclubs, all diese philanthropischen Männervereine. Wie heissen die?»
«Rotary Club.»
«Diese Vereine gibt es schon seit Ewigkeiten. Und die sollen keine Bubbles sein? Dabei waren die doch immer viel hermetischer und machtvoller als jeder queerfeministische Frauenraum. Aber dieser Frauenraum soll nun das Problem sein? Weil diese Frauen gemerkt haben, dass es Treffen gibt, von denen sie ausgeschlossen sind, und sich jetzt selbst organisieren? Die Schweiz war vor vierzig Jahren nicht homogener. Hinter dem Bubblevorwurf steckt eine politische Strategie: Es geht um den Verlust von Deutungsmacht weisser, alter Männer. Die Dinge in diesem Land sind in Bewegung.»
Alois Gmür tobt noch immer wegen Hans-Ulrich Bigler. Beide Männer sind Schwergewichte im Schweizer Gewerbeverband, CVP-Nationalrat Gmür als Chef der Schwyzer Sektion, FDP-Nationalrat Bigler als Direktor. Mit seiner Ja-Kampagne zu «No Billag» habe Bigler Verbandsgeld in eine «unsägliche Kampagne» gesteckt und den Verband auf eine SVP/FDP-Linie getrimmt, sagt Gmür im Gespräch. Der «liebe Kamerad Bigler» sei ein Funktionär und ja gar kein eigentlicher Unternehmer. Bigler, im Gegensatz zu Gmür kein Mann der klaren Worte, versucht zu beschwichtigen. Man habe gar keinen Zoff, und Gmürs Bier sei im Übrigen gut, und als wir sagen, doch, doch, man habe ganz sicher Zoff, sagt er: «Sind wir durch mit den Fragen?»
Zwei gegensätzliche Menschen: Der Katholik Gmür, der uns sofort sein Vertrauen schenkt, offeriert im Wirtshaus seiner Innerschweizer Brauerei Bier, und schnell spricht man stundenlang über Gott und die Welt. Bigler, der Protestant, den wir während unserer «Recherche» zufällig im sonntäglichen ICF-Gottesdienst getroffen haben, wo der Direktor des Schweizerischen Gewerbeverbandes seit zwanzig Jahren regelmässiger Besucher ist, sitzt während unseres Treffens mit eingezogenen Schultern in der Bar des Hotels Schweizerhof an der Zürcher Bahnhofstrasse, wachsam, misstrauisch.
Bigler und Gmür könnten zwei Figuren aus Max Webers Essay «Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus» sein. Auf der einen Seite, an der Spitze des Verbandes, der rationale protestantische Schaffer und überzeugte Kapitalist, bei dem von christlicher Nächstenliebe politisch nichts zu spüren ist, der als Erwachsener eine «strategische Partnerschaft mit Gott» eingegangen ist, wie er laut WOZ einmal gesagt hat, und ständig in unternehmerischen Kategorien spricht, wenn er vom Glauben redet: «Es geht um Eigenverantwortung vor Gott.» Auf der anderen Seite der tief in der Innerschweiz verwurzelte Braumeister, der katholisch ist, weil er so aufgewachsen ist, zehn Minuten neben dem Kloster Einsiedeln, der die Feste liebt – Weihnachten, Fasnacht – und die ganze Wärme des katholischen Pomps, und der gerne betont, dass auch das Bierbrauen ein christlicher Wert sei.
«Herr Bigler, kennen Sie Max Weber?»
«Den Gründer der Zweitwohnungsinitiative?»
«Nein, den Soziologen. Er hat ein Buch geschrieben mit dem Titel ‹Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus›.»
«Ich habe es nicht gelesen.»
Wir hätten gerne mit Hans-Ulrich Bigler über Max Webers These sinniert, die den Protestantismus und den Kapitalismus verband, stattdessen konfrontieren wir Bigler mit dem Vorwurf, den Gewerbeverband in eine rechte ideologische Kampforganisation verwandelt zu haben. «Ich habe den Verband 2008 übernommen», sagt er. «Der Vorstand hat eine Strategie definiert, daraus mittelfristige Ziele abgeleitet, und ich habe den Auftrag gehabt, dies entsprechend umzusetzen. Wir haben zum Beispiel die Kommunikation verstärkt. Unser Ziel war es, wieder referendums- und initiativfähig zu sein. Das sind wir. Daraus nun einen Ideologievorwurf zu konstruieren, scheint mir ein bisschen an den Haaren herbeigezogen.»
Draussen regnet es in Strömen. Wir trinken Kaffee und laufen gegen eine Wand ständigen Abwägens. Ein wirkliches Gespräch entsteht zwischen uns nicht. Als uns fast nichts mehr einfällt, erinnern wir uns an den Nachmittag bei SVP-Nationalrat Claudio Zanetti, wo dieser uns Weisswein trinkend von seinen einstigen Ambitionen als Direktor der Economiesuisse erzählt hatte und dass das Klimathema den Hans-Ulrich Bigler ganz besonders beunruhige. Bigler nämlich sei während einer Nationalratssession in der Wandelhalle auf ihn zugekommen und habe ihn gefragt, wer diese Demonstrationen eigentlich bezahle, und er, Zanetti, habe ihm geantwortet, das sei doch gar nicht nötig, denn das sei wie bei Adolf Hitler: Eine radikale Idee verselbstständige sich von selbst. Hitler habe nicht geführt, sondern sich treiben lassen. Und wir hatten geantwortet, jetzt seien wir aber wahnsinnig schnell von den Schülerdemonstrationen bei Hitler gelandet, und Zanetti hatte gesagt: «Sie müssen vernetzt denken!», und jetzt sitzen wir mit Hans-Ulrich Bigler im «Schweizerhof» und fragen ihn, wie er das gemeint habe, als er den SVP-Kollegen gefragt habe, wer diese Klimademonstrationen eigentlich bezahle, und Bigler sagt: «Ich habe die Frage aufgeworfen, wie spontan die Bewegung ist. Denn eine minimale Logistik braucht das doch alleweil. Die Frage ist, wer die Inhalte bestimmt und koordiniert. Das interessiert mich.»
«Sie haben die Vermutung, dass die Demonstrationen zentralistisch organisiert sind?»
«Ich weiss es nicht. Ich stelle einfach die Frage. Ich gehe nicht davon aus, dass es so spontan ist, wie es dargestellt ist. Weltweit eine gleiche Zielsetzung am gleichen Datum mit gleichem Inhalt zu koordinieren, das kann nicht spontan sein.»
Wir fragen Bigler, ob sich derartige Dinge heute nicht mit WhatsApp und Facebook organisieren und koordinieren liessen und ob es nicht vor allem so sei, dass seine Partei das Klimathema ignoriert habe und deswegen so kurz vor den nationalen Wahlen auf dem falschen Fuss erwischt werde, und Bigler sagt, die Schweiz habe sich an der Klimakonferenz in Paris zu dem 50-Prozent-Ziel bekannt. Der Gewerbeverband sei mit einem Vertreter in der offiziellen Schweizer Delegation an den Verhandlungen beteiligt gewesen. Die beschlossene CO2-Reduktion sei unbestritten, die entscheidende Frage sei aber nun, wie man dieses ambitionierte Ziel konkret umsetze.
Draussen auf den Strassen sind in diesem Wahljahr viele laute Stimmen zu hören, die an Demonstrationen und Streiks einen progressiven Wandel fordern. Aber die Hitze der Strasse könnte nicht weiter entfernt sein im Gespräch mit diesem Mann, der alles herunterkühlt. Und das ist vielleicht die trübe Essenz eines nach wie vor von älteren, weissen Männern dominierten Parlamentarismus: Nationalräte, die rhetorisch gewandt abwiegeln, zerreden, von irgendwelchen Werten sprechen, aber öffentlich eine neoliberale Politik vertreten, deren einziger Wert das Geld ist, bis sich schliesslich die engagierten jungen Progressiven vor lauter Nebelpetarden anderen Dingen zuwenden, während die Welt langsam zugrunde geht.