Lust for Life
Nach einem erfrischenden Glas Wasser bei Lilian Studer begleiten die Reporter die EVP-Kantonsrätin an einen Gottesdienst der Freikirche ICF. Dort treffen sie unvermutet FDP-Nationalrat Hans-Ulrich Bigler an. Serie «Homestory», Folge 4.
Von Daniel Ryser, Olivier Würgler (Text) und Goran Basic (Bilder), 28.06.2019
Wettingen. Montagnachmittag. Strömender Regen. Sturm. Push-Nachricht: Keith Flint, der Sänger der englischen Band The Prodigy, hat sich in der Nacht das Leben genommen. Weil der örtliche Volg keine Regenschirme im Angebot hat, flüchten wir in einen Container-Unterstand und sinnieren darüber, wie Flint nun mit unseren Vorbildern Nico und Lou Reed von The Velvet Underground im Himmel armlange Kokainlinien zieht. Schade, dass wir keinen Draht in den Himmel haben, sonst könnte Keith Flint uns mitteilen, ob der Rapper XXXTentacion wirklich tot ist. Eine Frage, die uns unter den Nägeln brennt.
Zwei seriöse Republik-Reporter touren kreuz und quer durch die Schweiz und suchen Politikerinnen heim. Sie wollen die Demokratie retten … obwohl, nein, eigentlich wollen sie sich vor allem betrinken und dass die Politiker sie nicht mit Floskeln langweilen. Das ist «Homestory» – die Wahljahr-Serie. Zur Übersicht.
Folge 3
Protestantische Disziplin, katholischer Genuss
Sie lesen: Folge 4
Lust for Life
Folge 5
Highway to the Danger Zone
Folge 6
Und täglich grüsst das Murmeltier
Folge 7
Like a Prayer
Folge 8
Black Hawk Down
Folge 9
Brokeback Olten
Folge 10
Kommando Leopard
Folge 11
In einem Land vor unserer Zeit
Folge 12
Straight White Male
Folge 13
When the Man Comes Around
Folge 14
Die Posaune des linksten Gerichts
Folge 15
Guns N’ Roses
Folge 16
Wir Sonntagsschüler des Liberalismus
Folge 17
Alles wird gut
Folge 18
Höhenluft
Folge 19
Im Osten nichts Neues
Folge 20
Here We Are Now, Entertain Us
In einem Wettinger Einfamilienhausquartier treffen wir Lilian Studer, Kantonsrätin der Evangelischen Volkspartei (EVP).
«Was glauben Sie, was passiert, wenn man stirbt, Frau Studer?»
«Ich bin ein gläubiger Mensch. Ich glaube an Gott. Ich glaube, dass es nachher weitergeht, aber was genau passiert, das weiss ich auch nicht genau, aber ich vertraue darauf, dass es der liebe Gott weiss. Ja, dass es weitergeht, darauf vertraue ich.»
«Haben Sie kein klares Bild vor dem inneren Auge?»
«Es ist eher nebulös, ein Gefühl des Friedens.»
Während wir uns mit CVP-Politiker Alois Gmür betrunken haben, trinken wir in Wettingen Wasser. Wie einst ihr Vater ist Lilian Studer Geschäftsführerin vom Blauen Kreuz Aargau/Luzern, und wie ihr Vater will sie für die EVP in den Nationalrat. Alt-Nationalrat Heiner Studer, der im selben Haus wohnt, hatte die EVP erheblich geprägt. Lilian wiederum war für die EVP 2002 mit 24 Jahren als damals jüngste Frau ins Aargauer Kantonsparlament gewählt worden. Jetzt will sie in Bern für die EVP den Sitz zurückholen, den ihr Vater 2007 verloren hatte. Eines von Lilian Studers politischen Kernthemen ist Palliative Care, Sterbebegleitung und Pflege für Schwerkranke.
«In den katholischen Kantonen haben wir keine sonderlich grosse Chance», sagt Studer. «Der Aargau ist geteilt: reformiert und katholisch. In Bezirken, die katholisch geprägt sind, ist es schwierig, einen Sitz zu schaffen. In den reformierten Bezirken wiederum sind wir gut abgedeckt. Unsere Hochburgen aber sind Zürich und Bern.»
«Warum finden Sie, dass es die EVP braucht?»
«Es braucht sie als Brückenbauerin. Wir sind eine Mittepartei. Gewisse stehen eher rechts, Gewisse eher links. Ich sehe links wie rechts Ideen, die gut sind und die es umzusetzen lohnt. Ich bin ein lösungsorientierter Mensch. Und dazu gehe ich auch Kompromisse ein. In der Politik wird viel Arbeit gemacht, die man auf den ersten Blick nicht sieht.»
Wir reden über Gott und die Fristenlösung, die man in der EVP eher kritisch sieht, auch wenn Ausnahmen möglich sein müssten, wie Studer sagt. Wir reden über die Kreuzigung und «The Passion of the Christ» von Mel Gibson und über die R&B-Sängerin Mary J. Blige, denn Studer wollte als Jugendliche eigentlich Tänzerin werden. Wir fragen sie, wo man heute überhaupt noch zum Gottesdienst geht, wenn man noch keine sechzig ist, und sie sagt, die Streetchurch sei ein Gottesdienst, der sie anspreche, oder die Gottesdienste der International Christian Fellowship in der Samsung Hall in Stettbach, und wir fragen sie, ob wir sie zu einem Gottesdienst begleiten dürfen, und sie sagt: «Ja klar.»
«Ich lasse alles zurück, Jesus, und schaue nur auf dich», singt die Band, und die Bühne ist gepflastert mit Jesus-Schildern, denn es seien gerade «Jesus-Wochen» bei der ICF, erklärt Lilian Studer, und die Halle ist während des Vormittagsgottesdienstes voll, knapp tausend Leute, vier ausverkaufte Gottesdienste jeden Sonntag. ICF-Gründer Leo Bigger spricht in seiner Predigt vom Zehnten, den es zu zahlen gelte, ein Schaf müsse schliesslich einmal im Jahr geschoren werden, und auch er habe schon zweimal in seinem Leben sein ganzes Vermögen der Kirche vermacht. Nach dem Gottesdienst kann man sich salben und ölen lassen und gemeinsam in Gruppen weiterbeten oder in der «Politik-Gruppe» über das «Zensurgesetz» diskutieren, wie ein ICF-Moderator die Ausweitung der Anti-Rassismus-Strafnorm nennt.
Studer sagt, sie besuche diese Gottesdienste seit über zwanzig Jahren. Die überkonfessionelle ICF spreche viele eher jüngere Menschen an, die sich von den Landeskirchen «links liegen gelassen» fühlten. Zwei Reihen hinter uns singt und tanzt und betet ein Mann, der älter ist, ein Mann, mit dem wir eigentlich zwei Tage später zum Gespräch verabredet sind, ein Mann, der in der vergangenen Legislatur wegen seiner Rolle in der No-Billag-Abstimmung eine der umstrittensten Figuren der Schweizer Politiklandschaft war: FDP-Nationalrat und Gewerbeverbandspräsident Hans-Ulrich Bigler.
Wir treffen FDP-Nationalrat Bigler in der Wandelhalle des Bundeshauses. Wir wollen von dem freisinnigen Politiker wissen, wie sehr das Religiöse seine Politik prägt.
«Ich bin nicht religiös, ich glaube», sagt Bigler. «Ich mache keine Rituale. Es geht um Inhalte. Ich bin vor dreissig Jahren aus der reformierten Landeskirche ausgetreten, weil ich meine, es ist ein individueller Entscheid, was und wie ich glauben will.»
Wenn er vom Glauben spricht, klingt Bigler, als würde er bei der Delegiertenversammlung der Freisinnigen sprechen: «Es geht um Eigenverantwortung gegenüber Gott und nicht gegenüber einer Institution.»
«Sie standen bei der ICF zwei Reihen hinter uns», sagen wir. «Wir haben nach dem Gottesdienst einen Bibelspruch gezogen, der uns durch die Woche begleiten sollte, und dann waren Sie aber schon weg. Welchen Spruch haben Sie gezogen?»
«Lobe den Herrn, meine Seele.»
«Lesen Sie die Bibel?»
«Regelmässig.»
«Wir sprachen kürzlich mit einer Politikerin über die Offenbarung des Johannes und die kommende Apokalypse.»
«Ein schwieriges Buch.»
«Wie meinen Sie das?»
«Schwierig zu verstehen, schwierig auszulegen und schwierig, es in das aktuelle Geschehen zu überführen.»
«Was sind Ihre wichtigsten Bezugspunkte in der Bibel?»
«Entscheidend ist, was in den Evangelien beschrieben ist. Das Herzstück ist die Bergpredigt. Die Gleichnisse von Jesus. Sie geben mir Ermutigung zu Fragen aller Art, zu Fragen der Lebensgestaltung, sie geben Hinweise, wie man mit Problemen umgehen kann. Was im Glauben zentral ist, das ist die Möglichkeit der Vergebung. Man darf also ruhig sich selber sein und braucht keine Rollen zu spielen. Nun, ich muss los. Abstimmen. Vergessen Sie nicht, immer wieder mal den Vers zu lesen.»