Serie «Homestory» – Folge 9

Brokeback Olten

Die St. Galler EDU-Präsidentin Lisa Leisi sieht in der Politik Gott und den Teufel am Werk. Der Badener SP-Grossrat Florian Vock dagegen konzentriert sich lieber auf weltliche Macht­strukturen. Wahljahr-Serie «Homestory», Folge 9.

Von Daniel Ryser, Olivier Würgler (Text) und Goran Basic (Bilder), 31.07.2019

Im Zug Richtung Eisenbahner­stadt Olten, wo in einem Kongress­hotel die Delegierten­versammlung der Eidgenössisch-Demokratischen Union (EDU) stattfindet, einer bibeltreuen, national­konservativen Partei. Während die Evangelikalen in den USA fast ein Drittel der Bevölkerung ausmachen und eine wichtige politische Kraft sind, kommt die EDU, aufgesaugt von der SVP, in der Schweiz gerade mal auf knapp 1,2 Prozent, und dies, obwohl in der Schweiz Freikirchen boomen.

Während der Fahrt studieren wir die Notizen des Gesprächs, das wir ein paar Wochen zuvor mit der St. Galler EDU-Präsidentin Lisa Leisi geführt hatten. Die passionierte Leser­brief­schreiberin empfing uns in ihrem Häuschen im Grünen am Rand einer Ortschaft namens Dietfurt. Nur eine Stunde Zugfahrt vom Sünden­pfuhl Langstrasse entfernt betraten wir eine Welt, in der die zweitausend Jahre alte Bibel nach wie vor das Mass der Dinge war. Im Haus roch es nach Weihrauch und der Gulasch­suppe, die Leisi gerade kochte.

Lisa Leisi: «Gott schenkt die Regierung, die das Volk verdient.»

Eine grosse Sorge von Lisa Leisi, die jedes Jahr am «Marsch fürs Läbe» gegen die Fristen­lösung demonstriert, ist die «Gender-Ideologie». Wenn sich eine Jugendliche oder ein Jugendlicher heute im falschen Körper fühle, werde das von den Lehrern umgehend normalisiert, sagte Leisi, während sie Kaffee servierte. Umgehend würden die Klassen informiert, alle müssten wissen, «das ist jetzt nicht mehr der Simon, sondern die Simone». «Aber wenn sich jemand objektiv grundlos von der Nachbarschaft verfolgt fühlt oder im Lift eine Panik­attacke bekommt, dann findet man das auch nicht normal», sagte die Politikerin, die auch Mitglied in der Freikirche Chrischona ist.

Grundsätzlich gehe es ihr darum, sagte Leisi, «dass Gottes Wort alles Unzucht nennt, was sexuell gelebt wird ausserhalb einer ehelichen Gemeinschaft von Frau und Mann». Und sie erzählte uns, wie Hollywood heute in Filmen das Schwulsein normalisiere und hetero­sexuelle Beziehungen problematisiere, damit werde die Jugend negativ beeinflusst. Und wir fragten sie, ob sie den Film «Brokeback Mountain» gesehen habe, und sie sagte, nein, sie habe den Film nicht gesehen, aber sie habe gehört, dass es ein sehr romantischer Film sei, in den schönsten Farben dargestellt, und wir sagten, dass in «Brokeback Mountain» ein schwuler Cowboy wegen seines Schwulseins totgeschlagen werde, und sie sagte, das sei natürlich nicht so schön, und wir fragten uns, was wir hier eigentlich machten, aber dann kam uns die Frage in den Sinn, die wir ja hatten stellen wollen, nämlich die, warum die Evangelikalen in der Schweiz als eigenständige Kraft politisch keine Rolle spielten und warum die EDU eine aussterbende Partei sei.

Serie «Homestory»

Zwei seriöse Republik-Reporter touren kreuz und quer durch die Schweiz und suchen Politikerinnen heim. Sie wollen die Demokratie retten … obwohl, nein, eigentlich wollen sie sich vor allem betrinken und dass die Politiker sie nicht mit Floskeln langweilen. Das ist «Homestory» – die Wahljahr-Serie. Zur Übersicht.

Folge 3

Pro­te­stan­ti­sche Disziplin, ka­tho­li­scher Genuss

Folge 4

Lust for Life

Folge 5

Highway to the Danger Zone

Folge 6

Und täglich grüsst das Murmeltier

Folge 7

Like a Prayer

Folge 8

Black Hawk Down

Sie lesen: Folge 9

Brokeback Olten

Folge 10

Kommando Leopard

Folge 11

In einem Land vor unserer Zeit

Folge 12

Straight White Male

Folge 13

When the Man Comes Around

Folge 14

Die Posaune des linksten Gerichts

Folge 15

Guns N’ Roses

Folge 16

Wir Sonn­tags­schü­ler des Li­be­ra­lis­mus

Folge 17

Alles wird gut

Folge 18

Höhenluft

Folge 19

Im Osten nichts Neues

Folge 20

Here We Are Now, Entertain Us

«Wir schwimmen gegen den Strom. Von dem her weiss ich tatsächlich nicht, wie lange es die EDU noch geben wird», sagte Leisi. «Andererseits weiss man nie, wie sich die Zeiten entwickeln. Viele Christen interessieren sich heute nicht für Politik. Vielleicht werden sie aber irgendwann erkennen, dass sie aktiv werden müssen. Dass der gesellschaftliche Wandel nicht dem Wohl von uns Menschen dient. Die Frage ist natürlich, ob es dafür nicht längst zu spät ist.»

«Was meinen Sie damit: dass es zu spät ist?»

«Dass wir nichts mehr erreichen können. Dass wir bei allen Abstimmungen verlieren.»

«Diesen Wandel, den Sie als Christin so bedenklich finden: Warum lässt Gott das zu?»

«Gott schenkt die Regierung, die das Volk verdient. Wir müssen uns nicht über gottlose Gesetze wundern, wenn wir die Gesetze den Gottlosen überlassen.»

«Glauben Sie an den Teufel?»

«Ja.»

«Wie muss man sich den Teufel vorstellen?»

«Man muss sich den Teufel als von Gott abgefallenen Engel und eine Macht vorstellen, die gegen Gott kämpft und Menschen auf ihre Seite zieht.»

«Gibt es Momente, wo Sie denken: Hier ist der Teufel am Werk?»

«Wenn zum Beispiel Leute überzeugt sind, dass Abtreibung ein Fortschritt ist, und hasserfüllt gegen Lebens­schützer Stimmung machen.»


Bahnhofsunterführung Olten. Zufällig treffen wir den SP-Nationalrat und Ständerats­kandidaten Cédric Wermuth, der sagt, dass er auf dem Weg nach Baden sei, wo heute die queer-feministische Liste der SP Aargau gegründet werde, und er werde dort eine Rede halten, und wir sagen, dass wir zur EDU-Delegierten­versammlung gehen und vielleicht später noch vorbeischauen.

Wir sitzen in diesem grossen Saal in der hintersten Reihe, und das Durchschnitts­alter ist sechzig. Die Delegierten vor uns haben kleine Taschen­bibeln vor sich auf dem Tisch liegen, und Thomas Feuz, Chefredaktor der Partei­zeitung «EDU-Standpunkt», hält zu Beginn eine Andacht und erzählt, dass das Diesseits nur ein Trainings­lager sei für die Ewigkeit und irgendetwas von «neuer Weltordnung». Weil es zur Ewigkeit noch ein bisschen dauert, sind die anschliessenden Debatten eher weltlich. Die Traktanden heissen «Steuer­vorlage» und «Änderung der EU-Waffen­richtlinie», und ein Vertreter der Interessen­gemeinschaft Schiessen Schweiz erzählt, dass er es noch nie so einfach gehabt habe wie hier, das Publikum von einem Nein zu überzeugen.

Quasi Haupttraktandum ist das Referendum gegen die Ausweitung der Antirassismus-Strafnorm auf Schwule und Bisexuelle. EDU-Partei­präsident Hans Moser schildert einen harzigen Sammel­start, inzwischen sehe es aber gut aus für das Referendum. Die Bibel sei ein Spiegel, sagt Moser, und wenn man schmutzig sei im Gesicht, könne man sich entweder waschen oder den Spiegel zerschlagen, und mit der Ausweitung der Antirassismus-Strafnorm solle vermutlich der Spiegel zerschlagen werden, und am Ende sei es in diesem Land dann sogar verboten, gewisse Bibel­stellen zu rezitieren.

In der Mittagspause erklärt uns Chef­redaktor Feuz, wie sehr ihn damals die Ereignisse von Waco beschäftigt hätten, als US-Bundes­behörden 1993 die Siedlung der Religions­gemeinschaft «Siebenten-Tags-Adventisten» belagerten und 82 Mitglieder durch ein Feuer und die Kugeln von FBI-Beamten umkamen. «Was für ein Wahnsinn», sagt der EDU-Redaktor. «Man fragt sich schon: Wie würden wir handeln, wenn wir dort stünden, all diese Rohre auf uns gerichtet?» Und wir fragen ihn, ob er Pistolen und Gewehre besitze, und er sagt ja, er besitze mehrere Pistolen, und eine Stunde später stehen wir in Baden im Konzert­lokal Royal und trinken Bier mit dem SP-Grossrat Florian Vock, der die Gründung der queer-feministischen Liste kuratiert, von der uns Cédric Wermuth erzählt hatte, und es tut gut, an diesem anderen Ort zu sein, in dieser anderen Welt, und wir fragen Vock, was das eigentlich genau bedeutet, «Queer-Feminismus».


«Es ist die Verknüpfung von zwei Kämpfen», sagt der LGBTQ-Aktivist und Präsident des Aargauer Gewerkschafts­bundes. «Es ist der Versuch, die Frauen­bewegung mit der LGBT-Bewegung zusammen­zubringen. Nicht indem man sagt, ihr seid alle gleich und habt die gleichen Probleme, aber ihr richtet euch gegen dieselben Macht­systeme. Es ist die Einsicht, dass die Unterdrückung von Frauen und die Unterdrückung von LGBT auf denselben patriarchalen Strukturen beruhen, auf machtvoller Männlichkeit, klein­bürgerlichen Familien­strukturen oder religiös-reaktionären Ideologien.»

Florian Vock: «Schwule können nicht normal auf Stühlen sitzen. Das ist ein Phänomen.»

Wir erzählen Vock, dass wir den Morgen bei der EDU verbracht haben, und er fragt uns mit besorgter Stimme, wie es mit dem Referendum gegen die Ausweitung des Diskriminierungs­artikels stehe, und wir sagen ihm, dass das Referendum vermutlich zustande komme, und Vock sagt «Fuck» und dann «Na gut, dann ist das jetzt halt so», und wir spielen den Advocatus Diaboli und sagen, dass wir aus einer liberalen Perspektive das Gesetz bedenklich fänden und das Strafrecht nur das letzte Mittel des Staates sein dürfe, und wir beginnen über das Gesetz zu diskutieren und trinken Bier und dann ganz schnell ganz viel Weisswein, und bald sitzen wir angetrunken an Vocks Küchentisch in der Nähe vom Bahnhof Baden.

«Viele LGBT-Menschen erleben verbale und körperliche Gewalt, die man nicht ernst nimmt», sagt Vock. «Heute kann ich es zwar einklagen, wenn jemand sagt, Vock ist eine dumme, schwule Sau. Aber wenn jemand sagt, Schwule sind dumme Schweine, dann geht das nicht. Ihr könnt jetzt schon hier sitzen und das Gesetz mit vermeintlich liberalen Argumenten angreifen. Aber diese Erfahrung der Diskriminierung, die macht ihr als hetero­sexuelle Cis-Männer nie. Eine Gesellschaft, die solche Beschimpfungen zulässt, ermöglicht ein Klima, wo auch körperliche Gewalt akzeptabler wird.»

Heute fühlten sich ja viele diskriminiert, entgegnen wir, sogar gewisse weisse, hetero­sexuelle Männer, unter anderem wegen der queer-feministischen Theorie, wo abwertend von ebendiesem weissen, hetero­sexuellen Mann gesprochen werde, und wir fragen Vock, was er solchen Stimmen entgegne.

«Bloss weil jemand häufig erwähnt wird, ist das noch lange keine Diskriminierung. Diskriminierung ist kein Gefühl, sondern ein Macht­instrument», sagt der SP-Nationalrats­kandidat. «Dann soll mir ein hetero­sexueller, weisser Mann zeigen, dass er wegen seiner Hautfarbe und seiner sexuellen Orientierung keine Wohnung oder keinen Job findet. Er soll darlegen, dass es einen strukturellen Zusammen­hang gibt. Und wenn er das schafft, dann reden wir darüber. Aber er wird es nicht schaffen, weil es nicht wahr ist.»

Inzwischen ist es draussen dunkel geworden, auf dem Tisch stehen drei leere Flaschen Weisswein und leere Bierdosen, im Hinter­grund läuft Minimal-Techno, Vock offenbart uns, dass man als Mann nicht gelebt habe, wenn man noch nie anal stimuliert worden sei, und wir fragen ihn, ob er der Meinung ist, dass Diskriminierung objektiv messbar sei.

«Absolut», sagt Vock.

Wer zehnmal keine Wohnung bekomme, obwohl eigentlich alles stimme, könne davon ausgehen, dass es dafür vermutlich einen Grund gebe. Vielleicht sei die Person ein Arschloch. Das komme vor. Wenn aber zehn schwarze Menschen zehnmal keine Wohnung bekämen, obwohl alles stimme, «sind ja wohl kaum alles Arschlöcher».

«Demnächst wird eine Studie zu Racial Profiling publiziert, an der ich mitgeschrieben habe», sagt Vock. «Ich werte gerade Interviews mit schwarzen Menschen aus, die von Polizei­kontrollen betroffen sind. Die dargelegte Diskriminierung im Alltag ist haarsträubend.» Man wisse es ja auch bei Lehrstellen: Wer ein «-ic» im Namen trage, habe Mühe. Das sei wissenschaftlich erhoben. «Wenn ich als Schwuler einen Job will und ihn nicht kriege, obwohl eigentlich alle Voraussetzungen gegeben wären, dann kann es sein, dass das eine homophobe Erfahrung ist», sagt Vock. «Dann muss man fragen: Gibt es noch mehr LGBT-Menschen, die diese Erfahrung machen? Gibt es einen Zusammen­hang mit der Gesellschaft, in der wir leben? Gibt es ein Muster? Wenn ja, dann ist die Diskriminierung real.»

«Sieht man denn einem Schwulen an, dass er schwul ist?»

«Ich habe das Gefühl, dass man es überraschend vielen ansieht. Aber wir Schwulen können gut durchgehen als Hetero. Es gibt dafür sogar einen Begriff: passing. Durchgehen als Hetero. Das ist eine Schutz­strategie vor Gewalt und Beschimpfungen und komischen Blicken. Das können wir alle ziemlich gut. Aber es ist verdammt anstrengend und eine ständige Verletzung für mich als Mensch: Warum soll ich einen Hetero spielen, wenn ich schwul bin?»

«Was tun Sie, damit Sie als Hetero durchgehen?»

«Ich würde nicht ein solches Lümpli tragen», sagt Vock und zeigt auf sein farbiges Halstuch. «Ich halte nicht immer Händchen mit meinem Freund, obwohl ich das möchte. Und ich würde nicht so dasitzen, die Beine quer übereinandergelegt.»

«So dasitzen ist schwul?»

«Schwule können nicht normal auf Stühlen sitzen. Das ist ein Phänomen.»

Daniel Ryser: «Ich kann auch nicht normal auf Stühlen sitzen.»

Florian Vock: «Sind Sie schwul?»

Ryser: «Glaub nicht.»

Vock: «Dann ist es vielleicht doch nicht wahr. Aber beobachten Sie mal Ihre schwulen Freunde, wenn sie auf Stühlen sitzen.»

Ryser: «Ich weiss gar nicht, ob ich schwule Freunde habe.»

Folge 3

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Wir Sonn­tags­schü­ler des Li­be­ra­lis­mus

Folge 17

Alles wird gut

Folge 18

Höhenluft

Folge 19

Im Osten nichts Neues

Folge 20

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