Nope!

Das Rentenalter der Frauen ist tiefer als jenes der Männer.
Eine Frechheit – und deshalb genau richtig so. Warum ich meine Meinung geändert habe.

Ein Kommentar von Olivia Kühni, 25.07.2019

Es ist, tatsächlich, eine Frechheit, dass sich Frauen in der Schweiz schon mit 64 Jahren pensionieren lassen dürfen. Ein Jahr früher als Männer. Eine glasklare Diskriminierung nach Geschlecht, beschlossen in einer Zeit, als Frauen kein Stimm­recht kannten und Parlamentarier um «die natürliche Ordnung der Familie» fürchteten.

Paternalistisches Überbleibsel oder feministisches Pfand?

Lesen Sie das Streitgespräch zum Thema mit Mascha Madörin und Monika Bütler.

Alle Menschen im Land behandelt die AHV gleich – ob arm oder reich, auf dem Land, in der Stadt, lange arbeitslos oder Alleinerbe, Eltern oder nicht, krank oder gesund, Schweizer oder nicht.

Nur ausgerechnet Frauen, und zwar alle, haben einen Sonderstatus.

Das ist unrecht, empörend, ich sehe das ein, fand das schon immer und habe schon mehrfach dafür plädiert, das Renten­alter der Frauen dem der Männer anzugleichen. Und zwar möglichst sofort.

Nun: Ich habe meine Meinung geändert. Behalten wir das Jahr! Falls das nicht geht, hätte ich gerne ein Denkmal auf dem Bundes­platz. Denn dieses eine Jahr ist nicht einfach nur eine Annehmlichkeit. Es ist für viele Frauen ein mächtiges Symbol für alles, was sie leisten.

Unbezahlbar teure Arbeit

Die schlichte ökonomische Wahrheit ist die: Würden sich die Frauen weigern, hinter den Kulissen unbezahlt oder schlecht bezahlt zu pflegen, zu betreuen, zu schrubben, zu planen und zu trösten – wir hätten nicht die geringste Chance, unsere gesellschaftliche Infra­struktur aufrechtzuerhalten.

Wir könnten es uns gar nicht leisten.

Der Grund: Zwischen­menschliche Arbeit ist unbezahlbar teuer. Das liegt an ihrer Ineffizienz. Es braucht enorm viel Zeit, einen alten Menschen zu pflegen, ein Kind zu betreuen, jemanden zu therapieren. Die Kosten nehmen mit zunehmendem Fortschritt sogar noch zu: Wenn sich in einer Stunde mit einer perfekt automatisierten Produktion Zehntausende Kugel­schreiber, Kaffee­kapseln oder Kontakt­linsen herstellen lassen, dann ist es im Vergleich astronomisch teuer, jemanden eine Stunde zu pflegen. Dieser Abstand zwischen verschiedenen Branchen ist einer der Hauptgründe für die wachsende Ungleichheit in entwickelten Ländern.

Weil sie so aufwendig, anstrengend und im Grunde unbezahlbar ist, haben Gesellschaften sogenannt niedrig qualifizierte zwischen­menschliche Arbeit immer schon ausgegliedert an Menschen, die sie nicht oder nur schlecht bezahlten: Frauen eben, oder auch Menschen der falschen Kaste, Religion oder Hautfarbe. Würden sie alle die ihrer Schufterei angemessenen oder überhaupt Löhne für ihre Arbeit verlangen – die Gesellschaft kollabierte.

Putzen wird ausgelagert

Also leisten alle Menschen in der Schweiz zusammen unbezahlte Arbeit im Wert von 408 Milliarden Franken. 246 Milliarden davon gehen auf das Konto von Frauen. All die Hintergrund­arbeit, früher charmant als «das bisschen Haushalt» beschrieben, stellt sich als viel mehr und viel härtere Arbeit heraus, wenn man sie mal ans Tageslicht zerrt. Das bekommen auch Männer zu spüren, wenn sie heute neben denselben Jobstunden wie schon immer zusätzlich 20 Stunden in der Woche unbezahlte Arbeit leisten. Das tun sie nämlich, und wenn sie Väter sind, sind es 31 Stunden. Bei Müttern allerdings: 54 Stunden.

Mit zunehmendem Wohlstand wird der Aufwand für den Haushalt ausgelagert – was genau, an wen und zu welchen Bedingungen, bleibt eine Machtfrage. So bleibt etwa in unserer Gesellschaft die mit den eigenen Kindern bewusst verbrachte Zeit auch mit zunehmendem Wohlstand hoch, weil sie uns offenbar wertvoll ist; das Putzen wird ausgelagert, üblicher­weise an andere Frauen. Verschwinden wird all die essenziell wichtige, anstrengende zwischen­menschliche Arbeit nie. Im Gegenteil: Je älter wir werden, desto eher nimmt sie noch zu.

Zum Kümmern und Räumen hinter den Kulissen kommt längst das Geld­verdienen hinzu. 63 Prozent der Frauen in der Schweiz sind heute im Arbeits­markt. Das schliesst alle ab 15 Jahren und bis ans Lebens­ende mit ein und ist gemäss Weltbank eine der höchsten Raten weltweit – deutlich mehr als in sämtlichen Nachbar­ländern und im Durchschnitt der OECD-Mitglieds­staaten; deutlich höher auch als in den Vereinigten Staaten oder im Vereinigten Königreich.

Ich finde: Die Frauen in der Schweiz haben sich ihr Extrajahr verdient. Sollten sie es verlieren – denn ja, Gleichheit vor dem Gesetz ist eben doch ein wirklich gutes Schachmatt-Argument – sähe ich gerne eine Statue in Bern. Eine riesige lachende Frau, hoch wie die Bundeshaus­kuppel, aus glänzendem Material, in dem sich die Abend­sonne spiegelt.

Und darunter steht ein dickes, fettes Danke.