Emotionen
Leshas erstes Buch ist erschienen, an der Vernissage kann er seine Gefühle nicht verbergen. Danach reist er in die gefluteten Gebiete, um zu helfen. Was er dort sieht, lässt ihn verzweifeln.
Von Lesha Berezovskiy (Text und Bilder) und Annette Keller (Bildredaktion und Übersetzung), 29.06.2023
Ich hatte einiges zu verarbeiten, deshalb die Sendepause. Angefangen mit der Buchvernissage: Ich freue mich so, dass mein Buch mit Bildern aus dieser Kolumne nun erschienen ist – und kann es gleichzeitig auch noch nicht ganz glauben. Ich habe leider immer noch kein Exemplar hier, aber ein paar sind unterwegs per Post und sollten nächstens eintreffen.
Der Abend der Vernissage war für mich sehr aufwühlend. Ich glaube aber, es ging nicht anders. Keine Ahnung, wie ich mit all den Emotionen hätte umgehen können, wenn ich tatsächlich in Zürich vor Ort gewesen wäre. Dabei hatte ich mich vorbereitet, Notizen zu dem gemacht, was ich sagen wollte. Und ich wusste auch, dass diese Frage kommt nach meinem Lieblingsbild. Aber als ich das dann dem Publikum erklären wollte, überkamen mich die Erinnerungen an diesen ersten Morgen und alles andere, was seither passiert ist, und ich kam nicht mehr weiter.
Obwohl die Bezeichnung «Lieblingsbild» in meinen Augen nicht ganz zutrifft. Denn ich wünschte, ich hätte das Foto nicht in diesem Zusammenhang gemacht, mein erstes Buch wäre nicht über den Krieg. Aber es ist sicher eines der bedeutungsvollsten oder wichtigsten Bilder dieser Arbeit. Es ist das erste, das ich gemacht habe, es ist das erste Bild im Auftakt zur Kolumne. Der Krieg war gerade ein paar Stunden alt und ich stand vor den wahrscheinlich wichtigsten Entscheidungen in meinem Leben. Meine Frau Agata war noch nicht in der neuen Realität angekommen, sie schlief ahnungslos. Ich habe so lange gewartet, wie ich konnte, bevor ich sie weckte. Das Bild steht für diesen Moment, diese Gefühle und alles, was danach kam, und lässt mich nie unberührt, wenn ich es anschaue.
Es war so schön, die vielen Menschen zu sehen, die zur Vernissage gekommen sind. Es hat mir wieder gezeigt, dass ich mit dieser Kolumne, den Bildern, dem Buch etwas bewirken kann und es darum wichtig und sinnhaft ist. Gleichzeitig war es schwierig, mit all den damit verbundenen Gefühlen umzugehen. Aber die vielen Nachrichten, die ich in den Tagen nach der Vernissage erhalten habe, berührten mich sehr, und ich habe verstanden, dass auch diese Emotionen ein wichtiger Teil von diesem Jahr sind. Ich bin sehr dankbar für alle, die mich und dieses Projekt unterstützen.
Nach der Vernissage habe ich mich mit Agata für das Wochenende aufs Land zurückgezogen. Ich mochte nicht wirklich viel reden und war froh, dass es viel zu tun gab und ich mit den Händen arbeiten konnte. Die physische Arbeit hat mir sicher geholfen, meine Gedanken etwas zu sortieren oder loszulassen. Ich kann sie nicht so richtig geniessen, die relative Unbeschwertheit des Dorflebens. Ich war erst ein paar Mal da, seit wir das Häuschen haben, und habe nur einmal hier übernachtet. Die meiste Zeit bin ich in Kiew und arbeite dort oder bin mit dem Kollektiv Livyj Bereh unterwegs, wenn sich die Gelegenheit ergibt.
Überhaupt war ich in der letzten Zeit nicht besonders sozial. Letzte Woche traf ich meinen Freund Tolik auf einen Kaffee und habe realisiert, dass wir uns fast einen Monat nicht gesehen haben. Irgendwie scheint sich unter meinen Freunden eine Art Apathie breitzumachen. Ich merke es daran, wie wenig wir uns untereinander austauschen. Wahrscheinlich hat es mit den unablässigen Angriffen Russlands zu tun, sie haben uns im Mai schon sehr zermürbt. Und nun auch noch die Situation im Süden, die sich schwer in Worte fassen lässt. Und so suchen wir alle etwas, das uns erlaubt, die Situation auszuhalten, weiterzumachen. Für mich ist es Bouldern. Ich bin sehr oft in der Halle, und vor zwei Wochen schaffte ich meinen ersten 6c-Boulder.
In der Woche nach der Vernissage reiste ich mit Ksenia von Livyj Bereh nach Cherson, in die Region Mykolajiw. Sie brachte 200 Luftmatratzen zu den Menschen, die in der Flut ihre Häuser verlassen mussten und nun in einem Nachbardorf provisorisch untergebracht waren. Ich war als zweiter Fahrer dabei, hatte aber auch ein bisschen Geld von den verkauften Prints und der Sonderedition des Buchs und wollte vor Ort herausfinden, wie ich dieses am sinnvollsten einsetzen kann. Wir waren sehr lange unterwegs, die Strasse war holprig und wir mussten ziemliche Umwege fahren. Zudem war das Auto etwas überladen mit all den Matratzen. Einen Teil der Strecke schlichen wir richtiggehend, bei 20 Kilometern pro Stunde.
Im Dorf Inhulets angekommen, erfuhren wir, dass es auch an Gas mangelte; die Gastanks der Bevölkerung waren allesamt leer. Wir fanden ein privates Gasunternehmen, das am nächsten Tag ins Dorf kommen konnte, um die 210 Tanks für die Menschen zu füllen. So kam mein Erlös von der Vernissage schon zum Einsatz, ich konnte einen Teil dieser Kosten übernehmen.
Es ist nicht möglich, die richtigen Worte zu finden, um die Situation dort zu beschreiben. Es ist entsetzlich – neben dem Elend für die Bevölkerung ist es auch ein ökologisches Desaster. Das Wasser ist mittlerweile aus den meisten Dörfern zurückgewichen und wir konnten das Ausmass der Verwüstung sehen. Es lässt einen verzweifeln. Die Gärten sind Sümpfe, das Wasser war teilweise höher als die Fenster der Häuser, da hat es nichts genützt, dass sie abgeklebt waren.
Wir besuchten einige Häuser und ihre Bewohner, die geblieben sind, um zu retten, was noch zu retten ist. Obwohl es unmöglich scheint, alles wieder trocken und bewohnbar zu machen, versuchen sie es. Sie glauben nicht daran, dass ihnen bald jemand helfen kann. «Kommt ihr auch zu mir?», fragte uns eine Bewohnerin, als sie sah, wie wir die Nachbarhäuser besuchten, um herauszufinden, was am dringendsten benötigt wird. Als wir ihr erklärten, dass wir leider nicht garantieren können, dass Hilfe bald kommt, und wir vor allem zu eruieren versuchen, wie diese aussehen sollte, sagte sie nur: «Das ist okay. Ich möchte einfach, dass ihr der Welt zeigt, wie es hier ausschaut.»
Der Anblick der auf diese Weise zerstörten Häuser ist schwer zu ertragen. Schwerer als zerbombte oder heruntergebrannte Häuser. In diesen Fällen hilft die Klarheit – das Haus ist zerstört und die Bewohner müssen anderswo von vorne anfangen. Aber nach einer Flut stehen die Häuser noch, schwer beschädigt, sie sind noch da und die Bewohnerinnen versuchen verzweifelt, sie zu retten und zu reparieren.
Was fast unmöglich ist. Viele der traditionellen Häuser sind aus Lehm und Stroh, und nachdem sie im Wasser gestanden haben, sind sie in einem mehr als desolaten Zustand. Hinzu kommt der Gestank des dreckigen Wassers, der über allem schwebt. Ich versuche gar nicht erst, ihn zu beschreiben. Alles ist damit imprägniert. Nach acht Monaten russischer Besatzung nun diese brutale Zerstörung ihrer Lebensgrundlage. Irgendwie geht es immer noch schlimmer. Es scheint nicht aufzuhören, bis unser Land ganz ruiniert ist.
Ausser wir schaffen es gemeinsam, diesen Wahnsinn vorher zu stoppen.
Lesha Berezovskiy arbeitet als freier Fotograf in Kiew. Er ist 1991 im ostukrainischen Bezirk Luhansk geboren. Als dort 2014 der Krieg ausbricht, zieht er in die Hauptstadt, wo er heute mit seiner Frau Agata lebt.
Leshas Fotoband «We Stay» dokumentiert sein Leben im ersten Jahr des Krieges in der Ukraine. Die Bilder dafür sind alle im Rahmen dieser Kolumne entstanden. Das Buch kann für 48 Franken bei der Republik bestellt werden.