Rückzugsorte
In Kiew erblüht erneut der Frühling und die nächtlichen Angriffe nehmen wieder zu. Das hält Leshas Frau Agata nicht davon ab, sich einen lang gehegten Wunsch zu erfüllen.
Von Lesha Berezovskiy (Text und Bilder) und Annette Keller (Bildredaktion und Übersetzung), 25.05.2023
Ich schreibe dieses Update wieder mal aus dem Wohnungseingang. Eigentlich wie vor einem Jahr. Was russische Attacken angeht, war der Mai bis jetzt nämlich recht intensiv. Es hat schon Ende April angefangen, als in Uman, einer Stadt gut 200 Kilometer südlich der Hauptstadt, ein Wohnhaus zerstört und 25 Menschen getötet wurden. Und seitdem wurden es immer mehr, mittlerweile erfolgen fast täglich Angriffe auf Kiew. Ich hatte gehofft, dass diese nach dem 9. Mai, dem Tag des Sieges, nachlassen würden. In der Nacht auf den 9. Mai hatte uns eine ungewohnt heftige Explosion aus dem Schlaf gerissen, sie muss sehr nahe gewesen sein. Seither ist über eine Woche vergangen und die Angriffe haben eher noch zugenommen. Immer wieder erwachen wir in den frühen Morgenstunden zu den Sirenen. Anfangs blieben wir liegen, aber als dem Alarm dann regelmässig laute Explosionen folgten, richteten wir wieder unser Nachtlager im Wohnungseingang ein. So läuft das nun fast jede Nacht. Wir gehen zu Bett, wachen irgendwann auf zu den Sirenen und ziehen um. Einmal schauten wir auf dem Weg vom Schlafzimmer ins Entrée aus dem Fenster und sahen ein Spektakel, wie wir es noch nie gesehen hatten. Dutzende Raketen und andere Dinge flogen rum, explodierten und fielen vom Himmel. Und das direkt über uns. Es sah aus wie in diesen Iron-Dome-Videos aus Israel. Mir fiel ein, wie wir kürzlich mit Freunden darüber sprachen, wie unsere Zukunft wohl aussehen wird. Weil uns klar ist, dass der Krieg nicht so schnell vorbei sein wird, können wir uns ein Szenario gut vorstellen, das der Situation in Israel nahekommt.
Der Mai – auch das habe ich schon vor einem Jahr geschrieben – ist meine liebste Zeit in Kiew. Die Stadt erblüht richtiggehend und ist wunderschön. Es gibt einen beliebten Park in Kiew, an der Stadtgrenze, mit vielen japanischen Kirschbäumen. Dieses Jahr war er noch populärer als sonst; da er eben etwas ausserhalb des Zentrums und nahe einer Haupteinfallstrasse zu Kiew liegt, wurden hier letzten Februar Schützengräben ausgehoben. Im Moment sind sie zum Glück unbenutzt, aber sie sind noch da, und der Kontrast zwischen den rosa leuchtenden Bäumen und den Gräben ist gewaltig. Viele Bewohnerinnen kommen her, um sich das anzusehen, Kinder spielen in den Schützengräben Krieg. Ich glaube, es hilft ihnen, besser damit klarzukommen, was mit uns passiert. Denn obwohl wir uns an die neue Realität gewöhnt haben – sie ist zuweilen immer noch unfassbar. Und wenn es für uns schon schwierig ist, wie muss es dann für Kinder sein? Ich habe kürzlich beobachtet, wie sie auf den Strassen Checkpoints nachgespielt haben, das ist mir ziemlich eingefahren.
Letzte Woche habe ich beim Kulturministerium die Ausreisebewilligung beantragt, um im Juni in die Schweiz reisen zu können. Eigentlich war ich zuversichtlich, denn unser Projekt hat ja schon eine gewisse Ausstrahlung und Bedeutung. Aber beeinflussen kann man ja dann die Person nicht, die das prüft. Und gestern erhielt ich leider die Nachricht, dass sie für die Bewilligung ein zusätzliches Papier vom Militär benötigen, das ich dort beantragen müsste. Das ist mir aber ein zu grosses Risiko. Denn es kann gut sein, dass sie mich, wenn ich dort aufkreuze, sofort für den Dienst an der Front einteilen – was ich natürlich akzeptieren würde. Auf jeden Fall bedeutet das, ich werde an der Buchvernissage im Juni virtuell anwesend sein. Immerhin.
Für Agata ist die Situation in Bezug auf Reisemöglichkeiten noch vertrackter. Die Anstrengungen, die sie und ihre Agentur unternommen haben, um ihr eine Arbeitsbewilligung im Ausland zu beschaffen, endeten jeweils in einer Sackgasse. Sie kann im Moment nicht ausreisen und somit auch nicht arbeiten. Auch nicht hier. Die lokalen Modeunternehmen kennen sie zwar gut und wissen um ihre Haltung zum Krieg, aber sie haben Angst vor der Reaktion in den sozialen Netzwerken. Vor den Hatern, die nicht verstehen können, warum ukrainische Brands mit einem russischen Model zusammenarbeiten. Dort, wo sie arbeiten könnte, lässt man sie nicht hin, und hier will man sie nicht. Sie ist ziemlich frustriert darüber, dass sie kein Geld verdienen kann, mit dem sie die Ukraine und vor allem Hilfsorganisationen unterstützen könnte. Gleichzeitig hört sie von den vielen Russinnen, die ihr Land verlassen, sich in Europa niederlassen und zum Krieg weiterhin den Mund halten. Das macht ihr ziemlich zu schaffen.
Aber es gibt auch gute Neuigkeiten. Nachdem sich Agata damit abgefunden hatte, dass ihr im Moment arbeitstechnisch die Hände gebunden sind, hat sie sich auf ein früheres Projekt besonnen: ein kleines Sommerhaus. Ein Traum von ihr, seit sie in die Ukraine gezogen ist, und seitdem hält sie danach Ausschau. Nun hat sie eines gefunden. Es ist klein, gemütlich und in zwei Stunden von Kiew aus zu erreichen. Im ersten Moment fand ich es unvorstellbar, in diesen Zeiten ein Haus zu kaufen. Zu all den anderen Sorgen, die uns umtreiben, ein Haus anschaffen? Aber eigentlich macht es total Sinn. Es gibt uns Boden unter den Füssen, und besonders Agata bietet es Halt in dieser ungewissen Zeit. Jedenfalls bin ich froh, hat sie diese Entscheidung getroffen, und ich unterstütze sie dabei, so gut ich kann. Es ist im Übrigen auch keine teure oder extravagante Anschaffung, das Häuschen war günstiger als das Auto, das ich fürs Militär gekauft habe. Ein guter Deal. Natürlich braucht es noch viel Arbeit und Pflege, aber Agata hat nicht nur das Talent, sondern auch die Zeit, daraus einen willkommenen Rückzugsort zu machen. Ich freue mich für sie.
Die Vernissage zu Leshas Buch findet am 9. Juni in Zürich statt. Der Anlass ist öffentlich.