Verheerender Dammbruch in der Ukraine, tödliche Proteste in Senegal und in Österreich zieht die SPÖ nach links
Woche 23/2023 – das Nachrichtenbriefing aus der Republik-Redaktion.
Von Reto Aschwanden, Ronja Beck, Angela Gross und Timo Kollbrunner, 09.06.2023
Ukraine: Nach Bomben nun auch noch Wasser
Der Dammbruch: Am Dienstag wurde der Kachowka-Staudamm in der russisch besetzten Region Cherson im Süden der Ukraine schwer beschädigt. Russland und die Ukraine schieben sich die Verantwortung gegenseitig zu. Der ukrainische Präsident Selenski erklärte: «Das ist die grösste menschengemachte Umweltkatastrophe in Europa seit Jahrzehnten.» Die deutsche Aussenministerin Annalena Baerbock, Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg wie auch EU-Ratspräsident Charles Michel machten den russischen Angriffskrieg für den Dammbruch verantwortlich.
Der Pegel stand vor dem Bruch auf einem Rekordhoch, hinter dem Damm dürften sich 18 Kubikkilometer Wasser angesammelt haben. Zum Vergleich: Der Bodensee fasst maximal 48 Kubikkilometer. Entsprechend gross sind die Schäden, die das Wasser nun auf seinem Weg den Dnipro entlang zum Schwarzen Meer anrichtet. Die Stadt Cherson und Dutzende weitere Ortschaften sowohl am rechten, ukrainisch kontrollierten, wie auch am linken, von Russland besetzten Flussufer wurden überflutet. Tausende wurden evakuiert. Mehrere hunderttausend Menschen haben keinen Zugang zu sauberem Trinkwasser. Die ukrainischen Behörden befürchten, dass sich durch das Hochwasser Krankheiten und Seuchen ausbreiten könnten.
Die ökologischen und wirtschaftlichen Folgen sind schwer abschätzbar. Aber die Verheerungen werden immens sein. In einem ebenfalls zerstörten Kraftwerk beim Damm lagerten 150 Tonnen Öl, die wohl von den Fluten flussabwärts geschwemmt wurden. Aus Fabriken an den Ufern dürften Chemikalien ins Wasser gelangen und Fische, Vögel und andere Tiere gefährden. Der Stausee hatte rund eine halbe Million Hektaren Ackerland mit Wasser versorgt. Das AKW Saporischschja braucht zur Kühlung seiner Reaktoren Wasser aus dem Dnipro, das mittelfristig fehlen könnte. Auch Russland wird die Folgen zu spüren bekommen, denn aus dem Stausee wurde auch ein Kanal gespeist, der die annektierte Halbinsel Krim mit Wasser versorgt.
Klar ist: Der Damm ist so schwer beschädigt, dass er nicht mehr zu reparieren sein wird. Zumindest in dieser Einschätzung sind sich Russland und die Ukraine einig.
Das Kriegsgeschehen: Der Dammbruch hat auch Konsequenzen für die ukrainische Gegenoffensive. Die Überflutungen erschweren das Vorrücken über den Dnipro. Trotzdem gab es diese Woche im Süden und Osten Angriffe auf russische Stellungen. Dabei kamen offenbar auch erstmals westliche Panzer wie der deutsche Leopard 2 zum Einsatz. Fachleute gehen davon aus, dass diese Angriffe aber erst der Auftakt zur lange erwarteten grossen Gegenoffensive sind.
In der Nähe von Bachmut sind ukrainische Streitkräfte in Richtung der besetzten Stadt vorgerückt. Der Chef der Gruppe Wagner, Jewgeni Prigoschin, bestätigte Geländegewinne der Ukraine.
In der Gegend von Belgorod griffen rechtsextreme russische Freischärler erneut mehrere Dörfer mit Mörsergranaten und Raketen an. Angeblich wurden auch einzelne Orte auf russischem Gebiet eingenommen. Dabei sollen sie Waffen nutzen, die ihnen von der Ukraine zur Verfügung gestellt werden. Die ukrainische Regierung bestreitet eine direkte Beteiligung.
Russland setzte derweil seine Luftangriffe auf ukrainische Städte fort. Im ganzen Land herrschte zeitweise Luftalarm. In einem Vorort der Grossstadt Dnipro wurde ein Wohnhaus zerstört, es gab zahlreiche Verletzte.
Österreich: Eine Chaoswahl rückt die SPÖ nach links
Darum geht es: Hans Peter Doskozil ist neuer Chef der Sozialdemokratischen Partei Österreichs (SPÖ). So teilte es die Partei letzte Woche am Samstag mit. Am Montag folgte dann die peinliche Richtigstellung: Die Stimmenzahlen waren in einer Exceltabelle vertauscht worden. Der neue Parteichef heisst nicht Doskozil, sondern Andreas Babler. Für die Oppositionspartei bedeutet das einen grossen Imageschaden – und einen deutlichen Linksruck.
Warum das wichtig ist: In der SPÖ brodelt schon länger ein Streit um Vorsitz und Ausrichtung der Partei. Vor einem Monat spitzte sich der Machtkampf zu und die Parteivorsitzende Pamela Rendi-Wagner gab ihren Rücktritt bekannt. Der eher konservative Doskozil stieg als Favorit ins Nachfolgerennen, verlor aber gegen den deutlich linkeren Konkurrenten Andreas Babler. Der frühere Maschinenschlosser und heutige Bürgermeister einer Kleinstadt in der Nähe von Wien verkörpert als volksnaher Mann aus der Arbeiterschaft eine Alternative zum politischen Establishment. Sein Programm unter dem Slogan «Politik von unten machen!» kommt namentlich bei den Gewerkschaften sowie Frauen und jungen Parteiangehörigen gut an.
Was als Nächstes geschieht: Babler sprach nach der Wahlpanne von einem «Tiefpunkt» für die SPÖ. Auch in Umfragen steht die Partei schlecht da. Würde heute gewählt, wäre die rechtsextreme FPÖ die stärkste Partei in Österreich. Eine Rechts-ultrarechts-Koalition nach den Wahlen 2024 ist nicht ausgeschlossen. Als Parteichef gilt Babler auch als Spitzenkandidat für das Bundeskanzleramt. Er signalisierte bereits, dass er eine Koalition mit der ÖVP ablehnen würde.
Senegal: Mehrere Tote nach Protesten
Darum geht es: In Senegal sind letzte Woche bei Unruhen in der Hauptstadt Dakar mindestens 15 Menschen ums Leben gekommen, Hunderte wurden verletzt. Grund für die Unruhen ist ein Urteil gegen den Oppositionsführer Ousmane Sonko. Seine Anhänger sind überzeugt, dass der Prozess gegen ihn politisch motiviert war, um seine Kandidatur für die Präsidentschaftswahlen im Februar 2024 zu verhindern. Sonko gilt als grösster Herausforderer für den amtierenden Präsidenten Macky Sall.
Warum das wichtig ist: Letzte Woche wurde Sonko zu zwei Jahren Haft und einer Geldbusse verurteilt. Auslöser war die Anzeige einer jungen Frau, die Sonko vorwirft, er habe sie mehrmals vergewaltigt und Todesdrohungen gegen sie ausgesprochen. Bereits bei der Anklageerhebung gegen Sonko vor zwei Jahren hatte es Proteste und Tote gegeben. Nachdem das Gericht nun das Urteil wegen «Verführung der Jugend» verkündet hatte, kam es auf den Strassen Senegals zu heftigen Protesten: In der Hauptstadt Dakar attackierten Studierende Einsatzkräfte mit Steinen, Demonstranten zündeten Autos an, Geschäfte und öffentliche Gebäude wurden geplündert. Menschenrechtsgruppen kritisierten, dass die Sicherheitskräfte übermässige Gewalt angewendet hätten. Auch im Ausland kam es zu gewaltsamen Angriffen. Deshalb liess die Regierung mehrere Konsulate vorübergehend schliessen. Die Regierung macht «ausländische Kräfte» für die Proteste verantwortlich und sperrte am Wochenende den Zugang zum Internet vorübergehend.
Was als Nächstes geschieht: Lange Zeit zählte Senegal zu den stabilen Ländern in Westafrika. Die jüngsten Ereignisse dürften nun die Wirtschaft beeinträchtigen. Seit gut einer Woche sind die Banken geschlossen, Millionen von Menschen haben ihre Löhne nicht erhalten. Die Lage bleibt angespannt. Weitere Unruhen sind nicht ausgeschlossen.
Zum Schluss: Bibelbann im Mormonenland
Wer sich schon mal durchs Alte Testament gequält hat, weiss: Die Storys sind manchmal ganz schön pfeffrig – zum Beispiel die Geschichte von Lot. Als der sündigen Stadt Sodom die Zerstörung droht, flieht er mit seinen zwei Töchtern in die Berge. Weil es dort an Männern fehlt, machen ihn seine Töchter betrunken, es kommt zum Geschlechtsverkehr und der doppelte Glückspilz Lot wird Vater und Grossvater zugleich. Für einen Schulbezirk in Utah ist das zu viel. Wegen «anstössiger und gewaltsamer Inhalte» landet die Bibel in Grund- und Mittelschulen nun auf dem Index und gesellt sich in diesem US-Bundesstaat damit zu Büchern von Toni Morrison oder Margaret Atwood. Gestützt auf ein neues Gesetz lassen sich seit 2022 Bücher mit «pornografischen oder unanständigen» Inhalten aus Schulbibliotheken und Klassenzimmern verbannen. Als Protestmassnahme gegen diese Regelung beantragte ein Elternpaar daraufhin die Verbannung der Bibel aus den Schulen. In Utah. Wo über 60 Prozent der Bevölkerung den Mormonen angehören. Das Elternpaar bekam recht. Eine Wendung, wie man sie wohl nicht mal in der Bibel findet.
Was sonst noch wichtig war
Polen: Am Sonntag haben in Warschau mehrere hunderttausend Menschen gegen die Regierung demonstriert. Auslöser war ein neues Gesetz, mit dem missliebige Kandidaten von Wahlen ausgeschlossen werden könnten. Gegenwind erfährt die Regierung auch aus der EU. Der Europäische Gerichtshof hat in einem abschliessenden Urteil entschieden, dass die polnische Justizreform gegen EU-Recht verstösst.
Italien: Der Schweizer Unternehmer Stephan Schmidheiny ist wegen fahrlässiger Tötung von 147 Menschen zu zwölf Jahren Gefängnis verurteilt worden. Die Leute waren an den Folgen von Kontakt mit Asbest gestorben. Die Verteidigung will in Berufung gehen.
Indien: Bei einem schweren Zugunglück sind mindestens 270 Menschen gestorben, fast 1000 wurden verletzt. Laut offiziellen Angaben führte ein Fehler im Signalsystem dazu, dass insgesamt drei Züge zusammenstiessen und entgleisten.
USA: Mike Pence hat seine Kandidatur für die Präsidentschaft bekannt gegeben. Damit tritt er in Konkurrenz zu Donald Trump, unter dem er als Vize amtete.
Fifa: Der Weltfussballverband hat zu Unrecht damit geworben, die WM in Katar sei CO2-neutral. Die Schweizer Lauterkeitskommission hat entschieden, dass die Angaben der Fifa irreführend gewesen seien.
Die Top-Storys
Backstage bei Rammstein Seit gut einer Woche machen Vorwürfe gegen Rammstein-Sänger Till Lindemann die Runde. Es geht um Ausbeutung, K.-o.-Tropfen und sexuellen Missbrauch. Die anschaulichste Schilderung eines Systems, das allem Anschein nach einem alternden Rockstar junge Frauen zuführt, gibt es in einem Video der Youtuberin Kayla Shyx, die 2022 als 20-Jährige selbst «ausgesucht» worden war, um Lindemann zur Verfügung zu stehen.
In trüben Wassern 40 Tage benötigte Yvette Yaa Konadu Tetteh, um 450 Kilometer des Volta-Flusses in Ghana abzuschwimmen. Damit wollte sie auf die Gewässerverschmutzung aufmerksam machen – und auf eine der Hauptursachen dafür: Unmengen von schlechten Secondhand-Kleidern aus dem Norden, die in Ghana auf illegalen Deponien landen. Der «Guardian» hat die aktivistische Schwimmerin getroffen.
Russlands dunkle Flotte Ein russischer Tanker sendet Positionsdaten, wonach er in der Nähe von Japan unterwegs ist. Tatsächlich aber lädt er gerade Öl in einem russischen Hafen. Die «New York Times» zeichnet mit animierten Grafiken und Satellitenbildern nach, wie eine «dunkle Flotte» mit einer Methode, die als Spoofing bekannt ist, westliche Sanktionen gegen Russland umgeht.
Illustration: Till Lauer