Eine Velofahrt in die Vororte von Kiew offenbart die Zerstörung.

Leben in Trümmern

Neue Realität

Fotograf Lesha steigt aufs Velo und erkundet die Gegend. Was er dabei sieht, macht ihn nach­denklich. Der Alltag steckt voller Heraus­forderungen, von der Zukunft kann er derzeit nur träumen.

Von Lesha Berezovskiy (Text und Bilder) und Annette Keller (Übersetzung und Bildredaktion), 06.05.2022

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Synthetische Stimme
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Der Frühling ist auch dieses Jahr gekommen, kurz nach Ostern. Innerhalb einer Woche war alles grün. Frühling ist die schönste und meine liebste Jahreszeit in Kiew. Deshalb haben wir dann auch oft Besuch aus dem Ausland, wir empfehlen unseren Freunden dafür stets den Mai.

Offensichtlich ist das dieses Jahr anders. Es ist sehr seltsam. Wir gehen raus und sehen Menschen, die Dinge tun, die sie normaler­weise auch tun würden. Sie treffen sich, sitzen gemeinsam draussen, gehen joggen, Fahrrad fahren oder mit ihren Hunden spazieren. Scheinbar alles wie immer – aber eben doch überhaupt nicht. Man weiss nie, wann und wo die nächsten Bomben einschlagen werden.

Letzte Woche traf es die Gegend, in der ich die ersten vier Jahre meiner Zeit in Kiew verbracht habe, gerade einmal 500 Meter von meiner ehemaligen Wohnung entfernt. Mein Freund Vitaliy lebt immer noch dort – glücklicher­weise haben die Druck­wellen der Explosion sein Gebäude nicht erreicht. Ein anderer Freund befand sich gerade in der Nähe, als es geschah. Er stammt von der Krim, und von dort kamen auch die Bomben. Das ist schon zynisch, nicht? Auch ihm ist zum Glück nichts passiert.

Die Spuren des Krieges im Kontrast zum Aufblühen des Frühlings.

Letzte Woche nahm ich das erste Mal wieder die Metro und war erstaunt: Sie war voller, als ich erwartet hatte. Vermutlich liegt das auch daran, dass sie nicht so regelmässig fährt wie früher. Es werden nicht alle Haltestellen bedient, einige sind weiterhin geschlossen. Auch dieses eine Fotolabor, das noch Filme entwickelt, hat seinen Betrieb wieder aufgenommen. Ich habe ihnen ein paar Filme vorbei­gebracht.

Mit meinem Freund Tolik unternehme ich eine Fahrrad­tour. Wir radeln durch Hostomel und Irpin. Ich mache auf diesem Ausflug nicht viele Bilder, irgendwie haben wir dieses Mal die Nerven nicht, uns anzuschauen, was die Russen hier angerichtet haben. Ich muss immer noch verdauen, was wir in Tschernihiw und Umgebung gesehen und erfahren haben. Gemäss den Informationen, die ich online gelesen habe, soll es hier nicht anders sein. Das verkrafte ich gerade nicht.

Einige Erdöllager rund um Kiew wurden von den Russen getroffen und zerstört, was zu einem Engpass beim Benzin führt. Weil viele Menschen nach Kiew zurück­gekehrt sind, ist der Bedarf wieder gestiegen. Vor den Tankstellen, die noch Benzin haben, bilden sich lange Schlangen. Man wartet eine bis zwei Stunden und bekommt dann nur zehn Liter. Für eine Kurier­fahrt in die Vororte mit Essen und Medikamenten bedeutet das zusätzliche vier bis fünf Stunden Aufwand. Wir hoffen, dass sich die Situation in einer Woche entspannt. Bis dahin mache ich kürzere Touren und beliefere vor allem die nähere Nachbarschaft. Es gibt immer etwas zu tun.

Die Farben kehren zurück.
Die Zerstörung immer vor Augen.
Licht und Schatten.

Ich versuche, mich mit dieser neuen Realität so gut es geht zu arrangieren und sie irgendwie zu strukturieren. Die Freiwilligen­einsätze, Arbeit und Sport über die Tage einzuteilen. Bis jetzt war alles eher zufällig und verschwamm zu einem diffusen Alltag, oft weiss ich nicht einmal, welcher Wochentag gerade ist.

Zurzeit ist es nicht möglich, über die nächste Woche hinaus zu planen. Schön wäre es, und ich sehne mich danach, eines Tages wieder grosse Pläne machen zu können – in einer freien Ukraine mit ihren ursprünglichen Grenzen. Wir hoffen alle sehr, dass die Waffen­lieferungen aus dem Westen unsere Streit­kräfte bald erreichen, damit wir unsere Gebiete verteidigen können. Meine Befürchtung ist aber, dass sich die Situation im Osten und Süden wieder festfährt wie vor acht Jahren. Aber im Moment ist es nicht mehr als das: eine Befürchtung. Denn vieles deutet auch darauf hin, dass dieser Krieg nicht so enden wird. Die Russen waren bislang nicht sonderlich erfolgreich und der Westen gleichzeitig offener, die Ukraine mit Waffen zu unterstützen.

In meinen Träumen besuche ich oft meine Heimat­orte. Einer ist in der Region von Luhansk, da bin ich geboren und dort leben auch meine Gross­eltern immer noch. Der andere ist in der Region von Donezk, da bin ich aufgewachsen, in Jenakijewe. Das ist eine Industrie­stadt wie Torezk, aber grösser, geprägt von den vielen Kohle­minen und Fabriken. Jenakijewe wurde 2014 besetzt. Seither warte und hoffe ich, dass ich eines Tages wieder hinreisen kann.

Zum Fotografen

Lesha Berezovskiy arbeitet als freier Fotograf in Kiew. Er ist 1991 im ostukrainischen Bezirk Luhansk geboren. Als dort 2014 der Krieg ausbricht, zieht er in die Hauptstadt, wo er heute mit seiner Frau Agata lebt.