Die allerbesten Nachrichten
Die Feuerwehr befreit ein Kätzchen aus dem Pepsi-Automaten, oder: Wir googeln uns die Welt schön. Frohes neues Jahr!
Von Simon Schmid, 31.12.2022
Schlechte Laune ist doof. Darum blenden wir am Jahreswechsel alles Negative aus. Und fokussieren, wie immer an diesem Datum, ganz auf das Positive.
Nur: Was ist 2022 überhaupt Gutes passiert?
Gar nicht so leicht, darauf Antworten zu finden. Krieg, Energienotstand, Inflation, Flutkatastrophen – das ist die Art von Dingen, die 2022 Schlagzeilen gemacht haben. Nach einem solchen Jahr eine waschechte Good-News-Story zu schreiben, grenzt an eine unmögliche Mission.
Wir probieren es trotzdem. Und halten uns dabei an zwei Leitsätze:
Optimismus ist Ansichtssache: Es kommt darauf an, wie man Nachrichten interpretiert und ins Weltgeschehen einordnet.
Optimismus ist eine Praxis: Es kommt nicht darauf an, wie zahlreich die guten Nachrichten sind – Hauptsache, man liest sie.
Und so präsentieren wir Ihnen zum Silvester zwar nicht die perfekte Welt. Aber doch den ernsthaften Versuch, den vergangenen zwölf Monaten – und zwar jedem einzelnen von ihnen – einen positiven Gedanken abzugewinnen.
Januar
Die Aufzählung beginnt mit dem fünfzehnten Buchstaben im griechischen Alphabet: Omikron. Er steht für die Coronavirus-Variante, die Anfang 2022 dominant wird. Sie bringt das Ende der Pandemie, wie wir sie kannten.
Viele Leute stecken sich an, wenige sterben: Das ist ein Deal, auf den sich die Menschen und Sars-CoV-2 nun rasch einigen können – zumindest in den westlichen Ländern, wo schon viele Leute geimpft sind, was wiederum hilft, die Opferzahlen niedrig zu halten. (In China liegt der Fall allerdings anders: Dort sind im Zuge der Lockerungen aktuell viele Corona-Tote zu beklagen, weil die Regierung nie auf die effektiveren westlichen Impfstoffe gesetzt hat.)
Geschlossene Restaurants, in letzter Minute abgesagte Familienfeiern, Restriktionen beim Reisen: All das ist in den meisten Ländern passé. Nach zwei sehr schlimmen Covid-Saisons ist das doch äusserst angenehm.
Februar
Russland marschiert in der Ukraine ein. Das ist zugegebenermassen eine Horrornachricht, die vieles überschattet, was im letzten Jahr passiert ist.
Immerhin: Die westliche Welt reagiert mit einer Geschlossenheit, die man so nicht erwartet hätte. Wenige Tage nach Beginn der Invasion werden die Reserven der russischen Zentralbank eingefroren. Viele Firmen ziehen sich aus Russland zurück. Finanzbehörden machen Jagd auf die Vermögenswerte von Kreml-nahen Oligarchen. Sukzessive werden Beschlüsse verschärft, um von Erdöl und von Gas aus russischen Quellen wegzukommen. Und die Ukraine wird mit Waffen beliefert, damit sie sich besser verteidigen kann.
Der ukrainischen Armee gelingt es derweil, den Worst Case abzuwenden: Kiew, die Hauptstadt, hält dem Angriff stand. Gemessen an den Erwartungen, die viele Regierungen inklusive der russischen hatten – sie dachten, die Ukraine würde nach wenigen Tagen kapitulieren –, ist das ein kleines Wunder. Und für Russlands Armee ist es der Anfang einer Serie von Rückschlägen, wie sich im weiteren Jahresverlauf herausstellen wird.
Sicher: Man kann argumentieren, dass der Westen die Ukraine militärisch noch viel stärker hätte unterstützen sollen, um ein schnelleres Kriegsende herbeizuführen. Doch zumindest aus russischer Perspektive ist die Bilanz ohnehin offensichtlich: Der Überfall auf die Ukraine ist ein einziges Fiasko.
Mit beträchtlichem Abschreckungseffekt für Länder mit ähnlichen Ideen.
März
Die Gesamtleistung aller weltweiten Solarpanels übersteigt 1 Terawatt: Diese Meldung macht Ende März die Runde. Die Zahl hat per se keine besondere technische oder ökonomische Bedeutung, und je nach Datenquelle ist auch etwas unklar, wann diese Schwelle genau überschritten wird. Doch der Trend ist eindeutig: Immer mehr Produktionsanlagen für erneuerbare Energien werden rund um den Globus gebaut, und dies in immer schnellerem Tempo.
Der Russland-Ukraine-Krieg beschleunigt den Solar- und Windkraftboom zusätzlich. Weitere 2,4 Terawatt an Kapazität dürften in den kommenden fünf Jahren hinzukommen, schätzt die Internationale Energieagentur in einem Bericht vom Dezember 2022. Das entspricht ungefähr der heutigen Leistung sämtlicher Kraftwerke in China. Und es liegt fast ein Drittel über den Schätzungen, welche die Energieagentur im Jahr davor gemacht hatte.
April
Ein Franzose gewinnt 200 Millionen Euro im Lotto und spendet den Gewinn, um eine gemeinnützige Stiftung zu gründen: für den Schutz von Wäldern, für den Erhalt der Biodiversität und für kranke Menschen und deren Familien.
Er habe niemals davon geträumt, Schiffe, Schlösser oder Sportwagen zu besitzen, gibt der Rentner in seinem Stifterbrief zu Protokoll. Sondern er wolle einfach das Gemeinwohl fördern, «das Lebendige schützen».
Es gibt also auf der Welt nicht nur Finanzbetrüger, die Altruismus vorgaukeln. Nein, es gibt auch Leute, die tatsächlich Altruisten sind.
Davon profitiert jetzt eine Handvoll von Umweltorganisationen, die bereits Geld aus der Stiftung des anonymen Lottogewinners erhalten haben.
Mai
Meine Tochter ist einjährig geworden. Und sie ist kerngesund. Sie geht gerne in die Kita, hat Freude am Essen (ihr erstes Wort: «heiss») und versteckt sich hinter dem Wohnzimmervorhang, wenn sie nicht gewickelt werden will.
Ja, natürlich ist das jetzt ein Stilbruch: plötzlich diese Ich-Form. Und warum sollten Sie sich ausgerechnet mit mir über meine Tochter freuen?
Nun, das müssen Sie gar nicht unbedingt. Ich hoffe einfach, dass es für Sie auch etwas gibt, das im vergangenen Jahr ein Grund zur Freude war. Ein persönlicher Erfolg, eine besondere Begegnung, ein spezielles Erlebnis, oder schlicht so etwas wie ein Geburtstag: ein Anlass, den Sie allein deshalb gefeiert haben, weil ein lieber Mensch in Ihrem Umfeld am Leben ist.
99,6 Prozent aller neugeborenen Kinder überstehen in der Schweiz übrigens das erste Lebensjahr – das ist erfreulich. Weltweit sind es 97,3 Prozent – das ist deutlich mehr als vor zwanzig Jahren, damals waren es erst 94,7 Prozent.
Juni
In den Vereinigten Staaten wird Ketanji Brown Jackson als erste schwarze Richterin am Obersten Gerichtshof vereidigt. Dass seit der Gründung dieser Institution 233 Jahre verstreichen mussten, bis es dazu kommt, ist schlimm.
Dass es nun endlich geschieht, ist ein gutes Signal. Aber man darf sich nichts vormachen: Gleichstellung ist ein Prozess, der lange dauert – und in den meisten Ländern, bei den meisten Themen noch nicht abgeschlossen ist.
Dazu ein paar zufällig herausgepickte Statistiken:
Schwarze sind unter den US-Anwälten immer noch unterrepräsentiert. Und über die vergangenen zehn Jahre hat sich dies kaum verändert.
Bei den Frauen ist der Trend besser. Ihr Anteil hat sich über die letzten Jahrzehnte hinweg deutlich erhöht, auch bei den Richterinnen.
Auch in der Schweiz sind die weiblichen Richter in der Minderzahl, gerade an oberen Instanzen. Auch hierzulande haben sie aber aufgeholt.
Wie gesagt: Optimismus ist Ansichtssache – Sie entscheiden selbst, wie Sie das einordnen wollen. Dieser Text ist bloss ein Angebot, die Dinge nicht ganz so negativ zu sehen. Dafür bleibt die nächsten 365 Tage noch genug Zeit.
Juli
Ein Eichhörnchen schenkt einem anderen eine Blume! Ist das nicht süss?
Dieses Bild ist tatsächlich echt. Geert Weggen, ein niederländisch-schwedischer Fotograf, hat es geschossen. Entdeckt haben wir es über das «Good News Magazin».
Das Bild steht sinnbildlich fürs Jahr 2022: dafür, dass auch hartnäckiges Googeln für gewisse Monate keine guten Nachrichten zutage fördert. Ausser der netten Meldung natürlich, dass im Juli ein Pilot einer sechsjährigen Passagierin eine Quittung für einen Zahn ausstellt, den sie an Bord verloren hat, damit sie diese bei der Zahnfee gegen ein Geschenk eintauschen kann.
August
Zurück zu ernsthaften Dingen. Der Spätsommer bringt gute hard news: US-Präsident Joe Biden unterzeichnet den «Inflation Reduction Act», das bisher ambitionierteste Klimagesetz der USA. Über die kommenden Jahre wird der Staat Hunderte von Milliarden Dollar in die Produktion von erneuerbaren Energien, in elektrische Autos, in saubere Schulbusse und Müllabfuhrwagen, in eine klimafreundlichere Landwirtschaft, in den Umweltschutz pumpen.
Das soll dazu beitragen, dass die Treibhausgasemissionen bis Ende des Jahrzehnts gegenüber dem Niveau von 2005 um 40 Prozent fallen. Damit befänden sich die USA laut dem Climate Action Tracker, einem Konsortium von Wissenschaftlerinnen, ungefähr auf einem 2-Grad-Kurs. Dieses Ziel sei zwar noch immer erst «knapp genügend», und die Klimapolitik der USA bleibe insgesamt immer noch «ungenügend». Aber im Vergleich zur «bedenklich ungenügenden» Politik von Donald Trump wäre es trotzdem ein Fortschritt.
September
Festhalten, bitte: Für den September haben wir gleich vier gute Nachrichten.
Forscher haben eine neue Impfung gegen Malaria entwickelt. Das Vakzin wirkt gemäss Studie zu 80 Prozent und ist günstig. Vereinbarungen über die Herstellung von 100 Millionen Dosen sind bereits unter Dach und Fach. An Malaria erkranken jedes Jahr über 200 Millionen Menschen. Die Krankheit verursacht Fieber, Schüttelfrost, Kopf- und Muskelschmerzen und führt in schlimmen Fällen zu Krämpfen, Koma und Tod. Besonders für Menschen in Afrika wäre ein wirksamer Malariaschutz ein echter Segen.
Die Affenpocken sind auf dem Rückzug. Seit Frühsommer hatten sich immer mehr Menschen mit dem Virus infiziert. Doch ab Ende August sinken die Ansteckungen rapide. Die Gründe: eine Impfung und Verhaltensänderungen, primär unter homosexuellen Männern.
Die ukrainische Armee führt eine Offensive in der Region Charkiw durch. Sie erobert ein Gebiet von 8500 Quadratkilometern zurück. Zum Vergleich: Das ist fast so gross wie die französischsprachige Schweiz.
Im Iran demonstriert die Bevölkerung: gegen die Regierung im Allgemeinen und gegen die Diskriminierung von Frauen im Besonderen. Auslöser ist der durch Polizeigewalt herbeigeführte Tod einer jungen Frau. Die Proteste halten bis heute an.
Oktober
Pierre Castel, ein französischer Weinhändler und Milliardär, wird von einem Genfer Gericht zu einer Steuernachzahlung über 415 Millionen Franken verurteilt. Castel hatte über Jahre hinweg gegenüber dem Fiskus falsche Angaben gemacht und seine Anteile an einem verzweigten Firmenimperium über Stiftungen in Liechtenstein verschleiert. Das Urteil ist ein Erfolg für die Schweizer Steuerbehörden, die seit 2017 gegen Castel ermittelt hatten.
Wie viel Geld in der Schweiz insgesamt vor dem Fiskus versteckt wird, weiss man nicht genau. In einem Postulat forderte die SP den Bundesrat vor einem Jahr auf, dazu einen Bericht zu erstellen. Die Regierung lehnt dies ab mit der Begründung, dass dank dem automatischen Informationsaustausch und der Möglichkeit zur straflosen Selbstanzeige, die es seit 2010 gibt, bereits viele Fortschritte auf diesem Gebiet gemacht worden seien. Na ja.
November
An den amerikanischen midterms schneiden die Demokratinnen überraschend gut ab. Präsident Joe Bidens Partei verteidigt ihre Mehrheit im Senat und verliert im Repräsentantenhaus weniger Sitze, als im Vorfeld erwartet wurde.
Die Republikanerinnen bleiben dagegen unter den Erwartungen. Besonders die Kandidaten, die Ex-Präsident Donald Trump nahestehen, schneiden schlecht ab: Sie gehen in wichtigen swing states als Verlierer vom Platz.
Damit bestätigt sich, worauf Strateginnen der Demokratischen Partei schon länger gewettet haben: Trump ist für die Republikaner zur politischen Hypothek geworden. «Make America Great Again» ist weder landesweit noch in vielen der amerikanischen Bundesstaaten mehrheitsfähig.
Hat der Rechtspopulismus seinen Zenit überschritten?
Für eine Entwarnung ist es sicher zu früh. Immerhin: Auch in Brasilien kommt es im Herbst 2022 zum Umschwung, Jair Bolsonaro wird abgewählt.
Dezember
Mindestens 30 Prozent der weltweiten Land- und Meeresflächen sollen bis 2030 unter Schutz stehen. Darauf haben sich die Teilnehmerländer am Weltnaturgipfel in Montreal geeinigt. Nach der eher enttäuschenden Klimakonferenz von Sharm al-Sheikh bringt damit immerhin ein grosses Zusammentreffen für den Umweltschutz die erhofften Resultate – im Saal bricht Jubel aus, als die Abschlusserklärung verabschiedet wird. Ein weiterer Beschluss sieht vor, dass der Einsatz von Pestiziden bis 2030 halbiert wird.
Sicher: Vorerst sind das nur Ziele. Wie sie konkret erreicht werden sollen, ist weitgehend offen. Und was die Folgen sind, wenn sie verfehlt werden, auch.
Aber hey, es ist der 31. Dezember. Und an diesem Datum darf man auch einfach mal zuversichtlich sein, dass es am Morgen schon irgendwie gut kommt.
Happy New Year!
In einer früheren Version haben wir in einer Grafik von «Gigawattstunden» geschrieben, richtig ist «Gigawatt». Die Stelle ist korrigiert, besten Dank für den Hinweis aus der Verlegerschaft.