Trump liegt falsch
Donald Trump verbreitete die Idee, Sars-CoV-2 sei aus einem Labor gekommen, Wissenschaftler hielten dagegen. Ich auch. Leider auch aus zweifelhaften Gründen. Serie zu einem Jahr ohne Gewissheiten.
Von Marie-José Kolly (Text), Taiyo Onorato und Nico Krebs (Bild), 16.12.2022
Es war der Frühling 2020, in der Schweiz sass man im Homeoffice und ging spazieren, anderswo durften Menschen nicht mehr aus ihrer Wohnung. Viele fragten sich, ob ihre Liebsten lebend aus der Intensivstation entlassen werden würden.
Wer war schuld?
Klar, das Virus.
Aber wer war schuld am Virus?
Der damalige amerikanische Präsident Donald Trump nannte es «China-Virus», sein Aussenminister Mike Pompeo «Wuhan-Virus», gemeint war dasselbe: Die Chinesen waren schuld. Auf der ganzen Welt (und ja, auch in der Schweiz) wurden Asiatinnen beschimpft und belästigt, weil sie oder ihre Verwandten oder einfach Menschen, die ebenfalls aus dem asiatischen Raum stammen, angeblich Fledermaussuppe gegessen hatten. Und dabei irgendwie das Fledermausvirus geschluckt und in die Welt geschleudert hatten.
Die Geschichte mit der Fledermaussuppe war zwar bald als althergebrachte rassistische Erzählung entlarvt und entkräftet. Dennoch schien klar: Das neue Virus kam vom Tier. So wie viele Viren vor ihm. Denn der Mensch rückt immer weiter in die Lebensräume von Wildtieren vor, holt Wildtiere immer näher an seinen Lebensraum heran. Wildtier, Mensch und domestiziertes Tier kommen einander zu nah. Zum Beispiel am Wildtiermarkt von Wuhan, der Stadt, in der sich die ersten Coronavirus-Fälle häuften.
Sars-CoV-2 war also da, weil wir die Natur aufessen, bedrängen, zerstören. Es war das Resultat menschlicher Hybris. Schuld waren wir irgendwie alle.
Aber in der Stadt mit den ersten Fällen ist nicht nur ein Wildtiermarkt, da ist auch ein berühmtes, hoch gesichertes Virologielabor. Das heisst: Dort wird an potenziell gefährlichen Krankheitserregern gearbeitet. Damit fand eine andere Hypothese ihren Weg ins Internet: Sars-CoV-2 könnte im Labor seinen Ursprung haben, wo ein Fledermausvirus erforscht und vielleicht bearbeitet worden war und so ansteckender oder tödlicher wurde. Und dann könnte es entwischt sein, versehentlich. Oder entlassen worden sein, absichtlich.
In Europa ist Krieg. In den USA verlieren Frauen das Grundrecht auf Abtreibung. Die Teuerung spielt verrückt. Die Energie wird knapp. 2022 hat viele scheinbare Gewissheiten auf die Probe gestellt. Auch bei der Republik-Crew.
Im Format «Ich hab mich getäuscht» erzählen wir Ihnen davon. Und vielleicht finden Sie sich in der einen oder anderen Geschichte selbst wieder. Und wenn Sie mögen: Erzählen Sie uns und der Community, wo Sie dieses Jahr eine Überzeugung loslassen, eine Meinung ändern, einen Irrtum eingestehen mussten. Irren ist schliesslich menschlich. Und Scheuklappen sind für Pferde.
Die Bilder zur Serie stammen vom Zürcher Künstlerduo Taiyo Onorato und Nico Krebs, die in ihrer Fotografie den Blick auch immer wieder auf Skurriles richten.
Das Virus wäre nach der sogenannten Lab-leak-Hypothese ein Resultat wissenschaftlicher Vermessenheit. Schuld daran Virologen, vor allem chinesische, aber verantwortlich auch die Science-Community um sie herum: Forschende, die die Biosicherheit des Labors geprüft hatten, Wissenschaftlerinnen, die Forschungsanträge beurteilt, Geldgeber, die umstrittene Experimente finanziert hatten.
Erst einmal waren es Donald Trump und seine Anhänger, die diese Erzählung verstärkten. Trump selber suggerierte im Frühling 2020, er wisse von Evidenz für einen Virus-Ursprung im Labor. Pompeo sagte: «enorme Evidenz». Obwohl ihre eigenen Geheimdienste kurz zuvor konstatiert hatten, das Virus sei «weder menschengemacht noch genetisch modifiziert».
Nebst Geheimdiensten sprachen sich auch viele namhafte Wissenschaftlerinnen entschieden gegen die Laborhypothese aus.
Und ich – und wir, als Redaktion. «Mit der grössten Wahrscheinlichkeit ist dieses Virus nicht von Menschen künstlich geschaffen worden», schrieben wir kurz nach Trumps und Pompeos Aussagen.
Quellen hierfür waren unter anderen:
dieser Artikel im prestigeträchtigen medizinischen Journal «The Lancet»: ein Statement von Forschenden, die sich mit chinesischen Wissenschaftlern solidarisierten und vor Gerüchten, Desinformation und Verschwörungserzählungen warnten;
diese Publikation in der noch prestigeträchtigeren wissenschaftlichen Zeitschrift «Nature»: eine Analyse des Virus-Genoms, die suggerierte, das Virus sei weder ein Laborkonstrukt noch absichtlich manipuliert worden.
Diese beiden Artikel waren nicht im wissenschaftlich begutachteten Teil der Zeitschriften erschienen, sondern als sogenannte letters to the editor, die darin enthaltene Information also mit mehr Unsicherheit behaftet. Aber auch begutachtete Artikel machten plausibel, dass Sars-CoV-2 aus der Natur stammt.
Die Labortheorie sei «zwar nicht unmöglich, aber doch sehr unwahrscheinlich», schrieben wir also im Mai 2020.
Aber, und damit zum Kern davon, wo ich falsch lag:
Auch Trump und seine Anhänger waren eine Art Quelle gewesen, eine Anti-Quelle, wenn man so will. Da, wo Wissenschaftlerinnen einen gewissen Vertrauensvorschuss geniessen, wenn es ums, na ja, Wissen geht, war es mit Trump genau umgekehrt: Er war längst als Lügner bekannt, zudem agierte er gerade als Opportunist: Er hatte Covid-19 im Frühling heruntergespielt und damit viele, viele Tote in Kauf genommen. Nun zeigte sein Finger nach China, um von diesem Versagen abzulenken.
Meine Vorsicht gegenüber der Laborhypothese lag also einerseits an der Quelle. Andererseits an ihrem Inhalt: Das aus dem Labor entwischte oder gar als Biowaffe konstruierte Virus, es war die perfekte Verschwörungserzählung. Ein Stoff für Hollywood. Die Hybris der ambitionierten Wissenschaftler: mit Händen greifbar.
Der Stoff war aber auch unterkomplex, wie es die allzu einfachen Antworten häufig sind.
Ich wusste: Meistens ist die Realität komplexer, schwieriger zu verstehen, mühsamer zu recherchieren. Und zugleich langweiliger. Die Realität ist häufig, leider: kein Stoff für Hollywood.
Es war so einfach, den lab leak als Verschwörungserzählung abzukanzeln.
Das alles steht nicht in erster Linie zu meiner Rechtfertigung hier. Kaum ein journalistischer Entscheid hat mich im Nachhinein so beschäftigt wie dieser, keiner ist mir so unangenehm. Ich schreibe diesen Kontext drum herum, weil ich die Mechanismen hinter unseren damaligen Entscheiden erzählenswert finde. Sie erinnern daran, mit noch offenerem Visier zu recherchieren. Und sich über gedankliche Tabus hinwegzusetzen (dazu gleich mehr).
Auch wenn die Quellenlage damals eine ganz andere war als heute: Was hätte man tun müssen?
Die vermeintliche Verschwörungstheorie nehmen, sie von allen Seiten betrachten, ihre Plausibilität ernsthaft prüfen. Recherchieren, was die Geschichte der Virologie hergibt. Und darüber schreiben, dass immer wieder einmal infektiöse Viren vom Labor nach draussen gelangen: Die Influenza-Epidemie von 1977 geht sehr wahrscheinlich auf einen Forschungsunfall zurück. Ein Ausbruch von Maul- und Klauenseuche entstand 2007 durch ein Leck in den Abflussrohren eines Labors. Sars-1 war aus einem Labor in Peking entwischt. Gleich zweimal.
Dann: den möglichen alternativen Ursprung, für den es (gemäss der damaligen Quellenlage) noch keine konkreten Hinweise gibt, als solchen benennen.
Aber wie das «New York Magazine» schreibt, war das Thema auch im Januar 2021 «immer noch ein grosses Tabu». Das Magazin publizierte damals einen der ersten seriösen Artikel hierzu, wagte es, den lab leak wirklich in Betracht zu ziehen. Es war einer dieser Momente, die in Erinnerung bleiben: Ich sass im Ferienhaus in den Bergen, ich las und las und die Schuppen fielen mir von den Augen. Wie hatten wir das übersehen können?
Wie tabuisiert die Sache war, zeigt eine weitere Anekdote:
Monate später sass ich mit meinem Kollegen Daniel Ryser in einer Berliner Hotellobby und feilte an unserer Vorbereitung: Am nächsten Tag würden wir den Virologen Christian Drosten interviewen. Die Lab-leak-Frage hatte ihm noch keiner gestellt, sie brannte unter unseren Nägeln. Wir mussten sie stellen. Aber wir wussten, es war heikel. Wie fragen, damit uns die Person von der Kommunikationsabteilung, die beim Interview zugegen sein würde, gewähren lässt?
Heute scheint das komplett absurd. Aber damals, im Mai 2021, war die Frage unerhört. Drosten, zu unserem Erstaunen, nahm ausführlich Stellung.
Am Vortag war eine Nachricht in unsere Vorbereitung geplatzt: Der amerikanische Chef-Epidemiologe Anthony Fauci verlangte eine Untersuchung des Virus-Ursprungs. Die Zeitung «The Hill» titelte: «Fauci bombshell» – Faucis Bombe.
Nach und nach würden sich die Hinweise verdichten: Hinweise auf die eine Ursprungshypothese und Hinweise auf die andere. Und es würde sich herausstellen, dass ganz unterschiedliche Player ein Interesse an der Geschichte des Virus-Ursprungs hatten. Zum Beispiel: der Zoologe Peter Daszak, der das Statement im «Lancet» angestossen und der bei der WHO-Untersuchung des Virus-Ursprungs in China eine Gruppe von Forschenden geleitet hatte. Aber Daszak hatte auch mit der Top-Virologin vom Virologielabor in Wuhan zusammengearbeitet. An Coronaviren.
Trump hatte ein Interesse an der Erzählung vom lab leak. Daszak eines an jener vom natürlichen Ursprung.
Das ist natürlich alles andere als ein Nachweis für einen lab leak. Es ist nicht einmal ein Hinweis darauf. Dennoch unterstreicht es, wie wichtig die Unabhängigkeit der Wissenschaftler ist, welche solche Hypothesen untersuchen.
Und es unterstreicht, dass wir Journalistinnen auch dann den Quellen und den Inhalten hinterherrecherchieren müssen, wenn sich Quelle oder Inhalt scheinbar selber disqualifizieren. Vielleicht gerade dann.
Zur Debatte: Wozu haben Sie 2022 Ihre Meinung geändert?
Haben auch Sie sich in einem Urteil, einer Einschätzung oder in einer Person geirrt? Und wenn ja: Warum haben Sie Ihre Meinung geändert, was hat Sie dazu bewogen? War es ein bestimmtes Ereignis, eine Begegnung oder eine Nachricht, die Sie ins Grübeln brachte? Wie fühlt sich das Eingeständnis, sich geirrt zu haben, heute an? Ist es schmerzhaft, verwirrend oder vielleicht sogar erleichternd? Hier gehts zur Debatte.
Der erwähnte Laborausbruch aus dem Jahr 2007 betraf die Maul- und Klauenseuche und nicht die Hand-Fuss-Mund-Krankheit. Wir haben die Stelle angepasst und danken für den Hinweis aus der Verlegerschaft. Zudem hat der Zoologe Peter Daszak nicht die gesamte WHO-Untersuchung des Virus-Ursprungs geleitet, sondern eine Forschergruppe, die an dieser Untersuchung beteiligt war.