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28.02.2022

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Liebe Leserinnen und Leser – and everyone beyond

Merci, dass Sie trotz des Kriegs noch einen Pandemie-Newsletter geöffnet haben. Wobei sich beides gerade am Anfang ähnlich beängstigend anfühlt – vielleicht finden Sie in unserem «Im Fall von Panik»-Beitrag aus dem März 2020 einige Gedanken, die Ihnen in den kommenden Tagen helfen.

Nun denn:

Zwei Jahre Pandemie bleiben nicht ohne Belohnung. Davor lebten in der Schweiz 8,6 Millionen Menschen. Heute sind es 8,6 Millionen Epidemiologinnen.

Aber jetzt, da es so aussieht, als ob dieses Mistding namens Sars-CoV-2 endlich ernsthaft auf dem Rückzug ist, bleibt die Frage: Was bringt uns das jetzt, dass wir alle unfreiwillig viel darüber wissen, wie eine Pandemie funktioniert?

Die Antwort ist:

1. Eventuell ist es Ihr Schlüssel zur Veränderung der Welt.

2. Vielleicht Sex.

Und zwar, weil gute Ideen einige erstaunliche Gemeinsamkeiten mit bösen Viren haben.

Letztlich ist Erfolg nämlich nichts anderes als Ansteckung. Und zwar egal, ob mit Ideen, modischen Flip-Flops oder mit Verhaltens­regeln.

So jedenfalls schreibt es der Journalist Malcolm Gladwell in seinem Bestseller «Tipping Point».

Im Prinzip müssen Sie nur dasselbe tun wie Sars-CoV-2. Sie beginnen klein, wie auf dem Fisch­markt in Wuhan. Und bis zum Welthit brauchen Sie nur drei Zutaten:

1. Sie müssen am Anfang nicht viele Leute überzeugen, sondern die richtigen: wenige Super­spreader, die dann viele Leute mit Ihrem Gedanken anstecken. (So wie Mitte der Neunziger der bisher unbeachtete amerikanische Hush-Puppies-Schuh von coolen Kids in L.A. getragen wurde, von New Yorks hippsten Designern übernommen wurde und sich über den Planeten verbreitete wie tragbarer Fusspilz.)

2. Ihr Ding sollte möglichst ansteckend sein. (Im Englischen nennt man ansteckende Ideen oder eine mitreissende Stimmung infectious.) Wie? Das müssen Sie wie Sars-CoV-2 tun – es durch viele kleine Mutationen heraus­finden. So lange, bis der Funke springt.

3. Sie brauchen Glück im Timing, also eine günstige Infektions­umgebung. (Etwa den EM-Final, den Winter, die Paris Fashion Week – oder eine Presse­konferenz von Bundes­präsident Cassis.)

Gladwells Buch befolgte offensichtlich die drei Regeln, es wurde zum Welthit und inspirierte wiederum die Forschung. So stellten etwa der Soziologe Nicholas Christakis und der Politik­wissenschaftler James Fowler fest, dass sich auch Dinge wie Rauchen, Glück oder Fettleibigkeit wie Epidemien verhielten. Und in Ausbrüchen auftraten. Wenn nur eine Person dick wurde, hatten deren enge Freunde ein um 57 Prozent erhöhtes Risiko, auch dick zu werden.

Gladwells Erfolg erklärte sein Kollege Matt Ridley indirekt ebenfalls in einem erfolgreichen Ted-Talk mit dem Titel: «Wenn Ideen Sex haben».

Das Rezept für ein grossartiges Produkt, so Ridley, ist eine Massen­orgie von Gedanken und Konzepten. Ridley verglich den prähistorischen Faustkeil mit der (mittlerweile auch historischen) Computer­maus. Beide gleich gross (weil designt für die menschliche Hand), aber der Faustkeil aus einem Stück, über Tausende Jahre unverändert, von einer Person hergestellt. Die Computer­maus hingegen nach fünf Jahren veraltet, mit Laser, Plastik, Transistoren, so komplex zusammen­gesetzt, dass kein einziger Mensch sie allein bauen könnte (geschweige denn allein erfinden).

Der Grund für den menschlichen Aufschwung der letzten 200 Jahre bei einer gleichzeitigen Bevölkerungs­explosion, so Ridley, sei gerade die Bevölkerungs­explosion gewesen: Dadurch sei genug Dichte da gewesen, sodass sich die Ideen vieler Leute in hoher Frequenz paaren und mutieren konnten.

Und wir durch gegenseitige Ansteckung mit Ideen ein epidemisch gesünderes, reicheres, längeres, luxuriöses Leben führten. König Ludwig XIV. habe, so Ridley, zur Zubereitung seines Essens noch 498 Diener gebraucht – was heute auch die unbedeutendste Touristin in Frankreich habe: Wenn man alle Leute dazuzähle, die etwa den Kaffee für den Arbeiter auf der Erdgas­plattform brauen, welche dann die Energie liefert, die den Coffee­shop beheizen würde, etc.

Was in Sachen Gladwell heisst: Sein Genie­streich war der Sex von zwei entfernten Disziplinen: Epidemiologie flirtet mit Marketing.

Und was machen Sie damit? Leider gibt es Spiel­verderberinnen, die Gladwell wie Ridley Kurzschluss­denken vorwerfen: So etwa pflanzen sich Ideen oder Produkte nicht wie Viren von Mensch zu Mensch, sondern nur unter ähnlich Interessierten fort; was dazu führt, dass die erfolgreichen Ansteckungs­ketten eher bescheiden sind; pandemische Erfolge sind darum so selten wie … eben Pandemien.

Also gut, Sie haben nichts gelernt. Aber wir sind ja auch im Leben, nicht in der Schule.

Was Sie diese Woche wissen sollten

Zum Schluss: Und es war (wahrscheinlich) doch der Markt

Aus der Tierwelt? Aus dem Labor? Der Ursprung von Sars-CoV-2 ist noch nicht sicher geklärt. Es verdichten sich aber seit vergangenem Jahr die Hinweise darauf, dass es eher vom Tier als aus der Labor-Glasschale zum Menschen gefunden haben dürfte. Dass es sich also von einem Markt in Wuhan und nicht vom nahe gelegenen Wuhan-Virologie-Institut aus verbreitet haben könnte.

Nun liefern gleich drei neue – noch nicht wissenschaftlich begutachtete – Untersuchungen weitere Indizien für einen tierischen Ursprung. Forschende gingen Berichten über die ersten Infizierten nach, über ihre Aufenthalts­orte, ihre Kontakte sowie den genetischen Analysen der Viren, die sie krank gemacht hatten. Viele von ihnen hatten, ähnlich wie die ersten Sars-Infizierten der 2000er-Jahre, einen Markt besucht, der lebende Tiere verkaufte.

Die wissenschaftlichen Arbeiten bestätigen die Bedeutung des Markts für die Entwicklung der Pandemie. Und sie machen einen tierischen Ursprung plausibler, auch weil sich gleich zwei verschiedene Virus­stränge auf diesen Markt zurück­führen lassen. Dass hingegen gleich beide Virus­stränge vom Labor zum Markt gelangt sein könnten, sei sehr unplausibel, sagte einer der Forscher zur Zeitschrift «Nature». (Die Arbeiten können aber einen Ursprung im Labor nicht definitiv ausschliessen: Ein Markt, an dem viele Menschen zusammen­kommen, kann auch lediglich als Verstärker für einen Ausbruch anderen Ursprungs funktionieren.)

Bleiben Sie jedenfalls umsichtig. Bleiben Sie freundlich. Und bleiben Sie gesund.

Oliver Fuchs, Marie-José Kolly und Constantin Seibt

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PPPS: In der Ausgabe von letzter Woche haben wir multiple Sklerose als Muskel­krankheit bezeichnet. In Wahrheit ist sie eine entzündliche und chronische Erkrankung des zentralen Nerven­systems. Wir bitten um Entschuldigung.

PPPPS: Falls Sie keine Republik-Abonnentin sind, aber trotzdem unsere bisherige Bericht­erstattung zur Ukraine seit dem russischen Einmarsch frei lesen möchten:

  • «In dem jahrhunderte­langen Kampf zwischen Autokratie und Demokratie, zwischen Diktatur und Freiheit, ist die Ukraine jetzt die Frontlinie – und es ist auch unsere», schreibt Anne Applebaum.

  • Unser Fotograf Lesha Berezovskiy in Kiew wird am Donnerstag durch Bomben­lärm geweckt. Und dokumentiert seither für die Republik das Leben im Krieg. Die Bildkolumne «Leben in Trümmern» wird erscheinen, sooft es eben geht.

  • «Die Raketen, die in Charkiw einschlugen, die Hubschrauber, die einen Flughafen in der Nähe der Haupt­stadt Kiew angriffen, jede Kugel für jede Waffe eines jeden russischen Fallschirm­jägers – alles wurde zum grössten Teil mit Geld aus der freien Welt gebaut oder damit gekauft», schreibt Garri Kasparow. Und liefert einen 7-Punkte-Plan, wie Putin zu schlagen ist.

  • Wie bringen wir den Krieg in der Ukraine zur Sprache? Auf den Strassen, den Plätzen, den Redner­tribünen. Aber etwas Grund­sätzliches erfahrbar machen kann jetzt nur die Literatur, schreibt unser Redaktor Daniel Graf.