Gummigeschosse: Die Fakten
In den vergangenen Monaten haben wir intensiv zu den verschiedenen Gummigeschossen recherchiert, die die Schweizer Polizeibehörden einsetzen. Begleitend zum eigentlichen Artikel beantworten wir hier die wichtigsten Fragen.
Von Basil Schöni, 01.12.2022
Die Geschichten von Menschen, die von Gummigeschossen schwer verletzt wurden und nun ein Leben lang mit den Folgen kämpfen müssen, sind erschütternd. Ergänzend zur ausführlichen Recherche, in der wir die Geschichten von sieben Betroffenen beleuchten, liefern wir an dieser Stelle die trockenen Fakten über Gummigeschosse in der Schweiz. Und wir veröffentlichen drei Dokumente, die etwas Aufschluss über diese «weniger tödlichen» Waffen geben.
Welche Munition wird mit dem Mehrzweckwerfer (MZW) verschossen?
Welche Munition wird mit dem Werfersystem GL06 verschossen?
Welche Verletzungen können durch Gummigeschosse verursacht werden?
Welche Richtlinien gibt es für den Einsatz von Gummigeschossen?
1. Wer setzt in der Schweiz Gummigeschosse ein?
Wir haben sämtliche Kantonspolizeien und die Sicherheitsbehörden auf Bundesebene angefragt, ob und welche Gummigeschosse sie einsetzen. Die Kantonspolizeien von Graubünden und Schaffhausen gaben keine Auskunft, die restlichen Kantone bestätigten den Einsatz von Gummigeschossen. Es ist davon auszugehen, dass auch alle grossen Stadt- und Gemeindepolizeien mit Gummigeschossen ausgerüstet sind.
Auf Bundesebene werden Gummigeschosse vom Zoll, von der Armee, der Transportpolizei der SBB und den Betriebswachen von Nuklearanlagen eingesetzt. Das Bundesamt für Polizei (Fedpol), zu dem auch der Bundessicherheitsdienst gehört, verfügt nicht über Gummigeschosse.
Aus purer Neugier haben wir auch bei der Stadtpolizei Stein am Rhein nachgefragt. Die kleinste Polizeibehörde der Schweiz (beide Beamte sind auf der Website aufgeführt) setzt aber keine Gummigeschosse ein.
2. Welche Werfersysteme kommen zum Einsatz?
Die genaue Art der Bewaffnung variiert von Behörde zu Behörde. Aktuell sind in der Schweiz zwei verschiedene Werfersysteme im Einsatz.
Das schlicht Mehrzweckwerfer (MZW) genannte Werfersystem (früher auch Tränengaswerfer TGW) wurde in den 1970er-Jahren auf Basis eines alten Karabinermodells der Schweizer Armee entwickelt und über die Jahrzehnte mehrmals erneuert. Hersteller war die Eidgenössische Waffenfabrik Bern, die später im Rüstungskonzern Ruag aufging. Das neuste Modell des Mehrzweckwerfers entstand 2004 und trägt die Kennzeichnung MZW 04. Im Kanton Freiburg wird die Waffe unter der Bezeichnung LG07 verwendet – dabei handelt es sich aber um den gleichen Werfertyp, die Unterschiede zum MZW betreffen nur die Ergonomie.
Ein deutlich moderneres Werfersystem ist der GL06 der Thuner Firma B&T. Diese Waffe ist aktuell weniger verbreitet als der MZW, verschiedene Kantone haben in den letzten Jahren aber auf das Thuner System umgerüstet.
Neben den beiden genannten Werfersystemen sind vereinzelt noch weitere Waffen im Einsatz. Im Kanton Waadt verfügt die Interventionseinheit über ein Werfersystem der Firma Penn Arms.
3. Welche Munition wird mit dem Mehrzweckwerfer (MZW) verschossen?
Der MZW kann zwei Arten von Munition verschiessen: eine Tränengasgranate und eine Gummischrotladung. Das Gummischrot wird von der Firma Saltech hergestellt und in Packungen à 35 Geschosse verschossen. Die einzelnen Projektile sind sechseckige Prismen, die ungefähr 2,7 Zentimeter gross sind und 10 Gramm wiegen.
4. Welche Munition wird mit dem Werfersystem GL06 verschossen?
Der GL06 lässt sich mit einer Vielzahl von Munitionsarten laden. Der Hersteller B&T verkauft Patronen, mit denen Gummischrot, Wuchtgeschosse, Tränengaskartuschen sowie Markiermunition und Wuchtgeschosse mit Pfeffer- oder Tränengasladung verschossen werden können. Im Angebot sind zudem Patronen, die Pfeffer- und Tränengaswolken direkt aus der Mündung der Waffe abgeben. Der GL06 kann auch mit Munition von Drittherstellern verwendet werden, beispielsweise einer Gummischrotpatrone der Firma Saltech, die bei der Kantonspolizei Bern eingesetzt wird.
Von den oben aufgelisteten Munitionstypen werden nach unserem Kenntnisstand aktuell die Tränengasladungen, die Wuchtgeschosse, das Gummischrot von B&T sowie jenes von Saltech eingesetzt.
Das Gummischrot von B&T besteht aus kleinen Gummikugeln mit 15 Millimeter Durchmesser und wiegt 2,6 Gramm. Eine Ladung enthält 28 Kugeln. Es trägt die Herstellerbezeichnung «Rubber Shot».
Die Schrotmunition der Firma Saltech sieht aus wie eine geschrumpfte Version des sechseckigen MZW-Gummischrots, das ebenfalls von Saltech hergestellt wird. Diese kleineren Geschosse sind aber nur 1,8 Zentimeter gross und wiegen rund 8,7 Gramm, sind damit also dichter als ihre grossen Geschwister. Sie werden in Packungen à 28 Projektile verschossen. Der Hersteller bezeichnet diese Munition als «Rubber Shot Hexagonal».
Neuerer Beliebtheit erfreuen sich bei diversen Polizeibehörden die sogenannten Wuchtgeschosse der Firma B&T. Diese Projektile, die in Form und Grösse an einen Golfball erinnern, werden einzeln verschossen. Sie enthalten ein Vielfaches der Energie eines einzelnen Schrotprojektils und bergen daher ein viel grösseres Risiko für schwere Verletzungen – auch für weniger empfindliche Körperteile als das Auge. Die Herstellerbezeichnung lautet «Safe Impact Round» (SIR).
5. Welche Verletzungen können durch Gummigeschosse verursacht werden?
Die überwältigende Mehrheit der uns bekannten Verletzungen betraf schwere Augenprellungen mit irreversiblen Schädigungen bis hin zum Totalverlust des Auges. Einer Person, mit der wir gesprochen haben, wurden zwei Zähne ausgeschossen. Und in einem Fall führte der Aufprall eines Wuchtgeschosses im Genitalbereich des Getroffenen dazu, dass ein Hoden platzte.
Die energiereichen Wuchtgeschosse können zudem Rippenbrüche, Frakturen des Gesichtsschädels, Brustbeinbrüche, Leberrisse und bei Treffern im Herz- und Lungenbereich im schlimmsten Fall lebensbedrohliche Verletzungen verursachen.
Abgesehen von diesen schweren Verletzungsbildern verursachen Gummigeschosse vor allem Blutergüsse, unter gewissen Umständen auch kleinere blutende Wunden.
6. Welche Richtlinien gibt es für den Einsatz von Gummigeschossen?
Um schwere Verletzungen zu vermeiden, gibt es für alle Arten dieser «weniger tödlichen» Munition Empfehlungen zur Mindestdistanz und zum Zielpunkt.
Viele dieser Empfehlungen werden vom Schweizer Kompetenzzentrum Polizeitechnik und -informatik (PTI Schweiz) erarbeitet, einem interkantonalen Gremium, das für die verschiedenen Polizeikorps Waffensysteme evaluiert. Da diese Tätigkeit vor der Gründung von PTI Schweiz durch die Konferenz der kantonalen Polizeikommandantinnen und -kommandanten (KKPKS) durchgeführt wurde, stammen gewisse Empfehlungen formell gesehen noch von der KKPKS. Im Folgenden sprechen wir der Einfachheit halber jeweils von «PTI Schweiz/KKPKS».
Für die GL06-Gummischrotmunition von Saltech, die ausschliesslich in Bern verwendet wird, stammen die Richtlinien nicht von PTI Schweiz/KKPKS, sondern direkt von der Kantonspolizei Bern, wie diese uns mitteilte. Für das MZW-Gummischrot, das bereits seit Jahrzehnten im Einsatz ist, konnten wir nicht mehr nachvollziehen, woher die Richtlinien genau stammen – unter anderem, weil PTI Schweiz/KKPKS uns die Herausgabe der entsprechenden Dokumente verweigerte.
Folgende Mindestdistanzen und Zielpunkte gelten für die verschiedenen Gummigeschosse:
MZW-Gummischrot (Saltech): Mindestdistanz 20 Meter, Zielpunkt Rumpf. Diese Richtlinien kennen wir aus einem Manual für den MZW 73, einem Dokument der Zürcher Polizeischule, sowie von Aussagen, die ein Polizist im Rahmen eines Gerichtsverfahrens gemacht hat.
GL06-Gummischrot (Saltech): Mindestdistanz 10 Meter, Zielpunkt Oberschenkelmitte. Diese Informationen hat der Berner Regierungsrat als Antwort auf einen parlamentarischen Vorstoss veröffentlicht.
GL06-Gummischrot (B&T): Mindestdistanz 5 Meter, Zielpunkt Oberschenkelmitte. Diese Vorgaben kennen wir aus einem Dienstbefehl der SBB-Transportpolizei, die sich ihrerseits auf die Empfehlungen der KKPKS stützt.
GL06-Wuchtgeschoss (B&T): Mindestdistanz 5 Meter, Zielpunkt Gürtellinie. Auch diese Informationen ist dem Dienstbefehl der SBB-Transportpolizei zu entnehmen.
Neben den Empfehlungen zur Mindestdistanz und zum Zielpunkt weist PTI Schweiz/KKPKS auch darauf hin, dass wenn möglich eine Zielhilfe verwendet und die Verhältnismässigkeit bei der Wahl des Ziels (Alter, Körperbau, Bekleidung etc.) gewahrt werden soll.
7. Wie kommen diese Richtlinien zustande?
Die Empfehlungen von PTI Schweiz/KKPKS (für die beiden von B&T hergestellten Geschosse) und jene der Kantonspolizei Bern (für das GL06-Gummischrot von Saltech) stützen sich einerseits auf eigene Erwägungen und andererseits auf wissenschaftliche Studien und Berichte eines externen Sachverständigen. Die Gewichtung der verschiedenen Aspekte liegt bei den Behörden, die schliesslich die Richtlinien festlegen.
Beim externen Sachverständigen handelt es sich in allen uns vorliegenden Fällen um den Ballistiker und promovierten Forensiker Beat P. Kneubuehl, der bis 2014 das Zentrum für Forensische Physik/Ballistik am Institut für Rechtsmedizin der Universität Bern leitete. 2014 gründete Kneubuehl die bpk-consultancy gmbh, eine Beratungsfirma für Ballistik, Physik und Kriminalistik. Er ist zudem Herausgeber und Mitautor des Standardwerks «Wundballistik. Grundlagen und Anwendungen».
Die Studien und Berichte des Ballistikers Kneubuehl sowie die einschlägige Fachliteratur nennen für verschiedene Arten von Verletzungen jeweils Grenzwerte für die Energiedichte (ab wann muss damit gerechnet werden, dass ein Geschoss in die Haut oder ein anderes Körperteil eindringt) oder die Energie (ab wann muss mit einer bestimmten Art von Verletzung gerechnet werden, beispielsweise einer irreversiblen Schädigung des Auges).
Diese Grenzwerte fliessen gemeinsam mit den gemessenen Energien der Projektile in die Empfehlungen ein, wie Gummigeschosse eingesetzt werden sollen. Die Mindestdistanzen sollen beispielsweise verhindern, dass der Grenzwert für ein Eindringen oder eine schwere Prellung am Auge überschritten wird. Und durch die Zielpunkte sollen Treffer an besonders gefährdeten Körperstellen vermieden werden – beispielsweise die Herz-/Lungenregion bei den Wuchtgeschossen.
8. Was ist das Problem an den Richtlinien?
Ein Problem ist, dass die Grenzwerte, die dafür herangezogen werden, sehr unscharf sind. Einerseits erleiden verschiedene Menschen bei ähnlichen Aufprallenergien teilweise sehr unterschiedliche Verletzungen. Und andererseits können die Grenzwerte bloss geschätzt werden und enthalten somit einen grossen Unsicherheitsbereich. Ob schwere Verletzungen damit zuverlässig vermieden werden können, ist fraglich.
Weiter ist es der Polizei erlaubt, die empfohlenen Mindestdistanzen zu unterschreiten, wenn eine Notwehr- oder Notwehrhilfesituation vorliegt. Erfahrungsgemäss ist dies nach Ansicht der Polizei relativ schnell der Fall.
Zum Zielpunkt ist anzumerken, dass die Schrotmunitionen eine Streuwirkung haben und deshalb kaum gezielt eingesetzt werden können. Sie treffen darum auch oft Personen, die sich an keiner Konfrontation beteiligt haben. Gummischrot wird ausserdem oft in sehr dynamischen Situationen eingesetzt, in welchen sich Personen unerwartet bewegen können. Das macht es schwieriger, Treffer auf Oberkörper oder Kopf zu vermeiden.
9. Ich will es genauer wissen – kann ich eure Quellen sehen?
Gemeinsam mit unserer Recherche publizieren wir an dieser Stelle zwei Dokumente, die wir per Öffentlichkeitsgesetz erhalten haben. Wir haben ausserdem eine Übersicht erstellt, welche Sicherheitsbehörden welche Werfersysteme und Munitionstypen einsetzen.
Die Dokumente, die wir publizieren, sind:
Ein Dokument der Konferenz der Kantonalen Polizeikommandanten (KKPKS) mit dem Titel «Zwischenbericht 4 Empfehlungen Werfersysteme». Darin geht es um die Risiken und Empfehlungen bezüglich der 40-mm-Werfersysteme (wie beispielsweise des B&T GL06). Wir erhielten den Bericht als Antwort auf ein Öffentlichkeitsgesuch an PTI Schweiz. Es ist das einzige Dokument, das uns PTI Schweiz beziehungsweise die KKPKS herausgeben wollte.
Der «Dienstbefehl Einsatz des Werfers Modell B&T GL-06 cal. 40 x 46 mm». Dieses Dokument der SBB-Transportpolizei regelt den Einsatz des Werfers GL06 und enthält Verweise auf die Empfehlungen der KKPKS bezüglich Mindestdistanz, Zielpunkt und Zielhilfe.
Eine Tabelle aller uns bekannten Sicherheitsbehörden, die auflistet, welche Arten von Gummigeschossen und Werfersystemen sie einsetzen und ob sie eine Umrüstung auf ein anderes System planen. Diese Daten basieren auf unseren Anfragen an diese Behörden im Sommer 2022. Nicht alle Angefragten erteilten im gleichen Umfang Auskunft: Gewisse Behörden gaben uns detaillierte Informationen, die teilweise sogar über unsere konkreten Fragen hinausgingen. Andere verweigerten die Auskunft «aus polizeitaktischen Gründen» ganz. Der Grossteil der Antworten bewegt sich zwischen diesen Extremen.
Die wichtigsten öffentlichen Quellen sind im oben stehenden Text und unserer eigentlichen Recherche verlinkt. Gewisse vertrauliche Dinge, darunter Berichte, Gutachten, Videos, Bildmaterial und Gerichtsdokumente, konnten wir zwar einsehen, wir können sie aber nicht publizieren.