Darum soll Brian Keller hinter Gittern bleiben
Die Staatsanwaltschaft hat für den berühmten Gefangenen erneut U-Haft beantragt. Es geht um 33 Vorfälle im Gefängnis – und um 33 Zeichen der Verzweiflung.
Von Brigitte Hürlimann, 23.11.2022
Am Montag, 7. November, Punkt 12 Uhr hätte er freikommen sollen, nach über sechseinhalb Jahren nonstop im Gefängnis. Seine Familie bereitete sich auf die langersehnte Rückkehr ihres Sohns, Bruders und Onkels vor, die Freude war riesig und die Erwartung berechtigt. Das Zürcher Obergericht hatte am letzten Oktobertag die Freilassung Brian Kellers aus der Sicherheitshaft verfügt. Eine Fortsetzung der Inhaftierung sei nicht mehr verhältnismässig.
Doch drei Tage nach Eröffnung dieses Gerichtsentscheids traf eine andere Mitteilung ein. Diesmal von der Zürcher Staatsanwaltschaft. Sie teilte mit, sie akzeptiere zwar die Entlassung aus der Sicherheitshaft, beantrage aber Untersuchungshaft für den 27-Jährigen. Es gehe um 33 Delikte, die noch nicht abschliessend untersucht worden seien. Als Haftgrund nennen die Strafverfolger: Wiederholungsgefahr. Und dies, obwohl sämtliche Vorfälle im Gefängnis geschahen.
Untersuchungshaft muss stets von einem Gericht angeordnet werden. Das ist auch passiert – wenig überraschend. Das Zürcher Zwangsmassnahmengericht hat dem Antrag der Staatsanwaltschaft stattgegeben. Brian Keller, der inzwischen als der «bekannteste Häftling der Schweiz» bezeichnet wird, bleibt hinter Gittern.
Er habe die neuste Entwicklung mit Fassung aufgenommen, sagen seine Anwälte, die am Montag den Haftentscheid vor Obergericht gezogen haben. Sie betonen, sämtliche «neuen» Vorwürfe hätten sich in einem Vollzugsregime ereignet, das von nationalen und internationalen Gremien als menschenrechtswidrig bezeichnet werde – die Rede ist von Folter und einem klaren Verstoss gegen die Mandela-Regeln, die internationalen Mindeststandards für Gefangene.
Brian Keller, sagen die Anwälte, habe sich in einer Notstandssituation befunden.
Ort: Zwangsmassnahmengericht, Zürich
Zeit: 8. November 2022
Thema: Untersuchungshaft
33 Vorwürfe.
33 Vorfälle hinter Gefängnismauern.
33 Dramen und Tragödien – für alle Beteiligten.
33 Zeichen der Verzweiflung, Wut und Überforderung, des Nichtweiterwissens, der Eskalation und Repression.
Es war eine Spirale, die sich in einem unheilvollen Tempo immer weiter abwärts bewegte. Die Fronten waren verhärtet, die Haltungen unnachgiebig, es herrschte die totale Blockade.
Hier ein Insasse, der sich gegen ein Haftregime wehrte, das als einzigartig streng bezeichnet werden muss: Einzelhaft, über drei Jahre lang, 23 Stunden in der Zelle (am Wochenende 48 Stunden), eine Stunde Hofgang – wiederum allein, an Händen und Füssen gefesselt.
Dieser Zustand endete Mitte 2021, als eine Spezialsicherheitszelle mit einem Spezialminispazierhof eröffnet wurde. Besuche fanden ausnahmslos hinter Panzerglas statt, in einem engen Kabäuschen mit miserabler Akustik. Es gab keine echten zwischenmenschlichen Kontakte, keine Berührungen – ausser bei den Auseinandersetzungen mit den Aufsehern.
Das Anwaltsteam von Keller, das sind Thomas Häusermann, Bernard Rambert und Philip Stolkin, macht eine Notstandssituation geltend. Nur deshalb habe ihr Klient immer wieder wütend aufbegehrt, sich gegen das Haftregime gewehrt. Die Anwälte legten letztes Jahr ein Gutachten des Zürcher Psychiaters Ralf Binswanger vor, der die Auswirkungen des Haftregimes auf den Insassen analysierte. Der Gutachter kommt zum Schluss, Kellers Verhalten sei «ethisch und rational» begründet gewesen. Es sei um sein psychisches Überleben gegangen und darum, schlimmere Schädigungen zu vermeiden.
Auf der anderen Seite steht ein Justizvollzug, der auf das wütende Aufbegehren des Langzeithäftlings mit Härte reagiert. Und mit immer neuen Strafanzeigen. Die ältesten stammen vom November 2018, die neuste wurde im Juni dieses Jahres von einem Mithäftling eingereicht. Er sei von Brian Keller geschubst worden und zu Boden gefallen, sagt der Anzeigeerstatter.
Der Gefängniswechsel stoppt die Spirale
Dieser jüngste «Vorfall» ereignete sich in einem Zürcher Untersuchungsgefängnis, in das der 27-jährige Schweizer im Januar dieses Jahres verlegt worden war. Es gehe allenfalls um eine Tätlichkeit und damit um eine Übertretung, sagt Rechtsanwalt Thomas Häusermann. «Ausser dieser Bagatelle ist in den bald elf Monaten in einem normalen Vollzugsregime nichts passiert.»
Die Verlegung ins normale Vollzugsregime stoppt die Negativspirale, von der ersten Minute an. Auch sie war vom Obergericht angeordnet worden (auf Geheiss des Bundesgerichts), und sie bedeutete das Ende der rigiden Einzelhaft in der Justizvollzugsanstalt Pöschwies.
Mit dem Einzug ins andere Gefängnis war Schluss mit der Sonderbehandlung und Isolierung, Schluss mit dem personalintensiven Hochsicherheitsdispositiv. Seit Keller wie jeder andere Häftling behandelt wird, Sport betreiben und zum Unterricht gehen kann, in regelmässigem Kontakt mit den Mitinsassen steht und die Familie ohne Trennscheibe treffen darf, hat das Wüten aufgehört.
Ausser dieser einen Sache mit dem «Schubsen», die von der Staatsanwaltschaft als «Dossier 33» aufgeführt wird, ist nichts mehr passiert.
Doch das und vor allem die anderen 32 Vorfälle, die fast ausschliesslich in der Pöschwies geschahen, werden Keller einmal mehr vor Gericht bringen. Die Staatsanwaltschaft wirft ihm in einem Fall versuchte schwere Körperverletzung vor, plus mehrfache Gewalt und Drohung gegen Beamte, Sachbeschädigung und einfache Körperverletzung.
Kellers Anwaltsteam hat beschlossen, den Medien Einsicht in die neuen, umfangreichen Untersuchungsakten zu gewähren – um transparent zu machen, worum es genau geht. In den Unterlagen wird sichtbar, wer den 27-Jährigen belastet, wer Strafanzeige eingereicht hat oder als Opfer am Verfahren teilnimmt, was die Umstände der Vorfälle waren, welche Beweismittel vorliegen, wer welche Aussagen gemacht hat – oder nicht aussagen wollte.
Die Lektüre ist harte Kost.
Geschildert und zum Teil mit Fotografien und Videoaufnahmen belegt werden Vorgänge, Vorfälle und Zustände im Gefängnis, die vor allem eines dokumentieren: eine Extremsituation, die man sich für keinen Häftling wünscht, unabhängig davon, was dieser verbrochen hat. Und die so ziemlich das Gegenteil von einem humanen Strafvollzug, von Resozialisierung und Wiedereingliederung darstellt.
«Das Schlimmste ist», sagt Anwalt Häusermann, «dass wir uns von Anfang an dagegen wehrten, unseren Klienten in der Pöschwies unterzubringen. Wir haben es tausend Mal gesagt und immer wieder begründet. Wir wollten nicht, dass Brian Keller dorthin zurückkehrt, wo er von Aufsehern betreut wird, die ihn im alten, noch hängigen Strafverfahren belasten. Hätte man auf uns gehört, wäre es nicht zu diesen 33 neuen Vorwürfen gekommen.»
Es waren vor allem Aufseher, die seit Kellers Rückversetzung in die Pöschwies im August 2018 immer wieder Strafanzeige einreichten. Manchmal war es die Anstalt selbst, wenn es um Sachbeschädigung ging.
Ein Stück Glas fliegt gegen die Zellentüre
In drei Fällen hat auch Keller Anzeige erstattet; nach Zwischenfällen, bei denen er verletzt wurde. Ein Fall ereignete sich in der Vollzugsanstalt Lenzburg, in die er vorübergehend – zur Beruhigung der Situation – verlegt worden war. Ein Gefängnismitarbeiter wurde zweitinstanzlich wegen Amtsmissbrauchs zu einer bedingten Geldstrafe verurteilt. Er soll auf den Gefangenen eingetreten haben, als dieser bereits am Boden lag und getasert worden war. Das Urteil ist noch nicht rechtskräftig, der verurteilte Mitarbeiter hat den Schuldspruch vor Bundesgericht gezogen.
Zwei weitere Anzeigen von Keller, die die Pöschwies betreffen, wollte die Zürcher Staatsanwaltschaft vom Tisch wischen – es gebe nicht den kleinsten Hinweis auf ein strafbares Verhalten.
Die Strafverfolger stellten zunächst den Antrag, die Ermächtigung zur Strafverfolgung gegen die Gefängnismitarbeiter sei nicht zu erteilen. Das Obergericht sah dies anders und wies die Staatsanwaltschaft zur Untersuchung an. Doch diese stellte anschliessend beide Verfahren ein. Keller beziehungsweise sein Anwaltsteam hat die Einstellungsverfügungen angefochten. Beide Fälle sind derzeit am Obergericht hängig.
Totenstille herrscht hingegen, was eine Strafanzeige des Anwaltsteams gegen die Zürcher Justizbehörden betrifft, die im Dezember 2021 eingereicht wurde. Die Anwälte werfen den Behörden Folter und unmenschliche Behandlung vor. Von irgendwelchen Untersuchungshandlungen haben sie seither, bald ein Jahr später, nichts gehört.
Anders sieht es bei den 33 neuen Vorwürfen der Staatsanwaltschaft aus. Hier laufen die Untersuchungen auf Hochtouren, der Aktenberg wächst ins Unermessliche. Bei den meisten Delikten, die Keller vorgeworfen werden, geht es um Treten, Schlagen, Spucken, Beissen, Schimpfen und Drohen, um Zerstörungen in der Zelle oder darum, dass der Insasse mit Gegenständen gegen die Türe oder die Aufseher warf.
«Es war eine Notstandssituation, das kann man nicht genug betonen», sagt Philip Stolkin. «Der Mann war einfach nur verzweifelt. Und die Provokationen waren durchaus wechselseitig.»
Der schlimmste Vorfall, den Staatsanwalt Ulrich Krättli unter anderem als versuchte schwere Körperverletzung einstuft («Dossier 5»), hat sich im Januar 2019 ereignet. Brian Keller hatte zuvor in seiner Zelle ein Sicherheitsglas zertrümmert. Er warf ein handflächengrosses Stück Glas gegen seine Zellentüre, die ein paar Zentimeter weit geöffnet war, weil drei Aufseher mit einem Mopp putzen wollten. Das Glasstück prallte an der Türe ab, traf einen Mitarbeiter und verletzte ihn leicht an der Stirn.
Das könne nie und nimmer als versuchte schwere Körperverletzung eingestuft werden, sagt das Anwaltstrio. Keller habe gegen die Türe geworfen, und zwar nicht gegen den leicht geöffneten Türschlitz und schon gar nicht gegen einen Menschen. Es fehle am Vorsatz. Allenfalls könne man von einer Sachbeschädigung oder einer fahrlässigen Körperverletzung reden.
Bleibt es bei der Qualifikation als versuchte schwere Körperverletzung, ist nicht auszuschliessen, dass die Staatsanwaltschaft am Prozess zum wiederholten Male die Verwahrung des 27-Jährigen beantragen wird.
Brian Keller ist als Erwachsener einmal rechtskräftig wegen versuchter schwerer Körperverletzung schuldig gesprochen und zu einer unbedingten Freiheitsstrafe von 18 Monaten verurteilt worden. Er hatte 2016 nach einer verbalen Auseinandersetzung einem Kickbox-Kollegen im Tram einen Faustschlag versetzt. Das Opfer erlitt einen Unterkieferbruch.
Der Vorfall von 2017 im Pöschwies-Büro
Eine weitere Anklage ebenfalls wegen versuchter schwerer Körperverletzung ist noch nicht rechtskräftig entschieden – auch dieser Fall liegt beim Zürcher Obergericht. Bereits zum zweiten Mal.
Hier geht es um einen Vorfall in der Pöschwies von Ende Juni 2017. Keller soll bei einer Besprechung im Büro die Beherrschung verloren und bei einem Gerangel einen Mitarbeiter leicht verletzt haben. Dafür und für weitere gefängnisinterne Delikte wurde er zu 6 Jahren und 4 Monaten Freiheitsstrafe verurteilt. Das Bundesgericht hob das Verdikt auf und spedierte den Fall zurück ans Obergericht. Dieses müsse sich auch mit den Aussagen und Beweismitteln Kellers befassen – das heisst: mit den von seinen Anwälten eingereichten Gutachten oder mit den Gefängnistagebüchern des Häftlings.
Die Vorinstanz habe nicht nur die Vollzugsbedingungen in der Pöschwies zu würdigen, sondern die gesamte Justizgeschichte des 27-Jährigen, befand das höchste Gericht. Dazu gehören unter anderem die unmenschlichen Haftbedingungen im Gefängnis Pfäffikon. Oder die 13-tägige Fixierung an ein Spitalbett, als er knapp 16-jährig war. Oder die illegale Inhaftierung nach dem Abbruch des Sondersettings 2013 – als er als «Jugendstraftäter Carlos» ins mediale Scheinwerferlicht geraten war.
Bleibt die Frage, ob sich die Staatsanwaltschaft mit all diesen Hintergründen befassen wird, wenn sie dereinst im neuen, laufenden Verfahren ihre Anklageschrift zu den «33 Delikten» verfasst. Belastungsmaterial kann der zuständige Staatsanwalt Ulrich Krättli zuhauf vorweisen, die Strafanstalt Pöschwies hat alles fein säuberlich notiert, es liegen minutengenaue Journale vor, und an aussagewilligen Gefängnismitarbeitern fehlt es nicht.
Wird Krättli also auch die entlastenden Argumente berücksichtigen, was gemäss Strafprozessordnung seine Pflicht wäre? Die Kritik des Uno-Sonderberichterstatters für Folter, der Uno-Expertengruppe für Menschen afrikanischer Abstammung, das Gutachten des «International Rehabilitation Council for Torture Victims» oder die mehrfach geäusserten Bedenken der schweizerischen Antifolterkommission?
Die Mutter hält es nicht mehr aus
In «Dossier 13» wirft der Staatsanwalt Brian Keller einmal mehr Gewalt und Drohung gegen Beamte sowie versuchte Körperverletzung vor. Geschildert wird ein Vorfall von Ende Mai 2019. Nach dem Verlassen des Besucherraums mit Trennscheibe, gefesselt an Händen und Füssen, soll Keller gegen einen Aufseher beziehungsweise gegen den Schutzschild des Aufsehers geschlagen haben. Beim anschliessenden Gerangel soll er einen anderen Aufseher in den Oberschenkel gebissen haben.
Warum bloss dieser Ausbruch?
Den Protokollen ist zu entnehmen, dass Keller zuvor Besuch von seinen Eltern hatte, die ihm auf der anderen Seite der Panzerglasscheibe im Kabäuschen gegenübersassen. Offenbar hat die Mutter diesen Besuch und den Zustand ihres Sohns schlecht ertragen. Sie habe im Besuchsraum, ausserhalb der Trennscheibenkabine, minutenlang auf Französisch herumgeschrien. Brian hat dies mitbekommen. Hinter dem Panzerglas, gefesselt an Händen und Füssen. Was die Mutter sagte, wird in den Akten nicht festgehalten.
Offensichtlich aber konnte der Sohn mit der Verzweiflung seiner Mutter nicht umgehen. Es war niemand da, der ihm beistand. Es gab nur sechs Aufseher in Schutzmontur, die ihn zurück in die Isolationszelle bringen wollten.
Da schlug er auf den nächstbesten Schutzschild ein.
Illustration: Till Lauer