Am Gericht

Darum soll Brian Keller hinter Gittern bleiben

Die Staats­anwaltschaft hat für den berühmten Gefangenen erneut U-Haft beantragt. Es geht um 33 Vorfälle im Gefängnis – und um 33 Zeichen der Verzweiflung.

Von Brigitte Hürlimann, 23.11.2022

Vorgelesen von Jonas Gygax
0:00 / 16:48

Am Montag, 7. November, Punkt 12 Uhr hätte er freikommen sollen, nach über sechs­einhalb Jahren nonstop im Gefängnis. Seine Familie bereitete sich auf die lang­ersehnte Rück­kehr ihres Sohns, Bruders und Onkels vor, die Freude war riesig und die Erwartung berechtigt. Das Zürcher Ober­gericht hatte am letzten Oktober­tag die Freilassung Brian Kellers aus der Sicherheits­haft verfügt. Eine Fortsetzung der Inhaftierung sei nicht mehr verhältnis­mässig.

Doch drei Tage nach Eröffnung dieses Gerichts­entscheids traf eine andere Mitteilung ein. Diesmal von der Zürcher Staats­anwaltschaft. Sie teilte mit, sie akzeptiere zwar die Entlassung aus der Sicherheits­haft, beantrage aber Untersuchungs­haft für den 27-Jährigen. Es gehe um 33 Delikte, die noch nicht abschliessend untersucht worden seien. Als Haft­grund nennen die Straf­verfolger: Wiederholungs­gefahr. Und dies, obwohl sämtliche Vorfälle im Gefängnis geschahen.

Untersuchungs­haft muss stets von einem Gericht angeordnet werden. Das ist auch passiert – wenig überraschend. Das Zürcher Zwangsmassnahmen­gericht hat dem Antrag der Staats­anwaltschaft stattgegeben. Brian Keller, der inzwischen als der «bekannteste Häftling der Schweiz» bezeichnet wird, bleibt hinter Gittern.

Er habe die neuste Entwicklung mit Fassung aufgenommen, sagen seine Anwälte, die am Montag den Haft­entscheid vor Ober­gericht gezogen haben. Sie betonen, sämtliche «neuen» Vorwürfe hätten sich in einem Vollzugs­regime ereignet, das von nationalen und internationalen Gremien als menschenrechts­widrig bezeichnet werde – die Rede ist von Folter und einem klaren Verstoss gegen die Mandela-Regeln, die internationalen Mindest­standards für Gefangene.

Brian Keller, sagen die Anwälte, habe sich in einer Notstands­situation befunden.

Ort: Zwangsmassnahmen­gericht, Zürich
Zeit: 8. November 2022
Thema: Untersuchungshaft

33 Vorwürfe.

33 Vorfälle hinter Gefängnis­mauern.

33 Dramen und Tragödien – für alle Beteiligten.

33 Zeichen der Verzweiflung, Wut und Überforderung, des Nichtweiter­wissens, der Eskalation und Repression.

Es war eine Spirale, die sich in einem unheilvollen Tempo immer weiter abwärts bewegte. Die Fronten waren verhärtet, die Haltungen unnachgiebig, es herrschte die totale Blockade.

Hier ein Insasse, der sich gegen ein Haft­regime wehrte, das als einzigartig streng bezeichnet werden muss: Einzel­haft, über drei Jahre lang, 23 Stunden in der Zelle (am Wochen­ende 48 Stunden), eine Stunde Hofgang – wiederum allein, an Händen und Füssen gefesselt.

Dieser Zustand endete Mitte 2021, als eine Spezial­sicherheits­zelle mit einem Spezial­minispazierhof eröffnet wurde. Besuche fanden ausnahmslos hinter Panzer­glas statt, in einem engen Kabäuschen mit miserabler Akustik. Es gab keine echten zwischen­menschlichen Kontakte, keine Berührungen – ausser bei den Auseinander­setzungen mit den Aufsehern.

Das Anwalts­team von Keller, das sind Thomas Häusermann, Bernard Rambert und Philip Stolkin, macht eine Notstands­situation geltend. Nur deshalb habe ihr Klient immer wieder wütend aufbegehrt, sich gegen das Haft­regime gewehrt. Die Anwälte legten letztes Jahr ein Gutachten des Zürcher Psychiaters Ralf Binswanger vor, der die Auswirkungen des Haft­regimes auf den Insassen analysierte. Der Gutachter kommt zum Schluss, Kellers Verhalten sei «ethisch und rational» begründet gewesen. Es sei um sein psychisches Überleben gegangen und darum, schlimmere Schädigungen zu vermeiden.

Auf der anderen Seite steht ein Justiz­vollzug, der auf das wütende Aufbegehren des Langzeit­häftlings mit Härte reagiert. Und mit immer neuen Straf­anzeigen. Die ältesten stammen vom November 2018, die neuste wurde im Juni dieses Jahres von einem Mithäftling eingereicht. Er sei von Brian Keller geschubst worden und zu Boden gefallen, sagt der Anzeige­erstatter.

Der Gefängnis­wechsel stoppt die Spirale

Dieser jüngste «Vorfall» ereignete sich in einem Zürcher Untersuchungs­gefängnis, in das der 27-jährige Schweizer im Januar dieses Jahres verlegt worden war. Es gehe allenfalls um eine Tätlichkeit und damit um eine Übertretung, sagt Rechts­anwalt Thomas Häusermann. «Ausser dieser Bagatelle ist in den bald elf Monaten in einem normalen Vollzugs­regime nichts passiert.»

Die Verlegung ins normale Vollzugs­regime stoppt die Negativ­spirale, von der ersten Minute an. Auch sie war vom Ober­gericht angeordnet worden (auf Geheiss des Bundes­gerichts), und sie bedeutete das Ende der rigiden Einzel­haft in der Justizvollzugs­anstalt Pöschwies.

Mit dem Einzug ins andere Gefängnis war Schluss mit der Sonder­behandlung und Isolierung, Schluss mit dem personal­intensiven Hochsicherheits­dispositiv. Seit Keller wie jeder andere Häftling behandelt wird, Sport betreiben und zum Unterricht gehen kann, in regelmässigem Kontakt mit den Mitinsassen steht und die Familie ohne Trenn­scheibe treffen darf, hat das Wüten aufgehört.

Ausser dieser einen Sache mit dem «Schubsen», die von der Staats­anwaltschaft als «Dossier 33» aufgeführt wird, ist nichts mehr passiert.

Doch das und vor allem die anderen 32 Vorfälle, die fast ausschliesslich in der Pöschwies geschahen, werden Keller einmal mehr vor Gericht bringen. Die Staats­anwaltschaft wirft ihm in einem Fall versuchte schwere Körper­verletzung vor, plus mehrfache Gewalt und Drohung gegen Beamte, Sach­beschädigung und einfache Körper­verletzung.

Kellers Anwalts­team hat beschlossen, den Medien Einsicht in die neuen, umfang­reichen Untersuchungs­akten zu gewähren – um transparent zu machen, worum es genau geht. In den Unterlagen wird sichtbar, wer den 27-Jährigen belastet, wer Straf­anzeige eingereicht hat oder als Opfer am Verfahren teilnimmt, was die Umstände der Vorfälle waren, welche Beweis­mittel vorliegen, wer welche Aussagen gemacht hat – oder nicht aussagen wollte.

Die Lektüre ist harte Kost.

Geschildert und zum Teil mit Fotografien und Video­aufnahmen belegt werden Vorgänge, Vorfälle und Zustände im Gefängnis, die vor allem eines dokumentieren: eine Extrem­situation, die man sich für keinen Häftling wünscht, unabhängig davon, was dieser verbrochen hat. Und die so ziemlich das Gegenteil von einem humanen Straf­vollzug, von Resozialisierung und Wieder­eingliederung darstellt.

«Das Schlimmste ist», sagt Anwalt Häusermann, «dass wir uns von Anfang an dagegen wehrten, unseren Klienten in der Pöschwies unterzubringen. Wir haben es tausend Mal gesagt und immer wieder begründet. Wir wollten nicht, dass Brian Keller dorthin zurückkehrt, wo er von Aufsehern betreut wird, die ihn im alten, noch hängigen Straf­verfahren belasten. Hätte man auf uns gehört, wäre es nicht zu diesen 33 neuen Vorwürfen gekommen.»

Es waren vor allem Aufseher, die seit Kellers Rück­versetzung in die Pöschwies im August 2018 immer wieder Straf­anzeige einreichten. Manchmal war es die Anstalt selbst, wenn es um Sach­beschädigung ging.

Ein Stück Glas fliegt gegen die Zellentüre

In drei Fällen hat auch Keller Anzeige erstattet; nach Zwischen­fällen, bei denen er verletzt wurde. Ein Fall ereignete sich in der Vollzugs­anstalt Lenzburg, in die er vorübergehend – zur Beruhigung der Situation – verlegt worden war. Ein Gefängnis­mitarbeiter wurde zweit­instanzlich wegen Amts­missbrauchs zu einer bedingten Geld­strafe verurteilt. Er soll auf den Gefangenen eingetreten haben, als dieser bereits am Boden lag und getasert worden war. Das Urteil ist noch nicht rechtskräftig, der verurteilte Mitarbeiter hat den Schuld­spruch vor Bundes­gericht gezogen.

Zwei weitere Anzeigen von Keller, die die Pöschwies betreffen, wollte die Zürcher Staats­anwaltschaft vom Tisch wischen – es gebe nicht den kleinsten Hinweis auf ein strafbares Verhalten.

Die Strafverfolger stellten zunächst den Antrag, die Ermächtigung zur Straf­verfolgung gegen die Gefängnis­mitarbeiter sei nicht zu erteilen. Das Ober­gericht sah dies anders und wies die Staats­anwaltschaft zur Untersuchung an. Doch diese stellte anschliessend beide Verfahren ein. Keller beziehungs­weise sein Anwalts­team hat die Einstellungs­verfügungen angefochten. Beide Fälle sind derzeit am Obergericht hängig.

Toten­stille herrscht hingegen, was eine Straf­anzeige des Anwalts­teams gegen die Zürcher Justiz­behörden betrifft, die im Dezember 2021 eingereicht wurde. Die Anwälte werfen den Behörden Folter und unmenschliche Behandlung vor. Von irgend­welchen Untersuchungs­handlungen haben sie seither, bald ein Jahr später, nichts gehört.

Anders sieht es bei den 33 neuen Vorwürfen der Staats­anwaltschaft aus. Hier laufen die Untersuchungen auf Hoch­touren, der Akten­berg wächst ins Unermessliche. Bei den meisten Delikten, die Keller vorgeworfen werden, geht es um Treten, Schlagen, Spucken, Beissen, Schimpfen und Drohen, um Zerstörungen in der Zelle oder darum, dass der Insasse mit Gegen­ständen gegen die Türe oder die Aufseher warf.

«Es war eine Notstands­situation, das kann man nicht genug betonen», sagt Philip Stolkin. «Der Mann war einfach nur verzweifelt. Und die Provokationen waren durchaus wechselseitig.»

Der schlimmste Vorfall, den Staatsanwalt Ulrich Krättli unter anderem als versuchte schwere Körper­verletzung einstuft («Dossier 5»), hat sich im Januar 2019 ereignet. Brian Keller hatte zuvor in seiner Zelle ein Sicherheits­glas zertrümmert. Er warf ein handflächen­grosses Stück Glas gegen seine Zellen­türe, die ein paar Zentimeter weit geöffnet war, weil drei Aufseher mit einem Mopp putzen wollten. Das Glas­stück prallte an der Türe ab, traf einen Mitarbeiter und verletzte ihn leicht an der Stirn.

Das könne nie und nimmer als versuchte schwere Körper­verletzung eingestuft werden, sagt das Anwalts­trio. Keller habe gegen die Türe geworfen, und zwar nicht gegen den leicht geöffneten Tür­schlitz und schon gar nicht gegen einen Menschen. Es fehle am Vorsatz. Allenfalls könne man von einer Sach­beschädigung oder einer fahrlässigen Körper­verletzung reden.

Bleibt es bei der Qualifikation als versuchte schwere Körper­verletzung, ist nicht auszuschliessen, dass die Staats­anwaltschaft am Prozess zum wiederholten Male die Verwahrung des 27-Jährigen beantragen wird.

Brian Keller ist als Erwachsener einmal rechts­kräftig wegen versuchter schwerer Körper­verletzung schuldig gesprochen und zu einer unbedingten Freiheits­strafe von 18 Monaten verurteilt worden. Er hatte 2016 nach einer verbalen Auseinander­setzung einem Kickbox-Kollegen im Tram einen Faust­schlag versetzt. Das Opfer erlitt einen Unterkiefer­bruch.

Der Vorfall von 2017 im Pöschwies-Büro

Eine weitere Anklage ebenfalls wegen versuchter schwerer Körper­verletzung ist noch nicht rechtskräftig entschieden – auch dieser Fall liegt beim Zürcher Ober­gericht. Bereits zum zweiten Mal.

Hier geht es um einen Vorfall in der Pöschwies von Ende Juni 2017. Keller soll bei einer Besprechung im Büro die Beherrschung verloren und bei einem Gerangel einen Mitarbeiter leicht verletzt haben. Dafür und für weitere gefängnis­interne Delikte wurde er zu 6 Jahren und 4 Monaten Freiheits­strafe verurteilt. Das Bundes­gericht hob das Verdikt auf und spedierte den Fall zurück ans Ober­gericht. Dieses müsse sich auch mit den Aussagen und Beweis­mitteln Kellers befassen – das heisst: mit den von seinen Anwälten eingereichten Gutachten oder mit den Gefängnis­tagebüchern des Häftlings.

Die Vorinstanz habe nicht nur die Vollzugs­bedingungen in der Pöschwies zu würdigen, sondern die gesamte Justiz­geschichte des 27-Jährigen, befand das höchste Gericht. Dazu gehören unter anderem die unmenschlichen Haft­bedingungen im Gefängnis Pfäffikon. Oder die 13-tägige Fixierung an ein Spital­bett, als er knapp 16-jährig war. Oder die illegale Inhaftierung nach dem Abbruch des Sonder­settings 2013 – als er als «Jugend­straftäter Carlos» ins mediale Scheinwerfer­licht geraten war.

Bleibt die Frage, ob sich die Staats­anwaltschaft mit all diesen Hinter­gründen befassen wird, wenn sie dereinst im neuen, laufenden Verfahren ihre Anklage­schrift zu den «33 Delikten» verfasst. Belastungs­material kann der zuständige Staats­anwalt Ulrich Krättli zuhauf vorweisen, die Straf­anstalt Pöschwies hat alles fein säuberlich notiert, es liegen minuten­genaue Journale vor, und an aussage­willigen Gefängnis­mitarbeitern fehlt es nicht.

Wird Krättli also auch die entlastenden Argumente berücksichtigen, was gemäss Strafprozess­ordnung seine Pflicht wäre? Die Kritik des Uno-Sonder­bericht­erstatters für Folter, der Uno-Experten­gruppe für Menschen afrikanischer Abstammung, das Gutachten des «International Rehabilitation Council for Torture Victims» oder die mehrfach geäusserten Bedenken der schweizerischen Antifolter­kommission?

Die Mutter hält es nicht mehr aus

In «Dossier 13» wirft der Staats­anwalt Brian Keller einmal mehr Gewalt und Drohung gegen Beamte sowie versuchte Körper­verletzung vor. Geschildert wird ein Vorfall von Ende Mai 2019. Nach dem Verlassen des Besucher­raums mit Trenn­scheibe, gefesselt an Händen und Füssen, soll Keller gegen einen Aufseher beziehungs­weise gegen den Schutz­schild des Aufsehers geschlagen haben. Beim anschliessenden Gerangel soll er einen anderen Aufseher in den Ober­schenkel gebissen haben.

Warum bloss dieser Ausbruch?

Den Protokollen ist zu entnehmen, dass Keller zuvor Besuch von seinen Eltern hatte, die ihm auf der anderen Seite der Panzerglas­scheibe im Kabäuschen gegenüber­sassen. Offenbar hat die Mutter diesen Besuch und den Zustand ihres Sohns schlecht ertragen. Sie habe im Besuchs­raum, ausserhalb der Trennscheiben­kabine, minutenlang auf Französisch herum­geschrien. Brian hat dies mitbekommen. Hinter dem Panzer­glas, gefesselt an Händen und Füssen. Was die Mutter sagte, wird in den Akten nicht festgehalten.

Offensichtlich aber konnte der Sohn mit der Verzweiflung seiner Mutter nicht umgehen. Es war niemand da, der ihm beistand. Es gab nur sechs Aufseher in Schutz­montur, die ihn zurück in die Isolations­zelle bringen wollten.

Da schlug er auf den nächstbesten Schutz­schild ein.

Illustration: Till Lauer