«Das düsterste Kapitel unserer Justiz­praxis»

Die Staatsanwaltschaft beantragt Untersuchungs­haft, das Zwangs­massnahmen­gericht bewilligt sie. So läuft das meistens. Jetzt wird an diesem Mechanismus scharfe Kritik laut.

Von Lukas Häuptli, 29.09.2022

Synthetische Stimme
0:00 / 14:36

Manchmal geschieht es auf offener Strasse, manchmal in der eigenen Wohnung, manchmal sonst wo: Die Polizei verhaftet Verdächtige – allein im Kanton Zürich durch­schnittlich mehr als zwanzigmal am Tag. Ein Teil der Verhafteten kommt kurz danach vor eine Instanz, die der Öffentlichkeit kaum bekannt ist, die auf das Leben der Betroffenen aber einschneidenden Einfluss hat: vor das sogenannte Zwangs­massnahmen­gericht.

Eine der Verdächtigen war Raluca Radu (Name geändert). Die 39 Jahre alte Rumänin hatte als Kranken­pflegerin in Gross­britannien gearbeitet und war Anfang Jahr wegen der Arbeit in die Schweiz gereist. Doch hier kämpfte sie vor allem mit psychischen Problemen.

So drang sie an einem Samstag­abend im letzten April ins Gemeinde­zentrum von Zumikon ein. Dort spielte sie Klavier, verkleidete sich als Pflegerin und trank Spirituosen, viele Spirituosen. Später packte sie Geld und Gegenstände ein, die sie fand, zum Beispiel Samariter­material, aber auch eine Schere, einen Locher und verschiedene Leucht­stifte. Daraufhin suchte sie aber nicht das Weite, sondern verbrachte die Nacht und den Morgen im Gemeinde­zentrum. Deshalb konnte die Polizei die betrunkene und verwirrte Frau am Sonntag­mittag problemlos verhaften. Die Staats­anwaltschaft beantragte Untersuchungs­haft für sie; das Zwangs­massnahmen­gericht hiess den Antrag gut.

Nun sind Verhaftung und Untersuchungs­haft schwere Eingriffe in das Leben von Verdächtigen. Deshalb regeln Europäische Menschenrechts­konvention, Bundes­verfassung, Straf­gesetz und Strafprozess­ordnung deren Grund- und Verfahrens­rechte. Das Zentralste: Beschuldigte gelten bis zu einer rechtskräftigen Verurteilung als unschuldig.

So muss die Polizei Verhaftete nach spätestens 48 Stunden wieder freilassen (was in vielen Fällen geschieht) oder der Staats­anwaltschaft übergeben, die beim Zwangs­massnahmen­gericht Untersuchungs­haft beantragt. Das Gericht hat innerhalb von weiteren 48 Stunden zu entscheiden, ob es tatsächlich Haft anordnet oder die Verhafteten wieder freilässt.

Dazu muss man wissen: Zwangs­massnahmen­gerichte gibt es in der Schweiz erst seit 2011. Was ihr Zweck ist, hat der Bundesrat aber schon 2005 in seiner Botschaft zur Strafprozess­ordnung festgeschrieben. Dort heisst es: «Das Zwangs­massnahmen­gericht bildet ein nötiges Gegen­gewicht zu Polizei und Staats­anwaltschaft.»

Ein Gegen­gewicht, damit Polizei und Staats­anwaltschaft nicht grundlos Verdächtige in Haft nehmen – und nicht unverhältnis­mässig Freiheits­rechte von Beschuldigten beschneiden.

So will es das Gesetz.

Jetzt zeigen erstmals Statistiken, die der Republik vorliegen: Die Wirklichkeit sieht anders aus.

Es ist so: Die zwölf Zwangs­massnahmen­gerichte des Kantons Zürich haben letztes Jahr 1069-mal über Anträge der Staats­anwaltschaften auf Untersuchungs­haft entschieden. 976-mal hiessen die Gerichte die Anträge gut. 33-mal genehmigten sie diese zum Teil (was heisst, dass sie die Haft anordneten, die beantragte Haft­dauer aber verkürzten). Mit anderen Worten: Die Zwangs­massnahmen­gerichte entschieden fast immer zugunsten der Staats­anwaltschaften und zulasten der Beschuldigten.

In mehr als 94 Prozent der Fälle, um genau zu sein.

Von einem Gegen­gewicht zu Polizei und Staats­anwaltschaften, wie das der Bundesrat vorgesehen hatte, kann keine Rede sein.

Ein ähnliches Bild zeigt sich bei den Anträgen der Staats­anwaltschaften auf Verlängerung der Untersuchungs­haft sowie bei denjenigen auf Anordnung und Verlängerung der Sicherheits­haft (so heisst die Haft zwischen Anklage und rechts­kräftigem Urteil). Die Zwangs­massnahmen­gerichte hiessen im Durchschnitt neuneinhalb von zehn Anträgen gut. Und die Gerichte wiesen fast acht von zehn Anträgen von Beschuldigten auf Entlassung aus der Untersuchungs­haft ab. (In der Praxis gibt es natürlich auch Fälle, in denen die Staats­anwaltschaft die Haft von sich aus aufhebt.)

Warum ist dieses Ungleichgewicht – zumindest im Kanton Zürich – bis jetzt kaum ein Thema?

Aus einfachem Grund: Die Zahlen dazu gab es bis jetzt gar nicht.

So sagte der Zürcher Zwangs­massnahmen-Richter Thomas Müller 2019 der Republik: «Es gibt dazu keine Statistik.» Schob aber sofort nach, dass Anträge der Staats­anwaltschaft auf Untersuchungs­haft «regelmässig» abgelehnt würden.

Ablehnung in nicht einmal 6 Prozent aller Fälle: Ist das schon «regelmässig»?

«Man kommt zu schnell in Haft. Und bleibt zu lang in Haft»

Die zwölf Zwangs­massnahmen­gerichte des Kantons Zürich erstellten die Statistiken erst, nachdem die Demokratischen Jurist*innen Zürich (DJZ) dies verlangt hatten – gestützt auf die kantonale Verfassung und das kantonale Gesetz über die Information und den Datenschutz.

«Die Zahlen zeigen: Hier handelt es sich um ein strukturelles Problem», sagt Adam Arend, Anwalt und Vorstands­mitglied der DJZ. «Die Zwangs­massnahmen­gerichte entscheiden fast immer zugunsten der Staats­anwaltschaften. Das führt dazu, dass man zu schnell in Haft kommt – und zu lang in Haft bleibt.»

«Zwischen Zwangs­massnahmen­gerichten und Staats­anwaltschaften gibt es ein System kollektiver Verantwortungs­losigkeit», sagt Arend weiter. Die Staats­anwältinnen würden darauf hinweisen, dass sie nur Anträge stellten. Und die Zwangs­massnahmen-Richter darauf, dass sie den Staats­anwältinnen, die näher an den Fällen seien, die Arbeit nicht unnötig erschweren wollten.

Und schliesslich sagt Arend: «Haft ist für die Staats­anwaltschaften ein sehr potentes Mittel, um beschuldigte Personen zur Kooperation und zu – mitunter falschen – Geständnissen zu bewegen. Das ist rechts­staatlich problematisch und dient der Wahrheits­findung nicht.»

Arend macht auch auf die – eigentlich – strengen rechtlichen Bedingungen für die Anordnung von Untersuchungs- und Sicherheits­haft aufmerksam. Die sind: Gegen eine beschuldigte Person liegt ein dringender Tatverdacht wegen eines Verbrechens oder Vergehens vor. Und dazu besteht die konkrete Gefahr, dass die beschuldigte Person Zeugen beeinflusst und Beweise beseitigt (Kollusions- oder Verdunkelungs­gefahr), dass sie flüchtet (Flucht­gefahr) oder dass sie weitere Taten begeht (Ausführungs- oder Wiederholungs­gefahr).

Allerdings: Auch in diesen Fällen dürfen die Gerichte erst dann Untersuchungs­haft anordnen, wenn eine mildere Ersatz­massnahme nicht zum Ziel führt. Zu diesen zählen zum Beispiel Rayon­verbote, Kontakt­verbote oder Melde­auflagen. Die Untersuchungshaft gilt denn auch als Ultima Ratio der strafrechtlichen Zwangs­massnahmen.

Auch Tanja Knodel, Präsidentin des Vereins Pikett Straf­verteidigung, der für Beschuldigte Verteidiger vermittelt, kritisiert die Praxis: «Die Zwangs­massnahmen­gerichte sehen sich nicht als unabhängige Prüf­instanz, sondern nicken die Anträge der Staats­anwaltschaften lediglich ab.» Sie prüften nicht, ob ein dringender Tatverdacht vorliege. «Das führt zu Anordnungen von Untersuchungs­haft selbst in Fällen, in denen die Verdachtslage äusserst dünn ist», sagt Knodel.

Auch die Haftgründe würden nur rudimentär geprüft. «Kollusions­gefahr etwa wird immer bejaht, wenn die Staats­anwaltschaft noch etwas abzuklären hat, ganz egal, ob die beschuldigte Person darauf tatsächlich Einfluss nehmen kann oder nicht.»

Bloss eine Durchwink-Instanz?

Nun sind Beschuldigte und ihre Verteidigerinnen in einem Straf­verfahren natürlich Partei – und deshalb nicht unabhängig. Aber nicht nur sie kritisieren die Zwangs­massnahmen­gerichte, sondern auch Vertreter der Wissenschaft.

Marc Thommen, Professor für Strafrecht und Strafprozess­recht der Universität Zürich, sagt: «Die schweizerische Praxis der Untersuchungs­haft ist wohl das düsterste Kapitel unserer gegenwärtigen Justiz­praxis. Darauf werden wir in hundert Jahren nur noch mit ungläubigem Kopf­schütteln zurück­schauen.» Thommen spricht in diesem Zusammen­hang von einer «fatalen Verantwortungs­diffusion». So sei für die Anordnung der Untersuchungs­haft eine Richterin verantwortlich, für die Entlassung aus der Untersuchungs­haft aber eine Staats­anwältin. «Der Richter sagt sich: Ich ordne Haft an, der Staats­anwalt kann sie ja jederzeit wieder aufheben. Und der Staats­anwalt sagt sich, der Richter hat die Haft ja abgesegnet. Deshalb muss ich sie nicht wieder aufheben.»

«Bei einer Gutheissungs­quote von fast 100 Prozent stellt man sich schon die Frage nach der richterlichen Unabhängigkeit», sagt Marc Thommen weiter. Diese Frage sei besonders in Zürich drängend, wo im neuen Polizei- und Justiz­zentrum Staats­anwaltschaft und Zwangs­massnahmen­gericht unter einem Dach arbeiten. «Bei manchen Beschuldigten entsteht so der Eindruck, dass das Zwangs­massnahmen­gericht lediglich eine Durchwink-Instanz ist.»

Zurück zu Raluca Radu: Die 39-Jährige sass im Gefängnis Dielsdorf gut zweieinhalb Monate wegen Flucht- und Kollusions­gefahr in Untersuchungs­haft. Dann beantragte die Staats­anwaltschaft eine Verlängerung der Haft. Und wieder hiess das Zwangs­massnahmen­gericht den Antrag gut. Radu ist kein Einzelfall. Der Anteil der Ausländerinnen in Untersuchungs­haft ist überdurchschnittlich hoch; er liegt bei fast 80 Prozent. Das hat allerdings auch damit zu tun, dass viele ausländische Beschuldigte wegen Flucht­gefahr in Haft gesetzt werden.

Die Zwangsmassnahmen­gerichte, die im Kanton Zürich Teil der Bezirks­gerichte sind, lassen die Kritik an ihnen nicht gelten. «Der Umstand, dass die Gerichte Anträge der Staats­anwaltschaften auf Untersuchungs- oder Sicherheits­haft öfter gutheissen als abweisen, ändert nichts daran, dass sie die einzelnen Fälle stets unvoreingenommen prüfen und die Entscheide jeweils individuell begründen», antworten die Verantwortlichen in einer gemeinsamen Stellung­nahme auf eine Anfrage der Republik.

«Grund für die mehrheitlichen Gutheissungen dürfte sein, dass die Staats­anwaltschaften sorgfältig arbeiten und in der Regel nur dann Untersuchungs- oder Sicherheits­haft – als Ultima Ratio – beantragen, wenn Ersatz­massnahmen nicht ausreichen», schreiben die Gerichte.

Die Zwangsmassnahmen­gerichte müssen den Staats­anwaltschaften also gar nicht Gegen­gewicht sein? Weil die Staats­anwaltschaften fast alles richtig machen und nur dann Untersuchungs­haft beantragen, wenn Untersuchungs­haft auch gerechtfertigt ist?

Dagegen spricht, dass nicht nur die Zwangs­massnahmen­gerichte des Kantons Zürich fast immer für die Staats­anwaltschaften und gegen die Beschuldigten entscheiden, sondern auch diejenigen in anderen Kantonen – in solchen mit über­durchschnittlich vielen Haft­anträgen der Staats­anwaltschaften und in solchen mit unter­durchschnittlich wenigen.

So hielt Nora Markwalder, Professorin für Strafrecht an der Universität St. Gallen, 2020 in einer Untersuchung fest, dass ein nicht namentlich genanntes Zwangs­massnahmen­gericht des Kantons St. Gallen 2013 und 2014 alle 113 Anträge der Staats­anwaltschaft auf Untersuchungs­haft ganz oder teilweise gutgeheissen hatte.

Auch im Kanton Waadt lag die Gutheissungs­quote der Zwangs­massnahmen­gerichte in den Jahren 2011 bis 2018 bei jeweils deutlich mehr als 90 Prozent, wie der dortige Staats­anwalt Laurent Contat 2019 an einem Kriminologie­kongress ausführte. 2018 hiessen die Waadtländer Gerichte sogar sämtliche 597 Anträge auf Untersuchungs­haft gut.

Schliesslich ergab eine Umfrage von SRF 2018, dass Zwangs­massnahmen­gerichte von 18 Kantonen 97 Prozent aller Anträge der Staats­anwaltschaften gutgeheissen hatten. Dabei ging es allerdings nicht nur um Untersuchungs- und Sicherheits­haft, sondern auch um Ersatz­massnahmen und Überwachungen. Zürich, der bevölkerungs­reichste Kanton, gab auf die Umfrage keine Antwort.

Was neben der Frage der Grund- und Verfahrens­rechte von Belang ist:

Untersuchungs­haft ist teuer. Ein Tag kostet den Staat offiziell 186 Franken; die tatsächlichen Kosten seien aber wahrscheinlich höher, vermuten Fachleute. Ausserdem ist das Regime der Untersuchungs- und Sicherheits­haft hart. In zahlreichen Kantonen befinden sich die Verhafteten 23 Stunden am Tag in Einzelhaft; auch werden ihre Kontakte zu Verwandten und Bekannten massiv eingeschränkt. Allerdings prüfen mittlerweile mehrere Kantone Massnahmen zur Verbesserung der Haft­bedingungen. Zu ihnen zählt auch der Kanton Zürich, der einzelne Massnahmen bereits umgesetzt hat.

Wegen der harten Haft­bedingungen geschah es immer wieder, dass Beschuldigte in Untersuchungs­haft Suizid begingen; die Grundrechts­organisation Humanrights.ch hat diese Fälle zusammen­getragen. Auch aus diesem Grund rügte die Nationale Kommission zur Verhütung von Folter das Regime in der Untersuchungs­haft bereits mehrere Male. Sie hält fest: «Auch Untersuchungs­gefangene sollten einen verhältnis­mässigen Teil des Tages ausserhalb ihrer Zelle verbringen dürfen.»

Und was geschah mit der eingangs erwähnten Raluca Radu? Die 39-jährige und nicht vorbestrafte Rumänin sass fast 130 Tage in Untersuchungs- und Sicherheits­haft. Ende August schliesslich sprach sie das Bezirks­gericht Meilen wegen Hausfriedens­bruch und Diebstahl schuldig und verwies sie des Landes. Verurteilt wurde die Frau zu einer bedingten Geld­strafe; bedingt heisst, dass sie das Geld nicht zahlen muss, solange sie nicht rückfällig wird.

Mehr als vier Monate Gefängnis während der Untersuchung durch die Staats­anwaltschaft, aber nur eine bedingte Geldstrafe durch das Gericht. Die Frage erübrigt sich, welches die härtere «Strafe» für Radu war.