«Das düsterste Kapitel unserer Justizpraxis»
Die Staatsanwaltschaft beantragt Untersuchungshaft, das Zwangsmassnahmengericht bewilligt sie. So läuft das meistens. Jetzt wird an diesem Mechanismus scharfe Kritik laut.
Von Lukas Häuptli, 29.09.2022
Manchmal geschieht es auf offener Strasse, manchmal in der eigenen Wohnung, manchmal sonst wo: Die Polizei verhaftet Verdächtige – allein im Kanton Zürich durchschnittlich mehr als zwanzigmal am Tag. Ein Teil der Verhafteten kommt kurz danach vor eine Instanz, die der Öffentlichkeit kaum bekannt ist, die auf das Leben der Betroffenen aber einschneidenden Einfluss hat: vor das sogenannte Zwangsmassnahmengericht.
Eine der Verdächtigen war Raluca Radu (Name geändert). Die 39 Jahre alte Rumänin hatte als Krankenpflegerin in Grossbritannien gearbeitet und war Anfang Jahr wegen der Arbeit in die Schweiz gereist. Doch hier kämpfte sie vor allem mit psychischen Problemen.
So drang sie an einem Samstagabend im letzten April ins Gemeindezentrum von Zumikon ein. Dort spielte sie Klavier, verkleidete sich als Pflegerin und trank Spirituosen, viele Spirituosen. Später packte sie Geld und Gegenstände ein, die sie fand, zum Beispiel Samaritermaterial, aber auch eine Schere, einen Locher und verschiedene Leuchtstifte. Daraufhin suchte sie aber nicht das Weite, sondern verbrachte die Nacht und den Morgen im Gemeindezentrum. Deshalb konnte die Polizei die betrunkene und verwirrte Frau am Sonntagmittag problemlos verhaften. Die Staatsanwaltschaft beantragte Untersuchungshaft für sie; das Zwangsmassnahmengericht hiess den Antrag gut.
Nun sind Verhaftung und Untersuchungshaft schwere Eingriffe in das Leben von Verdächtigen. Deshalb regeln Europäische Menschenrechtskonvention, Bundesverfassung, Strafgesetz und Strafprozessordnung deren Grund- und Verfahrensrechte. Das Zentralste: Beschuldigte gelten bis zu einer rechtskräftigen Verurteilung als unschuldig.
So muss die Polizei Verhaftete nach spätestens 48 Stunden wieder freilassen (was in vielen Fällen geschieht) oder der Staatsanwaltschaft übergeben, die beim Zwangsmassnahmengericht Untersuchungshaft beantragt. Das Gericht hat innerhalb von weiteren 48 Stunden zu entscheiden, ob es tatsächlich Haft anordnet oder die Verhafteten wieder freilässt.
Dazu muss man wissen: Zwangsmassnahmengerichte gibt es in der Schweiz erst seit 2011. Was ihr Zweck ist, hat der Bundesrat aber schon 2005 in seiner Botschaft zur Strafprozessordnung festgeschrieben. Dort heisst es: «Das Zwangsmassnahmengericht bildet ein nötiges Gegengewicht zu Polizei und Staatsanwaltschaft.»
Ein Gegengewicht, damit Polizei und Staatsanwaltschaft nicht grundlos Verdächtige in Haft nehmen – und nicht unverhältnismässig Freiheitsrechte von Beschuldigten beschneiden.
So will es das Gesetz.
Jetzt zeigen erstmals Statistiken, die der Republik vorliegen: Die Wirklichkeit sieht anders aus.
Es ist so: Die zwölf Zwangsmassnahmengerichte des Kantons Zürich haben letztes Jahr 1069-mal über Anträge der Staatsanwaltschaften auf Untersuchungshaft entschieden. 976-mal hiessen die Gerichte die Anträge gut. 33-mal genehmigten sie diese zum Teil (was heisst, dass sie die Haft anordneten, die beantragte Haftdauer aber verkürzten). Mit anderen Worten: Die Zwangsmassnahmengerichte entschieden fast immer zugunsten der Staatsanwaltschaften und zulasten der Beschuldigten.
In mehr als 94 Prozent der Fälle, um genau zu sein.
Von einem Gegengewicht zu Polizei und Staatsanwaltschaften, wie das der Bundesrat vorgesehen hatte, kann keine Rede sein.
Ein ähnliches Bild zeigt sich bei den Anträgen der Staatsanwaltschaften auf Verlängerung der Untersuchungshaft sowie bei denjenigen auf Anordnung und Verlängerung der Sicherheitshaft (so heisst die Haft zwischen Anklage und rechtskräftigem Urteil). Die Zwangsmassnahmengerichte hiessen im Durchschnitt neuneinhalb von zehn Anträgen gut. Und die Gerichte wiesen fast acht von zehn Anträgen von Beschuldigten auf Entlassung aus der Untersuchungshaft ab. (In der Praxis gibt es natürlich auch Fälle, in denen die Staatsanwaltschaft die Haft von sich aus aufhebt.)
Warum ist dieses Ungleichgewicht – zumindest im Kanton Zürich – bis jetzt kaum ein Thema?
Aus einfachem Grund: Die Zahlen dazu gab es bis jetzt gar nicht.
So sagte der Zürcher Zwangsmassnahmen-Richter Thomas Müller 2019 der Republik: «Es gibt dazu keine Statistik.» Schob aber sofort nach, dass Anträge der Staatsanwaltschaft auf Untersuchungshaft «regelmässig» abgelehnt würden.
Ablehnung in nicht einmal 6 Prozent aller Fälle: Ist das schon «regelmässig»?
«Man kommt zu schnell in Haft. Und bleibt zu lang in Haft»
Die zwölf Zwangsmassnahmengerichte des Kantons Zürich erstellten die Statistiken erst, nachdem die Demokratischen Jurist*innen Zürich (DJZ) dies verlangt hatten – gestützt auf die kantonale Verfassung und das kantonale Gesetz über die Information und den Datenschutz.
«Die Zahlen zeigen: Hier handelt es sich um ein strukturelles Problem», sagt Adam Arend, Anwalt und Vorstandsmitglied der DJZ. «Die Zwangsmassnahmengerichte entscheiden fast immer zugunsten der Staatsanwaltschaften. Das führt dazu, dass man zu schnell in Haft kommt – und zu lang in Haft bleibt.»
«Zwischen Zwangsmassnahmengerichten und Staatsanwaltschaften gibt es ein System kollektiver Verantwortungslosigkeit», sagt Arend weiter. Die Staatsanwältinnen würden darauf hinweisen, dass sie nur Anträge stellten. Und die Zwangsmassnahmen-Richter darauf, dass sie den Staatsanwältinnen, die näher an den Fällen seien, die Arbeit nicht unnötig erschweren wollten.
Und schliesslich sagt Arend: «Haft ist für die Staatsanwaltschaften ein sehr potentes Mittel, um beschuldigte Personen zur Kooperation und zu – mitunter falschen – Geständnissen zu bewegen. Das ist rechtsstaatlich problematisch und dient der Wahrheitsfindung nicht.»
Arend macht auch auf die – eigentlich – strengen rechtlichen Bedingungen für die Anordnung von Untersuchungs- und Sicherheitshaft aufmerksam. Die sind: Gegen eine beschuldigte Person liegt ein dringender Tatverdacht wegen eines Verbrechens oder Vergehens vor. Und dazu besteht die konkrete Gefahr, dass die beschuldigte Person Zeugen beeinflusst und Beweise beseitigt (Kollusions- oder Verdunkelungsgefahr), dass sie flüchtet (Fluchtgefahr) oder dass sie weitere Taten begeht (Ausführungs- oder Wiederholungsgefahr).
Allerdings: Auch in diesen Fällen dürfen die Gerichte erst dann Untersuchungshaft anordnen, wenn eine mildere Ersatzmassnahme nicht zum Ziel führt. Zu diesen zählen zum Beispiel Rayonverbote, Kontaktverbote oder Meldeauflagen. Die Untersuchungshaft gilt denn auch als Ultima Ratio der strafrechtlichen Zwangsmassnahmen.
Auch Tanja Knodel, Präsidentin des Vereins Pikett Strafverteidigung, der für Beschuldigte Verteidiger vermittelt, kritisiert die Praxis: «Die Zwangsmassnahmengerichte sehen sich nicht als unabhängige Prüfinstanz, sondern nicken die Anträge der Staatsanwaltschaften lediglich ab.» Sie prüften nicht, ob ein dringender Tatverdacht vorliege. «Das führt zu Anordnungen von Untersuchungshaft selbst in Fällen, in denen die Verdachtslage äusserst dünn ist», sagt Knodel.
Auch die Haftgründe würden nur rudimentär geprüft. «Kollusionsgefahr etwa wird immer bejaht, wenn die Staatsanwaltschaft noch etwas abzuklären hat, ganz egal, ob die beschuldigte Person darauf tatsächlich Einfluss nehmen kann oder nicht.»
Bloss eine Durchwink-Instanz?
Nun sind Beschuldigte und ihre Verteidigerinnen in einem Strafverfahren natürlich Partei – und deshalb nicht unabhängig. Aber nicht nur sie kritisieren die Zwangsmassnahmengerichte, sondern auch Vertreter der Wissenschaft.
Marc Thommen, Professor für Strafrecht und Strafprozessrecht der Universität Zürich, sagt: «Die schweizerische Praxis der Untersuchungshaft ist wohl das düsterste Kapitel unserer gegenwärtigen Justizpraxis. Darauf werden wir in hundert Jahren nur noch mit ungläubigem Kopfschütteln zurückschauen.» Thommen spricht in diesem Zusammenhang von einer «fatalen Verantwortungsdiffusion». So sei für die Anordnung der Untersuchungshaft eine Richterin verantwortlich, für die Entlassung aus der Untersuchungshaft aber eine Staatsanwältin. «Der Richter sagt sich: Ich ordne Haft an, der Staatsanwalt kann sie ja jederzeit wieder aufheben. Und der Staatsanwalt sagt sich, der Richter hat die Haft ja abgesegnet. Deshalb muss ich sie nicht wieder aufheben.»
«Bei einer Gutheissungsquote von fast 100 Prozent stellt man sich schon die Frage nach der richterlichen Unabhängigkeit», sagt Marc Thommen weiter. Diese Frage sei besonders in Zürich drängend, wo im neuen Polizei- und Justizzentrum Staatsanwaltschaft und Zwangsmassnahmengericht unter einem Dach arbeiten. «Bei manchen Beschuldigten entsteht so der Eindruck, dass das Zwangsmassnahmengericht lediglich eine Durchwink-Instanz ist.»
Zurück zu Raluca Radu: Die 39-Jährige sass im Gefängnis Dielsdorf gut zweieinhalb Monate wegen Flucht- und Kollusionsgefahr in Untersuchungshaft. Dann beantragte die Staatsanwaltschaft eine Verlängerung der Haft. Und wieder hiess das Zwangsmassnahmengericht den Antrag gut. Radu ist kein Einzelfall. Der Anteil der Ausländerinnen in Untersuchungshaft ist überdurchschnittlich hoch; er liegt bei fast 80 Prozent. Das hat allerdings auch damit zu tun, dass viele ausländische Beschuldigte wegen Fluchtgefahr in Haft gesetzt werden.
Die Zwangsmassnahmengerichte, die im Kanton Zürich Teil der Bezirksgerichte sind, lassen die Kritik an ihnen nicht gelten. «Der Umstand, dass die Gerichte Anträge der Staatsanwaltschaften auf Untersuchungs- oder Sicherheitshaft öfter gutheissen als abweisen, ändert nichts daran, dass sie die einzelnen Fälle stets unvoreingenommen prüfen und die Entscheide jeweils individuell begründen», antworten die Verantwortlichen in einer gemeinsamen Stellungnahme auf eine Anfrage der Republik.
«Grund für die mehrheitlichen Gutheissungen dürfte sein, dass die Staatsanwaltschaften sorgfältig arbeiten und in der Regel nur dann Untersuchungs- oder Sicherheitshaft – als Ultima Ratio – beantragen, wenn Ersatzmassnahmen nicht ausreichen», schreiben die Gerichte.
Die Zwangsmassnahmengerichte müssen den Staatsanwaltschaften also gar nicht Gegengewicht sein? Weil die Staatsanwaltschaften fast alles richtig machen und nur dann Untersuchungshaft beantragen, wenn Untersuchungshaft auch gerechtfertigt ist?
Dagegen spricht, dass nicht nur die Zwangsmassnahmengerichte des Kantons Zürich fast immer für die Staatsanwaltschaften und gegen die Beschuldigten entscheiden, sondern auch diejenigen in anderen Kantonen – in solchen mit überdurchschnittlich vielen Haftanträgen der Staatsanwaltschaften und in solchen mit unterdurchschnittlich wenigen.
So hielt Nora Markwalder, Professorin für Strafrecht an der Universität St. Gallen, 2020 in einer Untersuchung fest, dass ein nicht namentlich genanntes Zwangsmassnahmengericht des Kantons St. Gallen 2013 und 2014 alle 113 Anträge der Staatsanwaltschaft auf Untersuchungshaft ganz oder teilweise gutgeheissen hatte.
Auch im Kanton Waadt lag die Gutheissungsquote der Zwangsmassnahmengerichte in den Jahren 2011 bis 2018 bei jeweils deutlich mehr als 90 Prozent, wie der dortige Staatsanwalt Laurent Contat 2019 an einem Kriminologiekongress ausführte. 2018 hiessen die Waadtländer Gerichte sogar sämtliche 597 Anträge auf Untersuchungshaft gut.
Schliesslich ergab eine Umfrage von SRF 2018, dass Zwangsmassnahmengerichte von 18 Kantonen 97 Prozent aller Anträge der Staatsanwaltschaften gutgeheissen hatten. Dabei ging es allerdings nicht nur um Untersuchungs- und Sicherheitshaft, sondern auch um Ersatzmassnahmen und Überwachungen. Zürich, der bevölkerungsreichste Kanton, gab auf die Umfrage keine Antwort.
Was neben der Frage der Grund- und Verfahrensrechte von Belang ist:
Untersuchungshaft ist teuer. Ein Tag kostet den Staat offiziell 186 Franken; die tatsächlichen Kosten seien aber wahrscheinlich höher, vermuten Fachleute. Ausserdem ist das Regime der Untersuchungs- und Sicherheitshaft hart. In zahlreichen Kantonen befinden sich die Verhafteten 23 Stunden am Tag in Einzelhaft; auch werden ihre Kontakte zu Verwandten und Bekannten massiv eingeschränkt. Allerdings prüfen mittlerweile mehrere Kantone Massnahmen zur Verbesserung der Haftbedingungen. Zu ihnen zählt auch der Kanton Zürich, der einzelne Massnahmen bereits umgesetzt hat.
Wegen der harten Haftbedingungen geschah es immer wieder, dass Beschuldigte in Untersuchungshaft Suizid begingen; die Grundrechtsorganisation Humanrights.ch hat diese Fälle zusammengetragen. Auch aus diesem Grund rügte die Nationale Kommission zur Verhütung von Folter das Regime in der Untersuchungshaft bereits mehrere Male. Sie hält fest: «Auch Untersuchungsgefangene sollten einen verhältnismässigen Teil des Tages ausserhalb ihrer Zelle verbringen dürfen.»
Und was geschah mit der eingangs erwähnten Raluca Radu? Die 39-jährige und nicht vorbestrafte Rumänin sass fast 130 Tage in Untersuchungs- und Sicherheitshaft. Ende August schliesslich sprach sie das Bezirksgericht Meilen wegen Hausfriedensbruch und Diebstahl schuldig und verwies sie des Landes. Verurteilt wurde die Frau zu einer bedingten Geldstrafe; bedingt heisst, dass sie das Geld nicht zahlen muss, solange sie nicht rückfällig wird.
Mehr als vier Monate Gefängnis während der Untersuchung durch die Staatsanwaltschaft, aber nur eine bedingte Geldstrafe durch das Gericht. Die Frage erübrigt sich, welches die härtere «Strafe» für Radu war.