Wie viel Störung muss der Rechts­staat aushalten?

Der Zürcher Bezirks­richter Roger Harris wird vorerst keine Klima­straffälle mehr behandeln – das Obergericht hat ein Ausstands­begehren gegen ihn gutgeheissen. Warum es so weit kam.

Von Brigitte Hürlimann, 19.11.2022

Vorgelesen von Egon Fässler
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Der Mann ist 31 Jahre alt. Im Juni 2020 hat er sich auf die Zürcher Quaibrücke gestellt, um auf die Klimakrise aufmerksam zu machen. Die Staats­anwaltschaft fordert einen Schuldspruch wegen Nötigung und wegen der Störung von Verkehrs­betrieben; Letzteres, weil auch Trams behindert wurden. Es sei eine bedingte Geldstrafe auszusprechen.

Bezirksrichter Roger Harris spricht den Beschuldigten am 30. August 2022 frei.

Die Staatsanwaltschaft erhebt Berufung.

Die Frau ist 46 Jahre alt. Im Oktober 2021 hat sie sich auf die Zürcher Rudolf-Brun-Brücke gestellt, um auf die Klimakrise aufmerksam zu machen. Die Staats­anwaltschaft fordert einen Schuldspruch wegen Nötigung. Es sei eine bedingte Geldstrafe auszusprechen.

Bezirksrichter Roger Harris spricht die Beschuldigte am 19. September 2022 frei.

Die Staatsanwaltschaft erhebt Berufung. Und sie reicht ein Ausstands­begehren gegen den Richter ein. Das heisst: Sie will nicht, dass er weitere Klimaprotest­fälle beurteilt. Sie erachtet ihn als befangen.

Das Zürcher Obergericht hat mittler­weile einen Entscheid über das Ausstands­begehren getroffen, er wurde den Parteien diese Woche zugestellt, aber nicht öffentlich kommuniziert. Weniger zurück­haltend zeigt sich die Staats­anwaltschaft.

Am Rande eines Berufungs­prozesses vor Obergericht am Freitag, bei dem es um die Klima­aktion vom 8. Juli 2019 am Zürcher Paradeplatz ging, lässt Staatsanwalt Daniel Kloiber verlauten, das von ihm eingereichte Begehren gegen Richter Harris sei gutgeheissen worden. Mit anderen Worten: Die Befangenheit des Richters oder aber der Anschein einer Befangenheit wird bejaht.

Dass das Obergericht überhaupt darüber zu befinden hatte, lässt vermuten, dass Harris nicht von sich aus in den Ausstand getreten ist. Der Richter will sich zum Verfahren und zum Entscheid nicht äussern. Sicher ist: Solange das Ausstands­begehren nicht rechtskräftig entschieden ist, wird er keine Klimaaktivisten­fälle mehr behandeln. Ein auf Anfang November festgelegter Prozess unter dem Vorsitz von Einzel­richter Harris fand nicht statt. Das Verfahren wurde sistiert, wie das Bezirks­gericht Zürich bestätigt.

Grund für das Ausstands­begehren war: Roger Harris hat im Gerichtssaal klargemacht, dass er nicht mehr gewillt sei, friedlich Demonstrierende schuldig zu sprechen. Das verstosse gegen die Europäische Menschen­rechts­konvention. Er habe früher anders entschieden, das heisst: Schuld­sprüche gefällt. Er habe etwas länger gebraucht, um zu merken, dass irgendwann jeder verfolgt werde, wenn das so weitergehe. Es gebe ein Mass an Behinderungen, das geduldet werden müsse, um die Meinungs­äusserungs- und Versammlungs­freiheit zu gewähren.

Das sagte er am Prozess vom 19. September bei der mündlichen Urteilseröffnung vor vollen Zuschauerreihen. Von den Medien war einzig die Republik anwesend.

Sehr unter­schiedliche Begründungen

Harris erwähnte damals auch, dass die Staats­anwaltschaft bisher gegen jeden seiner Freisprüche Berufung erhoben habe. Mit seinen früheren Schuld­sprüchen oder jenen seiner Richter­kolleginnen hatten die Ankläger selbstredend keine Probleme.

Was das Ausstandsbegehren gegen Roger Harris betrifft, lässt sich die Ober­staatsanwaltschaft in der NZZ mit folgenden Worten zitieren: «Aufgrund von Äusserungen des genannten Richters bei einer Urteils­eröffnung im Zusammen­hang mit Aktionen von Klima­aktivistinnen und -aktivisten stellt sich aus Sicht der Staats­anwaltschaft bei zukünftigen Urteilen dieses Richters die Frage, ob er noch unbefangen urteilen kann.»

Unbefangen bleibt offenbar, wer für gleiche Sachverhalte in Serie Schuld­sprüche ausspricht, von einem Prozess zum anderen. Und wenn Anwältinnen deswegen die Befangenheit von Richtern geltend machen, passiert: nichts. Die Bedenken werden weggewischt.

Doch wie begründet Richter Harris von der Mitte-Partei seine beiden letzten Freisprüche konkret – also in der ausführlichen und schriftlichen Version?

Die Urteilsbegründungen fallen sehr unterschiedlich aus.

Da ist einmal der ältere Fall, jener des 31-jährigen Mannes, der im Juni 2020 an der Klima­kundgebung auf der Quaibrücke teilgenommen hatte. Hier stellt Harris fest, dass die Demo viel kürzer gedauert habe als von der Staats­anwaltschaft angenommen – von 12 Uhr bis höchstens 14 Uhr. Die Brücke sei bis gegen 15.30 Uhr gesperrt geblieben, weil die Polizei vor Ort Personen­kontrollen und Wegweisungen durchgeführt habe. Dem beschuldigten Mann könne jedoch nur ein Brücken­aufenthalt von fünf Minuten nachgewiesen werden.

Hat der Klimaaktivist damit eine Nötigung begangen?

Nein, so die Schluss­folgerung des erst­instanzlichen Richters.

Der Beschuldigte hat weder «Gewalt angewendet» noch irgend­jemandem «ernstliche Nachteile angedroht», wie es im einschlägigen Tatbestand vorausgesetzt wird. Bei ihm ist zu prüfen, ob er «andere Beschränkungen der Handlungs­freiheit» vorgenommen hat – zulasten unbeteiligter Dritter, etwa Verkehrs­teilnehmer. Genau so wird im Strafgesetz das dritte Nötigungs­mittel umschrieben.

Solch «andere Beschränkungen» dürfen allerdings nicht leichtfertig bejaht werden. Das hält das Bundesgericht in aller Deutlichkeit fest. Es spricht gar von einer «gefährlich weiten» Tatbestands­variante, die einer Gewalt­anwendung oder der «Androhung ernstlicher Nachteile» nahekommen sollte. Das üblicherweise geduldete Mass an Beeinflussung müsse «eindeutig» überschritten werden, so das Bundesgericht.

(Aufs Stadtleben herunter­gebrochen ist etwa zu berücksichtigen, dass die Verkehrs­teilnehmerinnen oft im Stau stehen oder Umwege in Kauf nehmen müssen. Mit oder ohne Demonstrationen, seien diese bewilligt oder nicht. Aber das steht nicht im Urteil.)

Die Vorgaben des Gerichts­hofs für Menschen­rechte

Und damit zurück zum Strassen­blockaden­fall auf der Quaibrücke, zu dem die Organisation Extinction Rebellion aufgerufen hatte. Der 31-jährige Klima­aktivist hat an der Kundgebung teilgenommen und damit sein Grundrecht auf Versammlungs­freiheit ausgeübt – was unter dem Schutz der Europäischen Menschenrechts­konvention steht.

Richter Harris befasst sich in seinem Urteil vom 30. August ausführlich mit der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) in Strassburg zur Versammlungs­freiheit. Er hält fest:

  • Die Behörden müssen eine gewisse Toleranz an den Tag legen, wenn es um friedliche Demonstrationen geht. Im Regelfall dürfen diese nicht Gegenstand strafrechtlicher Sanktionen sein.

  • Einschränkungen der Versammlungs­freiheit sind nur legitim, wenn es um die nationale und öffentliche Sicherheit geht, um die Aufrecht­erhaltung der Ordnung, die Verhütung von Straftaten oder um den Schutz von Gesundheit und Moral.

  • Dass eine Demonstration unbewilligt war, rechtfertigt alleine noch keinen Eingriff in die Versammlungs­freiheit.

  • Solche Eingriffe dürfen nicht zu einem chilling effect führen – also keinen Abschreckungs­effekt für künftige Demos haben.

  • Die Interessen der Kundgebungs­teilnehmer sind gegen die Interessen der Verkehrs­teilnehmerinnen abzuwägen.

  • Es ist zu berücksichtigen, dass jede Demonstration auf öffentlichem Grund eine gewisse Störung verursacht, auch was den Strassen­verkehr betrifft. Eine schwere Störung liegt gemäss EGMR-Rechtsprechung vor, wenn drei Haupt­verkehrsachsen für eine Dauer von über 48 Stunden gesperrt werden (wie dies in einem litauischen Fall geschah).

Die Klimakundgebung vom Juni 2020 auf der Zürcher Quaibrücke war nicht bewilligt. Aber friedlich. Richter Harris erwähnt, dass der Verkehr nicht vollständig zum Erliegen kam, sondern wenige Stunden lang umgeleitet werden musste:

«In der Gesamtwürdigung aller Umstände, insbesondere aufgrund der bescheidenen Intensität der Störung des öffentlichen Lebens durch die Versammlungs­teilnehmenden, sind die Auflösung der friedlichen Demonstration nach lediglich tolerierten knappen 40 Minuten sowie eine strafrechtliche Verfolgung nicht verhältnismässig.»

Auf die angeklagte Nötigung angewandt, sei das «im Rahmen einer politischen Auseinander­setzung in einem demokratischen Staat duldbare Mass an Einfluss­nahme nicht derart überschritten», dass der Tatbestand erfüllt werde. Gemäss EGMR-Rechtsprechung sei der Eingriff in die Versammlungs­freiheit nicht gerechtfertigt gewesen. «Damit ist der Beschuldigte vom Vorwurf der Nötigung freizusprechen.»

Und weil sich der Klima­aktivist nur fünf Minuten lang auf der Fahrbahn der Quaibrücke aufgehalten habe – mehr sei nicht erwiesen –, kommt es auch zum Freispruch, was die Störung der Verkehrsbetriebe betrifft.

«Äusserst rudimentäre Beweis­mittel»

Beim Freispruch für die 46-jährige Klima­aktivistin, die im Oktober 2021 auf der Rudolf-Brun-Brücke stand, erspart sich der Einzel­richter all diese Ausführungen. Er kommt zum Schluss, dass «aufgrund der äusserst rudimentären Beweismittel» der angeklagte Sachverhalt nicht erstellt sei.

Die Staatsanwaltschaft stütze sich bei ihrer Anklage erstens auf einen Polizei­rapport. Das sei jedoch «ein blosses Behauptungs­papier». Zweitens werde eine Foto­dokumentation beigelegt – ohne Orts- und Zeitangaben. Die Fotos zeigten weder eine Kundgebung noch eine grössere Menschen­ansammlung oder wie lange sich die Frau auf der Brücke aufgehalten habe. Genötigte Verkehrs­teilnehmer seien auch nicht zu sehen. Ein strafbares Verhalten sei nicht nachgewiesen, die Beschuldigte vom Vorwurf der Nötigung freizusprechen.

So weit einige der richterlichen Argumente im begründeten Entscheid vom 19. September. Was auffällt: Manche Äusserungen anlässlich der kurzen, mündlichen Urteils­eröffnung im Saal – jene, die zum Ausstands­begehren führten – fehlen in der schriftlichen Begründung. Doch das ist nichts Ungewöhnliches.

Mündliche Urteilsbegründungen haben etwas Spontanes und Rudimentäres, sie richten sich in erster Linie an die Menschen im Saal. Auch bei den öffentlichen Urteils­beratungen vor Bundes­gericht fallen dann und wann markige Voten, die in den schriftlichen Entscheiden nicht festgehalten werden. Mündlich geäusserte, höchst­richterliche Kontroversen bleiben dem anwesenden Publikum vorbehalten.

Schade, eigentlich.

Heftige Kontroversen, ausgetragen in aller Öffentlichkeit, hat hingegen die Rechtsprechung von Bezirksrichter Roger Harris ausgelöst.

Für den Freiburger Strafrechts­professor Marcel Alexander Niggli ist klar, dass wegen Nötigung verurteilt werden muss, wer mit einer Strassen­blockade den Verkehr behindert. Im Interview mit der NZZ führt Niggli aus, eine Nötigung werde nur schon dann bejaht, wenn jemand sein Auto so parkiere, dass der andere nicht wegfahren könne. Die Klima­aktivisten, die den Verkehr blockierten, übten auch keinen zivilen Ungehorsam aus, sondern von der «Grundstruktur her eher eine Erpressung». Nicht alles, was legitim sei, sei legal.

Der Zürcher Jurist Andreas Dietschi hingegen warnt in einem Beitrag im Fachmagazin «Plädoyer» vor einer extensiven Auslegung und Anwendung des Nötigungs­tatbestands – eben dann, wenn weder Gewalt noch die «Androhung ernstlicher Nachteile» vorliegt. Die Intensität einer Nötigung müsse auf jeden Fall «gewaltähnlich» sein.

Der Autor nimmt Bezug auf zwei Blockade­aktionen, die am 8. Juli 2019 zeitgleich in Basel und in Zürich stattgefunden hatten. Aktivistinnen setzten sich damals vor die UBS in Basel und vor die Credit Suisse in Zürich. In beiden Städten wurden Dutzende von ihnen unter anderem wegen Nötigung angezeigt. Die Einzelrichterin in Basel sprach die Aktivistinnen frei, die ihren Strafbefehl angefochten hatten; der Einzelrichter in Zürich fällte Schuldsprüche.

Die neun in Zürich verurteilten Aktivistinnen haben das erstinstanzliche Urteil vor Obergericht gezogen und erneut Freisprüche gefordert. Vergebens. Die II. Strafkammer spricht sie alle der Nötigung schuldig und acht von ihnen zusätzlich noch wegen Hausfriedens­bruchs. Die Ober­richterinnen verschärfen sogar die bedingten Geldstrafen. Von Rechtfertigungs­gründen oder vom Absehen einer Strafe wollen sie nichts wissen. Eine Nötigung liege zweifellos vor. Und die Beweise seien ausreichend.

«Es hätte jede Menge legale Möglichkeiten gegeben. Die greifen nicht weniger rasch als die illegalen», so Gerichts­präsident Christoph Spiess bei der Urteils­eröffnung. «Ich ermuntere Sie, kämpfen Sie weiter, aber mit legalen Mitteln.»

Die Klimaaktivistinnen können das Urteil noch vor Bundes­gericht ziehen. Das Gleiche gilt für den Ausstands­entscheid gegen Richter Harris – auch hier steht der Rechtsweg nach Lausanne offen.

Was sicher ist: In Sachen Justiz­umgang mit Klima­protesten ist das letzte Wort noch längst nicht gesprochen.

(Urteile des Bezirksgerichts Zürich vom 30. August 2022, GG220099, und vom 19. September 2022, GB220088)