Das Klima vor Gericht
Sie fordern die Justiz heraus, Hunderte von Menschen, im ganzen Land. Sie gehen höchst unterschiedlich vor – und wollen doch das Gleiche: politisches Handeln. Und Antworten auf die Klimakrise. Auch von den Gerichten.
Von Brigitte Hürlimann (Text) und Toma Vagner (Bild), 15.03.2022
Sie spielen Tennis in der Schalterhalle einer Schweizer Grossbank oder leeren sackweise Kohle aus – in einer anderen Bank. Sie färben die Limmat giftgrün ein, schütten Kunstblut auf den Bundesplatz, hinterlassen rote Handabdrücke an den Fassaden, blockieren mit Sit-ins den Stadtverkehr oder postieren sich vor dem Eingang von Banken: Mit Pflanzentöpfen und Velos bewehrt und in weisse Overalls gekleidet, ketten sie sich an ihre Mitbringsel. Andere gründen ganz altmodisch einen Verein und machen der Bundesverwaltung die Hölle heiss – mit Rechtsmitteln bis an den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in Strassburg.
Doch völlig egal, ob sie sich Rebellen, Klimaaktivistinnen, Umweltschützer oder Klimaseniorinnen nennen und mit welchen Mitteln sie vorgehen – sie fordern stets das Gleiche: Die Schweiz müsse den CO2-Ausstoss reduzieren und alles unternehmen, um die Erderwärmung auf 1,5 Grad zu beschränken. So, wie es der Weltklimarat dringend empfiehlt.
Und dafür bleibe verdammt wenig Zeit.
Die Schweizer Politik versage kläglich, sind sich die Aktivisten einig. Greenpeace-Klimaspezialist Georg Klingler drückt es so aus: «Die Schweiz ist nicht auf Kurs. Als reiches Land hat sie übermässig vom CO2-Ausstoss profitiert, nun muss sie auch übermässig dagegen angehen. Die Klimakrise ist die grösste Bedrohung für die Menschenrechte – akut, in der Schweiz und weltweit. Weder Politik noch Unternehmen werden dieser Realität gerecht, ihr Handeln führt in eine Gefährdung der Grundrechte. Darum ist gewaltloser ziviler Ungehorsam gerechtfertigt. Gerichte, die mit diesem Ungehorsam konfrontiert werden, dürfen diesen nicht von der Klimafrage trennen.»
Doch geht es tatsächlich um zivilen Ungehorsam oder einfach nur um Gesetzesverstösse? Darf man Strassen und Eingänge blockieren, um auf die Klimakrise aufmerksam zu machen? Dürfen sich die Aktivistinnen auf eine Notstandssituation berufen, die zu Freisprüchen führen muss – oder sollten sie konsequenterweise eine Verurteilung akzeptieren?
Die Justiz beisst sich an diesen Fragen die Zähne aus.
1. Was von den Gerichten zu erwarten ist
Frage an die Zürcher Rechtsanwältin Nina Burri, die sich in ihrer Arbeit fürs Hilfswerk Heks schwergewichtig mit Klimagerechtigkeit und Menschenrechten befasst: Wie gehen die hiesigen Gerichte bisher mit der Aufarbeitung der Klimaaktionen um?
«Es gibt keinen roten Faden», sagt Burri. «Die Urteile fallen sehr unterschiedlich aus. Es kommt zu Freisprüchen und Verurteilungen, und die Begründung ist stets anders – ausser beim Bundesgericht, das zweimal eine Notstandslage verneint hat.»
Aber auch in der Rechtslehre herrsche keine Einigkeit. «Man muss den Gerichten zugutehalten, dass sie mit etwas Neuem konfrontiert werden, darum auch die Widersprüche. Das ist nicht unüblich bei neuen Rechtsfragen, vor allem in den untersten Instanzen der Justiz. Die strafrechtlichen Fälle werden oft vor Einzelrichtern behandelt, die sehr exponiert sind, manchmal vielleicht auch überfordert.»
Ein faires Verfahren müsse dennoch garantiert werden, sagt die Rechtsanwältin. «Die Gerichte haben sich mit den Tatsachen und den Beweisen zu befassen, die man ihnen vorlegt. Der Klimawandel ist eine der drängendsten Fragen der heutigen Zeit, und er hat eine rechtliche Implikation. Er beeinflusst bereits heute unser Leben, unsere Rechte. Das ist keine rein politische Sache.»
Ja, sagt Nina Burri, es gehe um grosse Fragen. «Aber Rechtsanwendung ist die Kernaufgabe der Gerichte, sie müssen diese Herausforderung annehmen.»
Stand heute, so ein erstes Zwischenfazit, herrscht in der Schweiz also ein Wirrwarr: Freisprüche hier, Schuldsprüche dort. Nachsicht und Verständnis auf der einen, Härte und Repression auf der anderen Seite.
Es gibt Richterinnen, die Experten vorladen und verstehen wollen, worum es geht. Und es gibt Richter, die kurzen Prozess machen. Die Strafverfolgerinnen nehmen die Aktivisten auffallend häufig gleich mal für zwei Tage fest und drücken ihnen anschliessend einen Strafbefehl in die Hand. Dazu kommen Wegweisungen, Rayonverbote oder die Anordnung, DNA zu entnehmen und erkennungsdienstliche Massnahmen durchzuführen: also Fingerabdrücke und Fotos für die Polizeiregister zu erfassen.
Zwischenfazit Nummer zwei: Wer sich für zivilen Ungehorsam im Namen der Klimagerechtigkeit entscheidet, riskiert viel.
Nina Burri sagt: «Diese Menschen sind sich bewusst, dass sie Grenzen überschreiten. Aber sie werfen sich ins Kreuzfeuer und nehmen einschneidende Konsequenzen in Kauf: Haft, ein Strafverfahren, einen Eintrag im Strafregister. Diese Menschen bringen Opfer.»
Markus Schefer, Professor für Staats- und Verwaltungsrecht an der Universität Basel, mahnt jedoch, von den Schweizer Gerichten sei keine Vorreiterrolle zu erwarten: «Wir haben kein Verfassungsgericht wie etwa Deutschland oder die USA und ein eher schwaches Bundesgericht. Es ist nicht dafür gemacht, bei grossen Veränderungen und gesellschaftlichen Fragestellungen voranzugehen. Die Richter müssen auch an ihre Wiederwahl denken. Doch das Klima stellt elementare Fragen von Grund- und Menschenrechten. Es ist wichtig, diese Fragen vor den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in Strassburg zu tragen. Allein mit ihm werden wir den Klimawandel zwar nicht schaffen, der Hauptbeitrag kommt von der Politik. Aber der Gerichtshof kann dazu beitragen.»
Einige Schweizer Fälle sind bereits vor dem Gerichtshof für Menschenrechte hängig – mit unterschiedlichen Ausgangslagen und dem immer gleichen Hintergrund: dass der Klimawandel akut dringlich und gefährlich ist.
Überall und für alle.
Und wie versuchen nun die Richterinnen und Staatsanwälte hierzulande die Klimaproteste konkret zu bewältigen und den Klimaaktivistinnen gerecht zu werden? Solche Verfahren und Prozesse dürften die Justiz noch länger beschäftigen – doch heute schon zeichnet sich (Zwischenfazit drei) eine Überforderung ab.
Warum? Vier Antworten anhand von vier Aktionen.
2. Die Aktion vor der UBS in Basel (Spoiler: Freisprüche)
Es ist der 8. Juli 2019, die Tage des Collective Climate Justice sind in vollem Gange. Kurz nach 6 Uhr morgens tauchen einige Dutzend Menschen in weissen Overalls vor dem Eingang der UBS am Aeschenplatz auf, mitten in der Stadt Basel. Sie sitzen am Boden, ketten sich an Betonfässer, haben eine Ladung Kohle und anderes mitgebracht.
«Schweizer Geld zerstört die Welt! Wir tolerieren das nicht mehr!» heisst es auf einem Banner. Kurz nach 14 Uhr wird der Platz polizeilich geräumt. Zahlreiche Aktivisten kommen in Haft. Rund 60 werden vom Staatsanwalt via Strafbefehl zu Geldstrafen und Bussen verdonnert. Die Vorwürfe:
Sachbeschädigung (aus öffentlicher Zusammenrottung und mit grossem Schaden);
Die Verurteilten akzeptieren die Schuldsprüche nicht, sie gehen vor Gericht. Einzelrichterin Susanne Nese (SP) führt eine Art Musterprozess mit fünf Beschuldigten durch. Mit dem Urteil vom 22. Januar 2021 spricht sie alle fünf frei – die übrigen Beschuldigten erhalten sogenannte «Ausdehnungsentscheide», mit denen sie ebenfalls freigesprochen werden. Die Basler Staatsanwaltschaft verzichtet auf eine Berufung. Die Freisprüche sind rechtskräftig geworden.
Die UBS will sich nicht zu ihrem Umgang mit Klimaaktivistinnen in der Schweiz äussern, weder generell noch in Bezug auf die Aktion am Aeschenplatz.
Drei Punkte sind beim Basler Verfahren bemerkenswert:
Erstens hat sich die Einzelrichterin die Mühe genommen, an der Hauptverhandlung zwei Zeugen zur Aktion zu befragen: den Einsatzleiter der Polizei und eine UBS-Mitarbeiterin. Beide bestätigen den friedlichen, kreativen Charakter des Happenings. Von einer Zusammenrottung oder einer aggressiven Stimmung könne keine Rede sein, niemand sei genötigt worden. Die Staatsanwaltschaft hört sich im Gerichtssaal diese Ausführungen an und fordert anschliessend im Plädoyer keine Verurteilungen mehr; in Abweichung zu ihren früheren Absichten. Bei der mündlichen Urteilsbegründung sagt die Richterin: Das Klima zu schützen, sei kein Verbrechen – aber auch «kein Freipass für militantere Aktionen».
Zweitens hatte die UBS schon im Vorfeld des Prozesses ihren Strafantrag wegen Hausfriedensbruch und Sachbeschädigung zurückgezogen; es kam zu einem Vergleich mit den Aktivistinnen. Ausserdem erklärte die Bank das Desinteresse an der Strafverfolgung der anderen Delikte – Offizialdelikte, die von Amtes wegen verfolgt werden müssen. Und die Bank konnte oder wollte auf Nachfrage der Staatsanwaltschaft hin niemanden nennen, der sich am Tag der Aktion genötigt gefühlt hätte.
Drittens wurde den Freisprüchen zum Trotz die Basler Aktion später doch noch Thema fürs Bundesgericht. Die Staatsanwaltschaft hatte für fast alle Aktivisten die Anordnung erlassen, sie erkennungsdienstlich zu erfassen und ein DNA-Profil zu erstellen. Dagegen erhob der Basler Advokat Andreas Noll Beschwerde – und gewann. Das Bundesgericht taxiert die Massnahmen als unverhältnismässig und ordnet an, die Fingerabdrücke und das DNA-Profil der Beschwerdeführer zu löschen. Zur Klärung der Vorwürfe sei beides nicht erforderlich gewesen. Es gebe zudem keine Anhaltspunkte für künftige oder bereits begangene Delikte «der erforderlichen Schwere», die solche Massnahmen erlaubten.
Das Bundesgericht macht in diesem Entscheid eine Aussage von zentraler Bedeutung. Es sagt, eine systematische Registrierung politisch aktiver Personen könnte zu einem Abschreckungseffekt führen, einem chilling effect.
Es bestehe die Gefahr, dass Aktivistinnen davon abgehalten würden, von ihren Grundrechten Gebrauch zu machen: von der Versammlungsfreiheit und der Meinungsäusserungsfreiheit. Eine solche Abschreckung, hält das Bundesgericht fest, stehe in «keinem vernünftigen Verhältnis zu den Zwecken, die mit der Erstellung eines DNA-Profils und einer erkennungsdienstlichen Erfassung verfolgt werden».
3. Die gleiche Aktion vor der CS in Zürich (Spoiler: Schuldsprüche)
Zurück zum 8. Juli 2019, an die Tage des Collective Climate Justice und an den Zürcher Paradeplatz. Zeitgleich wie in Basel versammeln sich ein paar Dutzend Menschen in weissen Overalls vor der CS-Filiale. Auch sie haben Velos und Pflanzentöpfe mitgebracht, sie ketten sich an und rufen: «Fossil banks too big to stay.»
Gegen 12 Uhr räumt die Polizei den Platz. Aktivisten werden festgenommen und 51 von ihnen per Strafbefehl abgeurteilt. 9 der Verurteilten akzeptieren die Schuldsprüche nicht und gehen vor Gericht. Ihnen wird Nötigung vorgeworfen, 8 von ihnen auch noch Hausfriedensbruch. Im Gegensatz zur UBS in Basel besteht die CS in Zürich auf einer Verurteilung – weder zieht sie ihre Anzeige wegen Hausfriedensbruch zurück, noch erklärt sie ihr Desinteresse am Vorwurf der Nötigung.
Einzelrichter Marius Weder (SP) hat über die Paradeplatz-Aktion zu befinden. Anders als die Richterkollegin in Basel lädt er keine Zeuginnen vor. Vergebens haben die Verteidiger beantragt, Klimaexpertinnen zu befragen; etwa Sonia Seneviratne oder Reto Knutti, beide von der ETH Zürich.
Und während sich der Basler Staatsanwalt am Basler Prozess davon hat überzeugen lassen, dass die Freisprüche rechtens sind und dem Beweisergebnis entsprechen, fordert der Zürcher Strafverfolger am Zürcher Prozess eine deutlich höhere Strafe, als er zuvor in den Strafbefehlen festgelegt hat. Für die neun Aktivistinnen, die es gewagt haben, ihre Sache vor Gericht zu ziehen, erhöht er die Anzahl der Tagessätze flugs um die Hälfte, von 60 auf 90 (à 30 Franken pro Tag) – und zwar ohne dass es zu zusätzlichen Untersuchungshandlungen gekommen wäre, wie das Verteidigerteam mahnt.
Er habe kein Verständnis für Gesetzesverstösse, betont Staatsanwalt Daniel Kloiber am Prozess. Es habe sich um einen bestens vorbereiteten Mob gehandelt, um eine Schmierenkomödie, eine billige Effekthascherei, um Selbstjustiz.
Einzelrichter Weder fällt am 14. Mai 2021 neun Schuldsprüche – allerdings mit milderen Strafen als vom Staatsanwalt gefordert: 40 Tagessätze à 10 Franken und 30 Tagessätze für jenen Beschuldigten, der nur wegen Nötigung vor Gericht stand. Die Bussen werden gesenkt.
Auch die CS will sich nicht zu ihrem Umgang mit Klimaaktivisten in der Schweiz äussern, weder generell noch in Bezug auf die Aktion am Paradeplatz.
Drei Bemerkungen zum Zürcher Urteil, das inzwischen in einer schriftlich begründeten Fassung vorliegt:
Erstens hielt es der Richter nicht für notwendig, Klimaexpertinnen zu befragen, weil die «menschenverursachte Klimaerwärmung», die in näherer Zukunft und je nach Weltregion zu «erheblichen negativen klimatischen Auswirkungen mit Folgeschäden» führen werde oder bereits führe, eine «gerichtsnotorische Tatsache» sei. Darüber müsse kein Beweis abgenommen werden.
Zweitens bezeichnete er die Tatsache, dass eine Grossbank wie die CS Investitionen in fossile Energieträger anbiete, die «der Eindämmung der Erderwärmung letztlich zuwiderlaufen», als ebenso «notorisch». Die CS stelle in diesem Markt einen «durchaus grossen Player» dar.
Und als dritten notorischen Punkt erwähnte (und bejahte) der Richter die Dringlichkeit der Anliegen, die die Klimaaktivisten auf die Strasse geführt hatte. Die Erderwärmung könne besser gestoppt werden, heisst es im Urteil, je früher und je stärkere Massnahmen dagegen ergriffen würden.
Doch von einem Notstand will Marius Weder nichts wissen. Auch andere Rechtfertigungsgründe kommen für ihn nicht infrage. Die Aktivistinnen hätten zwar einen «ehrenwerten Zweck verfolgt», sagt er bei der mündlichen Urteilseröffnung, aber das falsche Mittel gewählt: Sie hätten gegen das Gesetz verstossen.
Das sehen die Verurteilten anders. Sie haben die Schuldsprüche vors Zürcher Obergericht gezogen. Sie wollen freigesprochen werden. Der zweitinstanzliche Prozess ist noch hängig.
Erst im Nachhinein werden sie von zwei Bundesgerichtsurteilen erfahren, die ganz und gar nicht in ihrem Sinne ausfallen. Doch dazu später mehr. Zuerst wird in Lausanne ein Tennisnetz aufgespannt. Und Richter Colelough sorgt für eine kleine Sensation.
4. Tennis spielen in einer Lausanner Bank
Am 22. November 2018 kurz nach 13 Uhr betritt eine Gruppe von 20 bis 30 Personen als Tennisspielerinnen gekleidet eine CS-Filiale in Lausanne und beginnt mit einer pantomimischen Partie. Sie rollen verschiedene Transparente aus. Auf einem steht: «Crédit Suisse détruit le climat. Roger, tu cautionnes ça?» («Die Credit Suisse zerstört das Klima. Roger, billigst du das?»). Die Aktivisten haben die CS wegen deren Investitionsangebote in fossile Brennstoffe ausgewählt und erwähnen Tennisspieler Roger Federer, weil der sich von der CS sponsern lässt.
Das Tennisspiel in der Schalterhalle wird kurz nach 14 Uhr von der Polizei beendet.
Die CS stellt einen Strafantrag wegen Hausfriedensbruch. 12 Aktivistinnen werden per Strafbefehl schuldig gesprochen und zu bedingten Geldstrafen und Bussen verurteilt. Sie akzeptieren das nicht und gelangen ans Bezirksgericht Lausanne, wo sie von Einzelrichter Philippe Colelough (FDP) freigesprochen werden.
Der Richter befindet, die Beschuldigten könnten sich auf einen Notstand berufen – wegen der unmittelbaren Dringlichkeit und Gefährlichkeit der Erderwärmung. Zudem hätten sich die Aktivisten vor dem Tennis-Happening schon erfolglos mit ihrem Anliegen an die Bank gewandt. Colelough befragte am Prozess verschiedene Klima- und Finanzexpertinnen; darunter auch Sonia Seneviratne von der ETH Zürich.
Die Freisprüche und vor allem die Bejahung eines Notstands führten im ganzen Land zu Aufregung und, in manchen Kreisen, zu heller Empörung. Die Meinungen zum Urteil bleiben bis heute gespalten, auch innerhalb der Juristenkreise – wobei sich eine Mehrheit der Rechtswissenschaftlerinnen klar und dezidiert gegen eine Bejahung des Notstands ausspricht, darunter etwa der Freiburger Professor Marcel Alexander Niggli oder der Zürcher Strafrechtsprofessor Marc Thommen.
Die Freude der Freigesprochenen dauert nicht lange. Der Waadtländer Generalstaatsanwalt Eric Cottier legt Berufung ein, und das Kantonsgericht spricht am 22. September 2020 sämtliche Aktivistinnen schuldig, mit tieferen Geldstrafen und Bussen. Die zweitinstanzlich Verurteilten ziehen die Schuldsprüche vor Bundesgericht – und unterliegen dort erneut.
Das Bundesgericht hält nichts davon, dass sich Klimaaktivisten auf den Notstand berufen – es fehle am Erfordernis der «unmittelbaren Gefahr». Diese könne nur dann bejaht werden, wenn sie sich «innerhalb von wenigen Stunden» realisiere. Das Schulbeispiel dazu lautet: Eine Wanderin darf in eine Hütte einbrechen, um sich vor einem heranziehenden Sturm zu retten.
Ausserdem, so das Bundesgericht weiter, müsse man sich «zufällig mit einer kurzfristig eingetretenen Gefahr konfrontiert sehen». Und überhaupt sei es nicht zulässig, «zur Wahrung berechtigter oder höherrangiger Interessen» gesetzeswidrig zu handeln. Die Aktivisten hätten kollektive Interessen verteidigt, nicht ihre individuellen: «Der Gesetzgeber hat die Anwendung der Notstandsregelung auf solche Situationen indessen explizit ausgeschlossen.»
Auch von aussergesetzlichen Rechtfertigungsgründen wie etwa der «Wahrung berechtigter Interessen» will das Bundesgericht nichts wissen. Sich darauf zu berufen, gehe nicht an, da andere «Verteidigungsmittel» zur Verfügung stünden: «unzählige legale Methoden», etwa bewilligte Kundgebungen.
Wenige Monate nach seinem Entscheid vom Mai 2021 bestätigt das Bundesgericht seine Auffassung – in einem Urteil, bei dem es um rote Handabdrücke an einer Genfer Bankfassade geht. Ein Klimaaktivist hatte während einer Kundgebung diese Spuren hinterlassen. Die erste Instanz verurteilte ihn, die zweite anerkannte einen Notstand und sprach ihn frei, aber das Bundesgericht hob den Freispruch wieder auf: Der Aktivist könne sich nicht auf den Notstand berufen.
Beide Fälle, das Tennisspielen in Lausanne und die roten Handabdrücke in Genf, sind derzeit vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in Strassburg hängig.
Der Basler Advokat Andreas Noll hat sich die Begründung des Bundesgerichts näher angeschaut und zum Thema «Protestaktionen und klimaspezifische Rechtfertigungsgründe» eine Monografie verfasst, die im April erscheinen wird. Noll ist erstaunt, dass die höchsten Richter der Schweiz unter anderem auf eine über 100 Jahre alte Notstandsauslegung zurückgreifen, um die Klimaaktivistinnen in die Schranken zu weisen.
Was die Regel betrifft, dass sich die Gefahr «innerhalb von wenigen Stunden» realisieren müsse, orientiere sich das Bundesgericht zudem an alten Urteilen zu Schwangerschaftsabbrüchen, stellt Noll fest. Es gehe um Entscheide aus Zeiten, in denen der Abbruch noch verboten war. Ein Arzt durfte damals nur straflos eingreifen, wenn das Leben der Mutter unmittelbar – «innerhalb von wenigen Stunden» – bedroht war.
Dieses Konstrukt wird nun auf die Klimaproteste angewandt, zusammen mit dem historischen Notstandsverständnis.
Nolls Kommentar dazu: Das Bundesgericht lasse sich nicht auf die Debatte ein und beharre «geradezu störrisch darauf», dass der Klimawandel kein juristisches, sondern ein ausschliesslich politisches Problem darstelle. Um den Klimanotstand angemessen zu würdigen, müsse aber die heutige Situation beurteilt werden: «Die Gerichte entscheiden über aktuelle Fragen, es geht um die Gegenwart, nicht um rechtliche Archäologie.»
5. Die Klimaseniorinnen
Es ist der 25. November 2016. In Bundesbern trifft dicke Post ein. Adressaten: der Bundesrat, das Eidgenössische Departement für Umwelt, Verkehr, Energie und Kommunikation sowie das Bundesamt für Umwelt und das Bundesamt für Energie. Zwei Anwältinnen aus Zürich reichen im Namen des Vereins Klimaseniorinnen und von vier Gesuchstellerinnen ein Begehren ein – 155 Seiten lang. Plus Beilagen.
Die Absenderinnen verlangen von der Bundesverwaltung, es seien «sämtliche Handlungen vorzunehmen, die nötig sind, um die Treibhausgasemissionen bis 2020 so zu reduzieren», dass der Beitrag der Schweiz dem Ziel einer Erderwärmung von deutlich unter 2 Grad entspreche. (So das Rechtsbegehren von 2016. Heute ist nur noch von der 1,5-Grad-Limite die Rede.)
Mehr als fünf Jahre später muss festgestellt werden: Das Begehren der Seniorinnen ist sowohl in der Bundesverwaltung als auch bei sämtlichen Schweizer Gerichtsinstanzen auf taube Ohren gestossen. Es hat allerdings weltweit Beachtung gefunden und ist derzeit vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in Strassburg hängig.
Initiiert wurde der Verein von Greenpeace Schweiz respektive von Klimaspezialist Georg Klingler. Er hatte zuvor beobachtet, wie in Holland eine Bürgeraktion erfolgreich den Rechtsweg beschritt – und fand, dass es genau das auch in der Schweiz brauche. «Die aktuelle Klimapolitik der Schweiz ist verfassungswidrig, weil sie nachweislich nicht ausreicht, um zur Stabilisierung der globalen Erderwärmung beizutragen», sagt Klingler.
Die Klimaseniorinnen machen geltend, sie seien heute schon wegen des Klimawandels an Leib und Leben gefährdet. Sie beschreiben die konkreten Beschwerden und gesundheitlichen Probleme, die sie in den Hitzewellen von 2003, 2015, 2018 und 2019 erlebt haben. Und sie verlangen vom Staat, dass er sie künftig schützt.
Was er bisher versäumt habe.
Die Strassburger Instanz entscheidet im März 2021, den Fall der Klimaseniorinnen prioritär zu behandeln, und fordert die Schweiz zu einer Stellungnahme auf. Diese trifft wenige Monate später ein. Das Eidgenössische Justiz- und Polizeidepartement teilt im Namen der Schweiz mit, die Klage der Seniorinnen sei zu spät eingereicht worden und deshalb unzulässig. Sprich: Der Gerichtshof dürfe nicht darauf eingehen. Ausserdem fehle es den Beschwerdeführerinnen am Opferstatus, und die Garantien der Menschenrechtskonvention würden auch nicht verletzt.
Die Schweiz unternehme alles Notwendige, heisst es von Bundesbern, um ihren Beitrag an den Klimaschutz zu leisten.
Die Haltung erstaunt nicht. Schon das Bundesgericht hatte in seinem Urteil über die Klimaseniorinnen befunden, diese seien nicht «mit der erforderlichen Intensität» in ihren Grundrechten berührt. Es gebe noch genügend Zeit, um die Pariser Klimaziele zu erreichen. Und überhaupt, fanden die höchsten Richter: Die Anliegen der Beschwerdeführerinnen «sind nicht auf dem Rechtsweg, sondern mit politischen Mitteln durchzusetzen».
Der Gang der Schweizer Seniorinnen nach Strassburg findet dennoch breite Unterstützung. Die Uno-Menschenrechtskommissarin Michelle Bachelet hat sich als Drittperson mit einer ausführlichen Intervention an den Gerichtshof gewandt, ebenso drei Uno-Sonderberichterstatterinnen sowie Schweizer Rechtsprofessoren und Klimaexpertinnen. Alle begrüssen das Vorgehen der Seniorinnen, betonen die Dringlichkeit der Klimakrise – und die Notwendigkeit, dass auch der Gerichtshof für Menschenrechte Antworten dazu liefere.
Immerhin, so schreiben die Intervenienten, stünden gleich mehrere Grundrechte auf dem Spiel.
6. Massenverfahren in Lausanne und Zürich
Alle Augen sind nach Strassburg gerichtet, der Entscheid wird mit Spannung erwartet. Doch hierzulande und von einer breiten Öffentlichkeit fast unbemerkt, findet seit einigen Monaten höchst Ungewöhnliches statt – Massenarretierungen und Massenprozesse, landauf und landab, allen voran in Lausanne und in Zürich.
Grund für die Überbeanspruchung von Strafverfolgerinnen und Strafrichtern sind jene Formen des Klimaprotests beziehungsweise des zivilen Ungehorsams, bei denen Hunderte Menschen Strassen und Brücken blockieren, um auf ihre Anliegen aufmerksam zu machen. Die Aktivistinnen suchen sich mit Vorliebe zentrale Plätze in grösseren Städten aus, und sie nehmen in Kauf, dass der Verkehr vorübergehend nicht mehr fliesst. Zu solchen Aktionen ruft vor allem die Organisation Extinction Rebellion auf, die in mehreren Ländern tätig ist.
Die Rebellen agieren nicht überraschend, sondern machen ihre Aktionen im Voraus bekannt. Bewilligungen für ihre Kundgebungen holen sie meist nicht ein; sie verweisen auf einen Entscheid des Gerichtshofs für Menschenrechte, in dem klargestellt wird, dass auch unbewilligte, friedliche Demonstrationen unter dem Schutz der Versammlungs- und der Meinungsäusserungsfreiheit stehen.
Im September 2019 setzen sich über 200 Menschen im Zentrum von Lausanne auf dem Pont Bessières auf die Strasse. Sie machen auf die Gefahren des Klimawandels aufmerksam. Im Juni 2020 geschieht das Gleiche auf der Quaibrücke in Zürich, im Oktober 2021 ein weiteres Mal auf der Rudolf-Brun-Brücke in Zürich, wo eine Aktion für eine Woche angekündigt wird. Zu Strassenblockaden kommt es nur an den ersten zwei Tagen.
Alle drei Aktionen mit je rund 200 Teilnehmerinnen führen zu polizeilichen Festnahmen und zu Schuldsprüchen via Strafbefehl – die in vielen Fällen angefochten und nun in Lausanne und Zürich in nicht enden wollenden Prozesslawinen abgehandelt werden. Ein paar Dutzend solcher Verhandlungen gegen Strassen blockierende Klimaaktivisten sind vorüber, die ersten Schuldsprüche bereits vor den zweiten Gerichtsinstanzen hängig.
Manche der Verurteilten wollen ihre Sache notfalls bis nach Strassburg ziehen. Sie berufen sich auf einen Notstand, auf Rechtfertigungsgründe und auf ihr Recht, friedlich zu demonstrieren und ihre Meinung zu äussern, mit oder ohne Bewilligung.
In der Waadt haben sich die Aktivistinnen zur Organisation Le procès des 200 zusammengeschlossen. Sie führen eine Statistik über die bereits erfolgten und noch ausstehenden Prozesse in Lausanne, über die eingeklagten Delikte, die Anzahl der Schuld- und der Freisprüche, über Art und Höhe der Strafen – und über die jeweiligen Urteilsbegründungen.
Vergebens hatten sie gefordert, gemeinsam vor Gericht beurteilt zu werden: damit sie ihre Teilnahmerechte am Verfahren und am Strafprozess wahrnehmen können, damit es nicht zu widersprüchlichen Urteilen kommt. Und weil es doch um den gleichen Vorfall gehe, den man nur gemeinsam habe begehen können: eine Tat mit mehreren Mittätern.
«Allein schafft niemand eine Strassenblockade», sagt ein Sprecher von Le procès des 200, der anonym bleiben will. Der Mann ist Anfang Dezember von einer Lausanner Einzelrichterin zu einer bedingten Geldstrafe und einer Busse verurteilt worden.
«Ich war schon verurteilt, als ich den Gerichtssaal betrat», ist er überzeugt. Die wenigen Freisprüche, die Anfang dieses Jahres überraschenderweise gefallen seien, habe die zuständige Richterin mit mangelhaften Polizeiprotokollen begründet – nicht etwa mit der Rechtmässigkeit und Notwendigkeit der Aktionen.
In der gleichen Situation befindet sich derzeit das Bezirksgericht Zürich, das ebenfalls eine Menge Prozesse zu bewältigen hat: wegen der Klimablockaden im Juni 2020 und im Oktober 2021. Und wie ihre Kolleginnen in der Waadt haben auch die Zürcher Verteidiger vergebens eine Vereinigung der Strafverfahren gefordert – aus den bereits genannten Gründen.
«Es ist ein kurzfristiges Denken», sagt Rechtsanwalt Markus Wyttenbach, «denn irgendwann gehen dem Bezirksgericht die Richter aus. Wer eine Aktivistin abgeurteilt hat, darf keinen zweiten Fall mit dem gleichen Sachverhalt übernehmen, sonst wäre er vorbefasst und damit kein unabhängiger Richter mehr. Auch die Strassenblockierer haben ein Recht darauf, rechtsstaatlich korrekt behandelt zu werden.»
Das Obergericht des Kantons Zürich hat im November 2020 allerdings entschieden, dass ein Verfahren mit über 200 Beschuldigten nicht vereinigt werden müsse; obwohl dies gemäss Strafprozessordnung dem Grundsatz und dem Regelfall entspreche. Das Urteil betrifft die Klimaaktion von 2020 auf der Quaibrücke. Eine Ausnahme sei zulässig, so das Obergericht, weil eine Strafuntersuchung mit derart vielen Beschuldigten einen «unverhältnismässigen Aufwand» bedeuten und zu Verzögerungen führen würde.
Was bei den Massenverfahren gegen die Strassenblockiererinnen auffällt: Wer polizeilich weggeführt wird, landet mit grosser Sicherheit in der Polizeihaft. Und zwar nicht nur ein paar Stunden lang, sondern häufig gleich für zwei Tage; das ist das Maximum, das ohne Antrag auf U-Haft und richterlichen Beschluss verhängt werden kann.
Rechtsanwalt Wyttenbach vermutet, dass die Klimaaktivisten mit der häufig angeordneten und maximal langen Polizeihaft abgeschreckt werden sollen. Wenn Corona-Massnahmen-Gegnerinnen im Grossaufmarsch und ohne Bewilligung durch die Schweizer Städte zögen und dadurch das Stadtleben behinderten, sagt er, sei es nicht massenweise zu Festnahmen gekommen. Jedenfalls soweit ihm bekannt sei.
Eine Anfrage bei der Zürcher Staatsanwaltschaft und der Stadtpolizei ergibt, dass bei der Aktion auf der Quaibrücke 257 Personen kontrolliert wurden, wovon 5 auf die Polizeiwache mussten. Die Staatsanwaltschaft erliess «weit über 100 Strafbefehle», gegen die meisten habe es keine Einsprache gegeben. Sie sind rechtskräftig geworden.
Während der Kundgebung auf der Rudolf-Brun-Brücke wurden 209 Personen kontrolliert, 61 davon an die Staatsanwaltschaft übergeben. Anlässlich dieser Aktionswoche habe man die «grosse Haftstrasse der Kantonspolizei in der Kaserne» in Betrieb genommen, dort gebe es mehrere Sammelzellen. Wegen der Covid-Situation sei in diesen Zellen am Boden markiert worden, wo sich die Arrestanten aufhalten dürfen.
7. Bahnbrechende Urteile aus Holland und Deutschland
Düstere Aussichten also für die Aktivistinnen? Für all jene, die sich aus Sorge ums Klima und um die Zukunft unseres Planeten auf die Strasse stellen? Oder in der Bank Tennis spielen? Oder die Behörden via Klagen zum Tätigwerden zwingen wollen? Die sich, um es nochmals in den Worten von Rechtsanwältin Nina Burri zu sagen, «ins Kreuzfeuer werfen und einschneidende Konsequenzen in Kauf nehmen»?
Schlussfazit: Mitnichten.
In anderen Ländern reagieren die Gerichte anders. Sie ziehen sogar die Unternehmen in die Verantwortung – nicht nur Politik und Behörden. Das Bezirksgericht Den Haag beispielsweise entschied im Mai 2021, Shell müsse bis 2030 seine gesamten CO2-Emissionen gegenüber dem Basisjahr 2019 um 45 Prozent senken. Das ist mehr als doppelt so viel, wie der Ölmulti von sich aus bis zu diesem Datum reduzieren wollte.
Knapp einen Monat zuvor trifft aus dem deutschen Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe ein ebenso bahnbrechendes Urteil ein.
Das deutsche Klimagesetz sei mit den Grundrechten unvereinbar, befinden die Verfassungsrichter. Die zum Teil noch sehr jungen Beschwerdeführerinnen seien in ihren Freiheitsrechten verletzt, die vorgesehenen Massnahmen bis 2030 ungenügend. «Die Vorschriften verschieben hohe Emissionsminderungslasten unumkehrbar auf Zeiträume nach 2030.» Das heisst, die jüngere Generation muss mit massiven Einschränkungen rechnen, weil in der Gegenwart zu wenig unternommen wird – die «Treibhausgasminderungslast» werde einseitig in die Zukunft verlagert, heisst es im Urteil.
Hier die Seniorinnen, die Dampf machen, dort die Jungen, die mit ihrer Verfassungsbeschwerde gewinnen. Hier die Strassenblockierer, dort die Bankenbelagerinnen. Und mittendrin die Gerichte, die aufgerufen werden, sich an der Lösungsfindung zu beteiligen. Justitia ist blind – das heisst: unvoreingenommen und unabhängig.
Aber taub gegenüber den drängendsten Fragen der Gegenwart darf sie nicht sein.