«Warum zerstören wir einander?»
Die Liebesbeziehung zwischen Ingeborg Bachmann und Max Frisch ist längst von Mythen umstellt. Nach jahrzehntelanger Sperrung erscheint nun ihr Briefwechsel. Eine Sensation – und ein Dokument gegenseitiger Versehrung.
Von Daniel Graf, 19.11.2022
Es beginnt schon mit einer Lücke. Brief 1, von Ingeborg Bachmann im Juni 1958 an Max Frisch geschrieben, ist in Wirklichkeit der zweite: die Antwort auf einen nicht überlieferten Brief von Frisch.
Bevor beide einander zum ersten Mal schreiben, haben sie bereits aus der Literatur ein Bild voneinander. «Verehrter, lieber Max Frisch», das gilt dem Autor des «Homo faber» – der sich seinerseits schon Monate zuvor gegenüber dem israelischen Lyriker David Rokeah, einem gemeinsamen Bekannten, bewundernd über Bachmanns Gedichte geäussert hatte. Und ihr nun Ähnliches geschrieben haben dürfte.
Bachmann und Frisch: Die vielleicht am stärksten skandalisierte, von Legenden umraunte Paargeschichte der deutschsprachigen Literatur ist von Anfang an selbst literarisch überformt. Ihre rund vier Jahre andauernde Beziehung und mehr noch ihr Scheitern ist in eigene und fremde literarische Werke eingegangen. Die Versehrtheit, mit der besonders Ingeborg Bachmann aus dem Versuch eines gemeinsamen Lebens hervorging, beschäftigt die Forschung und die literarische Öffentlichkeit seit Jahrzehnten, und dass die Korrespondenz der beiden nicht zur Veröffentlichung freigegeben war, nährte die Neugier und die Spekulation nur umso mehr.
In diesen Tagen erscheint nun der Briefwechsel als eigenständige Publikation und zugleich im Rahmen der 2017 begonnenen Salzburger Bachmann Edition; die Geschwister von Ingeborg Bachmann haben der Veröffentlichung zugestimmt, die von Frisch verhängte Sperrfrist ist ohnehin 2011 abgelaufen.
Die Briefe selbst zeigen, dass Ingeborg Bachmann deren Veröffentlichung nicht gewollt hat, weil sie intimste Details preisgeben. Die Frage, ob man sie, knapp 50 Jahre nach dem Tod der Autorin, dennoch veröffentlichen darf, haben die Erben nun mit Ja beantwortet, womit die Briefe unwiderruflich in der Welt sind. Doch stellt sich die Legitimitätsfrage auch jeder Leserin. Auch wenn sich das Dilemma nicht auflösen lässt, vielleicht gehören zu den Grundvoraussetzungen des Lesens hier noch ungleich mehr als sonst: eine problembewusste Lektürehaltung; Verzicht auf vorschnelles Urteilen; die Einsicht, dass sich auch in diesen Briefen nur ein fragmentarisches Bild zeigt. Nach Jahrzehnten der Spekulation werden nun jedenfalls die Stimmen der Beteiligten selbst hörbar, und den Gerüchten wird eine fundierte wissenschaftliche Einordnung entgegengestellt.
Über 1000 Seiten stark ist der Band inklusive eines umfangreichen wissenschaftlichen Apparats. Trotzdem ist die Überlieferung nur unvollständig: Bachmann hatte nach der endgültigen Trennung fast alle Briefe von Frisch vernichtet – die meisten der jetzt publizierten Frisch-Briefe sind nur aufgrund von Abschriften und Durchschlägen in seinem eigenen Nachlass erhalten; insgesamt umfasst die Edition etwa doppelt so viele Briefe von Bachmann wie von Frisch. Und wer sich nun fragt, warum zur Hölle Max Frisch von seinen eigenen Briefen Kopien erstellt hat, ist schon mittendrin in dieser abgründigen Liebesgeschichte mit all ihren Extrem-, Kipp- und Wendepunkten, ihrer ständig ins Rote ausschlagenden Amplitude, ihren zahlreichen Nebenfiguren, dem hochliterarischen Rosenkrieg schon zu Paarzeiten und den verheerenden Nachwirkungen einer für beide heillosen Liebe.
Paris
Im ersten Brief an Max Frisch hatte Bachmann noch ein Treffen in Zürich vorgeschlagen, was wegen eines Spanienaufenthaltes von ihm nicht zustande kam. Gut drei Wochen später, am 3. Juli 1958, sehen sie einander tatsächlich das erste Mal – in Paris. Frisch ist dort, weil das Zürcher Schauspielhaus mit zwei seiner Stücke am Théâtre des Nations gastiert. Als Bachmann aus der Presse von dem Gastspiel und Frischs Parisreise erfährt, bemüht sie sich um seine Hoteladresse. Sie ist schon seit Juni in der Stadt, unter speziellen Bedingungen. Ihre im vorherigen Jahr wieder aufgeflammte Beziehung zu Paul Celan, der in Paris lebt, ist seit Anfang Mai beendet; die Treffen mit ihm und erstmals auch mit seiner Frau Gisèle Celan-Lestrange stehen jetzt nur noch unter freundschaftlichen Vorzeichen.
Die Begegnung mit Frisch führt direkt in eine Liebesgeschichte, die schon zu Beginn nichts Unbelastetes kennt. «Du willst, dass wir verschwunden sind füreinander. Ich werde weiter warten auf dich», schreibt Frisch noch in Paris. Er, der getrennt von seiner Frau und den drei Kindern lebte, war seit 1952 in einer Beziehung mit der Übersetzerin Madeleine Seigner. Die Fragen, wer sich wann für wen entscheidet, wer wann auf ein Wort und einen Entschluss des anderen wartet, das ständige Pendeln zwischen Sehnsuchts- und Vorwurfston prägen die Briefe zwischen Frisch und Bachmann vom ersten Moment an. Die häufige räumliche Distanz (Bachmann lebt zu der Zeit hauptsächlich in Neapel) wirkt wie ein Verstärker von beidem, der Liebesbekundung wie der Anklage.
Nicht nur in den ersten Wochen sind die Briefe geprägt von einem ständigen double bind: einem Sprechen in widersprüchlichen Signalen. Trennungsabsichten werden ausgesprochen und im nächsten Moment wieder untergraben, Entscheidungen getroffen und kurz darauf, wörtlich oder zwischen den Zeilen, widerrufen. «Ich fühle», schreibt Frisch, «mit leiblicher Deutlichkeit (…), wie der Abschied, den ich verhängt habe, noch geleistet werden muss von mir.» Und Bachmann: «Sag mir, ob ich Dich ganz befreien soll von mir.»
Frisch wird Madeleine Seigner schliesslich verlassen, um mit Bachmann zu leben, in Zürich, in Uetikon am See, in Rom. Doch die Beziehung bleibt beiderseits von Affären begleitet, von wechselseitigen Missverständnissen und enttäuschten Hoffnungen auf klare Bekenntnisse, von unzähligen Entfremdungen und Brüchen, auf die jeweils die Versöhnung folgt – bis das nicht mehr gelingt. Und Bachmann in ihre schwerste Lebens- und Schreibkrise stürzt.
«Liebes Ungeheuer …»
So problematisch es allerdings wäre, die Beziehung teleologisch von ihrem Ende her als unentrinnbare Katastrophe zu deuten, so falsch wäre es, die Briefe zwischen Bachmann und Frisch lediglich als Material zu begreifen, das der biografischen Neugier endlich Auskunft erteilt. Was das Erscheinen dieser Briefe zu einem Ereignis macht, ist nicht zuletzt ihr literarischer Rang. Hier versuchen zwei Schreibende, für die Dramen des eigenen Lebens einen sprachlichen Ausdruck zu finden – und nicht zuletzt wohl auch, vor dem literarischen Kennerblick des anderen zu bestehen. So wie Ingeborg Bachmann in einem der allerersten Briefe, im Juli 1958:
Wenn ich schreiben könnte, wenn nicht alles hinginge in Kälte, wenn die Blätter wenigstens Feuer fingen, wenn man nicht nur inwendig und wortlos abbrennen müsste, dann …
Aber was ist das dann, wenn nicht eine alte travestierte Hoffnung auf Menschen?
Der Literaturwissenschaftler Roland Berbig hat kürzlich überzeugend dargelegt, dass jeder von Bachmanns Briefwechseln eine eigene «Prägemarke» aufweist.
Wenn das auch für die Korrespondenz mit Frisch gilt, liesse sich vielleicht sagen: Das Wesentliche steht hier immer schon in der Anrede.
«Liebster», «Mein lieber Bär», «Liebstes Herz»: So lautet die Ansprache in den helleren Tagen. Und am Ende fehlt nicht viel, dass Bachmann zum Sie übergeht.
Nur: Das Phänomen beschränkt sich nicht auf einen Kontrast zwischen Anfang und Ende dieser Liebesgeschichte. Vielmehr sind Bachmanns Anrede- und Schlussformeln über die Jahre hinweg Indikatoren für die jeweils aktuelle Konjunktur der Beziehungsdynamik und fein abgestufte Signale an Frisch. Das schliesst auch das Widersprüchliche mit ein. «Max», beginnt sie karg und unterschreibt mit einem nüchternen «Ingeborg», als sie sich wegen Frischs Beziehung zu Madeleine Seigner zur Zurückhaltung zwingt. Und dann, in einem Nachtrag: «Noch nie habe ich so heftig an Dich gedacht, Dich mit allen Gedanken gesucht.» Später, 1961/62, nach wechselvollen Jahren, trägt auch die Sprache intimer Zuneigung Spuren der Ambivalenz:
Nun behalt mich lieb und schreibe mir doch auch einmal, Du Wüstbär.
Deine
Ingeborg
Oder:
Liebes Ungeheuer, ich umarme Dich!
Da sind dann, im scheinbar Harmlos-Spielerischen, das Liebevoll-Zugewandte und ein unterschwelliges Gefühl der Gefährdung untrennbar ineinander verkeilt.
Frisch jedenfalls registriert bereits in der Anfangszeit genau, wenn Bachmanns Gruss- und Abschiedsformeln zurückgenommener daherkommen.
Ach Inge, Du meine Inge, die da mich anspricht: Lieber Max, und die da unterzeichnet: Ingeborg –
Und ich verzweifle, indem ich meine, nur mein Herz könne manchmal so versteinen, nur meine Sprache so kahl sein. Ich bin wirklich verzweifelt. Habe ich Dich so kahl gemacht?
Wenige Zeilen danach folgt dann die bange Frage: «Glaubst Du, Inge, dass Du mich liebst?»
Tatsächlich identifiziert Frisch in diesem Brief klarsichtig ein Grundproblem, das Bachmann mit ihm hat: dass er zwar hin und wieder mit überschwänglichen Liebesbekundungen aufwartet, im nächsten Moment aber unterkühlt bleibt wie eine Schweizer Gletscherlandschaft. In den Worten ihres Antwortbriefs:
Ach, was bist Du bloss für ein Mensch, so unverständlich und steinig und dann wieder gar nicht. (…) Du bist so seltsam, und ich möchte alle Steine aus Dir herausoperieren, damit Du lebendig wirst. Ich glaube wirklich, Du hast irgendwann einen riesigen Stein verschluckt. Aber ich will Liebe, eine Unmasse Liebe, sonst kann ich nicht mit Dir leben, sonst bin ich lieber allein.
Im Briefwechsel ist deutlich ablesbar, dass Frischs regelmässige Distanznahmen auch verunglückte Selbstschutzmanöver sind. Sie haben mit Selbstzweifeln, tief sitzender Unsicherheit und wohl auch mit den Ängsten des 15 Jahre Älteren zu tun, der es um jeden Preis vermeidet, sich vor der jüngeren Partnerin in einer Position der Schwäche zu zeigen.
Als er im Frühsommer 1959 an Hepatitis erkrankt, weist er Bachmann zurück und hüllt sich in Schweigen, ehe er in einem Brief bekennt:
Es war unmöglich für mich, meine liebe Inge, mich Dir mitzuteilen; drum habe ich Dich zum Weggehen überredet.
Lange Briefe voll gegenseitiger Vorwürfe folgen. Bachmann fühlt sich verstossen, zumal er in der Zeit den Kontakt zu Madeleine Seigner wieder aufnimmt. Frisch hingegen spricht von Notwehr, die Krankheit sei nur der Ausdruck eines längst eingetretenen Alleinseins gewesen. Und dann, in einem durchaus perfiden Satz: «Du wirst mich aber immer allein lassen, Inge, nicht nur mich.» Sie müssten zu einer alten Erkenntnis zurück: «Wir sollten nicht zusammen wohnen.» Worauf Bachmann klarstellt, er sei es doch, der sie fortgeschickt habe und ihr keine Rückkehr erlaube: «Alles kommt mir so verdreht vor, was Du sagst.»
In den aufgeladenen Briefpassagen jener Tage sollte man einen vermeintlichen Nebensatz aus Frischs erstem Krankheitsbrief nicht überlesen. Friedrich Dürrenmatt, so schreibt Frisch kurz vor der Entlassung aus dem Spital, sei neulich zu Besuch gekommen, «sehr lieb», und habe ihn «zu sich eingeladen». Aber, fügt Frisch an, «seine Potenz würde mich zermalmen».
Es ist ein vielsagender Satz über fragile Freundschaften in einem Literaturbetrieb der Konkurrenzverhältnisse und der ständigen Vergleiche. Was Frisch hier über sein Verhältnis zu Dürrenmatt bekennt (oder besser: an psychologischer Selbsterkenntnis vorträgt), lässt sich in gesteigerter Weise auf die Beziehung zu Bachmann übertragen: Es gibt darin kein Ausserhalb der Literatur.
«Wir sind halt ein berühmtes Paar gewesen, leider»
Auf mindestens dreifache Weise wirken die Literatur und ihr Betrieb in die Liebesbeziehung zwischen Bachmann und Frisch hinein.
Erstens: durch Klatsch und Tratsch. Und die Furcht vor Klatsch und Tratsch.
Gerüchte und Spekulationen um ihren Beziehungsstatus, später sogar um eine angebliche Schwangerschaft Bachmanns, begleiten das Paar in allen Phasen der Partnerschaft. Zu einem Beschleuniger ihrer Konflikte wird das vor allem deshalb, weil zwar beide ihre Affären haben, jene von Bachmann aber regelmässig zum Gegenstand des Betriebsgeflüsters werden. Das hat einerseits mit dem simplen Umstand zu tun, dass etwa ihre im Sommer 1959 während Frischs Krankheit beginnende Affäre mit Hans Magnus Enzensberger ebenfalls eine Liaison zwischen zwei literarischen Promis war. Andererseits drängt sich der Eindruck auf, dass hier ein sexistischer Bias greift: Das Liebesleben von Frauen ist im männerdominierten Literaturbetrieb schon immer stärker thematisiert und wesentlich schneller skandalisiert worden. Was ironischerweise nicht nur für die Frauen ein Problem ist.
Aus den Briefen von Max Frisch jedenfalls spricht deutlich, dass er nicht bloss einen Umgang mit der eigenen Eifersucht finden muss. Auch die Sorge, der halbe Betrieb könnte sich über eine neue Affäre das Maul zerreissen und er der einzige Unwissende sein, scheint ihn all die Jahre umgetrieben zu haben. «Ich gelte als grosser Trottel», schreibt er an Bachmann 1963 bereits im Rückblick, nach der endgültigen Trennung. Und an anderer Stelle: «Wir sind halt ein berühmtes Paar gewesen, leider.» Bachmann, die sich fortan umso vehementer gegen Indiskretionen und die Preisgabe von Privatem verwahrt, antwortet: «Meine Gefühle gehen niemanden mehr etwas an.» Drei Monate zuvor hatte sie Frischs Krankheitstagebuch von 1959 in einem Schrank gefunden, es gelesen, an sich genommen und vernichtet, «denn ich muss verhindern, dass je ein andres Auge darauf fällt».
Zweiter Punkt: die schriftstellerische Konkurrenz.
Mehrfach bekundet Frisch gegenüber Bachmann, sie sei ihm intellektuell überlegen – und trotzdem äussere sie ihm gegenüber das Gefühl, er schüchtere sie ein. Tatsächlich scheint auf beiden Seiten die Bewunderung des Gegenübers in Hemmungen, Selbstzweifel und Schreibkrisen umzuschlagen. Die Arbeit an zwei benachbarten Schreibtischen scheint eine Unmöglichkeit. Das vorübergehende Ausweichen auf Zweitwohnungen und Ateliers bleibt ein Dauerthema, in wechselnden Konjunkturen fürchten beide ebenso um ihre Produktivität wie um ihre Freiheit.
Doch kommt zu dieser Ausgangslage eine ungleich brisantere Frage hinzu: die nach dem Verhältnis von Privatleben und literarischen Inhalten. Schon früh geht Frisch dazu über, von seinen Briefen an Bachmann Durchschläge oder (Teil-)Abschriften aufzubewahren, was er ihr gegenüber im Februar 1961 auch erstmals erklärt. Er müsse wissen, auch mit Blick auf künftige Antworten von ihr, was er ihr geschrieben habe. Frischs Bedürfnis, gegebenenfalls Beweise für seine Aussagen zu haben, verrät viel über sein Misstrauen und bereits eingetretene Irritationen. Und doch dürften Hans Höller und Renate Langer, Mitherausgeberinnen des Briefwechsels, richtig liegen mit ihrer Vermutung im Nachwort, Frisch habe von Anfang an auch die Möglichkeit einer literarischen Verarbeitung in Betracht gezogen – ein Thema, das später entscheidend zum grossen Zerwürfnis zwischen Frisch und Bachmann beiträgt und schliesslich auch zu den heftigen Stellvertreterkämpfen in der Forschung.
Was in gewisser Weise schon zum dritten Punkt führt. Denn es gehört zur Dialektik dieses literarischen Briefwechsels, dass die beiden Schreibenden ihre Sprachvirtuosität nicht allein für überschwängliche Liebesbekundungen und unkonventionelle Bilder nutzen – sondern auch zum Ausfechten ihres Beziehungskampfes. Sprachmacht kann auch Waffe sein; zur Selbstverteidigung – oder zu Angriffszwecken. Das gilt nicht erst für die Verletzungen, die sich beide nach dem endgültigen Bruch zufügen werden. Sondern für die vorher schon einsetzenden, vermeintlich kleinen Sticheleien, die passiv-aggressiven Anklagen im Kleid der Selbstkritik. So wie bei Frisch, wenn er im paternalistischen Ton die angebliche Belanglosigkeit, das zwischen Tür und Angel Hingehuschte von Bachmanns Briefen beklagt und das Vorwurfsvolle so notdürftig wie durchschaubar mit einem «Wir» kaschiert:
Ich frage mich dann: Was ist das soviel Wesentlichere, das uns keine Zeit lässt, uns hinzusetzen, um einen Brief zu schreiben?
Bachmanns Antwort ist so diplomatisch und zugewandt, dass sich die Kritik darin vielleicht erst auf den zweiten Blick erschliesst – und dem Empfänger immer noch den Ausweg einer positiven Deutung lässt:
Vielleicht liegt es daran, dass ich nicht wie Du das Bedürfnis habe, in Briefen und mit Briefen das Gespräch anders fortzusetzen, sondern es aufheben will, darum nur die Zeichen gebe.
Auch hier scheint ein Muster für Grundsätzlicheres auf: Er verlangt immer wieder ein Bekenntnis schwarz auf weiss; sie verspürt «kein Bedürfnis, unsere Situation zu befragen», hofft vielmehr, «dass wir einfach leben in einer Wolke von Zärtlichkeit und geschützt sind, auch voreinander». Als er ihr, ebenfalls in einem Brief, die Ehe anträgt, lehnt sie ab und wiederholt ihre Haltung auch bei späteren vorsichtigen Neuanläufen, weil sie im Heiraten «nur etwas Äusserliches» sieht und «von innen nur das Ja zu Dir kommt, aber nicht zugleich das Ja zu der Formalität».
Nahe Ferne
Was hier alles im Modus der Briefform verhandelt wird; was die Langsamkeit des Mediums für das Warten auf Antwort heisst; welche Auswirkungen verspätet Abgeschicktes und sich kreuzende Briefe in angespannten Situationen haben; wie es sein muss, ein Telegramm zu bekommen; was sich vom anderen bereits aus der Handschrift mitteilt (oder in Kaffeesatzlesereien endet); was in den Briefen, die Bachmann und Frisch untereinander und mit anderen tauschen, alles auf dem Spiel steht. Es gehört zu den frappierendsten Eindrücken beim Lesen dieser Korrespondenz, wie weit weg diese Kommunikationsform von unserer digitalen Wirklichkeit scheint. Aus welcher historischen Ferne diese doch gerade erst der Sperrfrist enthobenen Briefe einem entgegentreten, gelegentlich schon durch die Wortwahl.
Und dann wieder erscheint, was Frisch und Bachmann da versuchen, so heutig, dass es geradezu als zeitgeistig durchgehen könnte.
Nach dem Krisenjahr 1959 lebt das Paar eine offene Beziehung. Und Frisch bekommt zwar keine Ehe, aber eine Vereinbarung. Mit dem sogenannten Venedig-Vertrag beschliessen beide: Affären sind erlaubt, solange sie nichts Ernsthaftes bedeuten. Zum Schutz des anderen herrscht ein Schweigegebot. Wenn allerdings echte Gefühle für eine dritte Person ins Spiel kommen, muss Schluss sein mit dem Schweigen.
So kommt es dann auch.
Im Frühjahr 1962 geht Bachmann eine tiefergehende Liaison mit dem italienischen Germanisten Paolo Chiarini ein, der zuvor über ihr Werk publiziert hatte. Frisch bemüht sich um Fairness – und um Fassung:
Nicht ein Flirt, nicht eine Nacht, sondern Du hast einen Menschen sehr lieb. Dass dir das zusteht, ist ausser Frage. Es fragt sich nur, wie ich im besten Fall damit fertigwerde; das aber ist meine Sache. (…) Du musst, wenn Du mir Gekränktheit vorwirfst, mich gütig verstehen; dein Hinwelken zu sehen neben mir, dann dein Erblühen zu verstehen aus der Nachricht, dass Du einen andern Menschen sehr lieb hast, ist für mich wie ein Todesurteil, natürlich, begreiflich, aber schwer für den, der in meiner Rolle ist.
Schliesslich nimmt Frisch Kontakt zu Chiarini auf, will ihn treffen, doch dieser entzieht sich – nicht nur dem Kontrahenten, sondern auch Bachmann, kehrt reuig zu Frau und Kindern zurück und veröffentlicht ein Vierteljahrhundert später einen Bachmann-Aufsatz inklusive Seitenhieb gegen Max Frisch. (Ein kleiner Vorgeschmack auf die Scharmützel, die in der Forschung bis heute ausgetragen werden.)
Den folgenden Sommer über scheint es, als hätten sich mit Chiarini auch die Wolken verzogen. Das Paar verbringt einen gemeinsamen Urlaub in St. Moritz, die Briefe zwischen Uetikon (Bachmann) und Rom (Frisch) klingen jetzt so:
Schreibst Du mir bald, mein lieber Bär?
Ich leg Dir hier noch einen Zettel mit Merksätzen dazu, damit Du ausser arbeiten und Dummheiten machen nicht vergisst, weltlich zu sein.
Viele zärtliche Küsse auf das braune Sommerfell. Und nimm doch die Pfeife aus dem Mund.
Deine
Ingeborg
Dann lernt Frisch die 23-jährige Marianne Oellers kennen, die spätere Marianne Frisch.
Und Bachmann? Schickt emphatische Liebesbriefe mit der Versicherung: «Ich bin für alles, was gut für Dich ist.» Schreibt: «Du sollst Marianne sehen oder reisen mit ihr, und ich verlange keine Rechenschaft.» Drängt schliesslich sogar – Polyamorie avant la lettre – auf ein gemeinsames Leben aller drei. Worauf Frisch entgegnet: «Ach Ingeborg! Man umarmt sich nicht zu Dritt.»
Trotz allem: Im Spätherbst 1962 scheint es noch einmal, als sei auch dies nur eine weitere Affäre, die die beiden als Paar überstehen. Dass Bachmann und Frisch sich getrennt hätten – vorerst ist es, wieder mal, nur ein Gerücht.
Bis zum Jahresende. Vom 10. bis 30. Dezember ist Bachmann wegen einer psychischen Notlage zur stationären Behandlung in der Zürcher Bircher-Benner-Klinik. Ihrem Freund Hans Werner Henze wird sie später schreiben, sie habe versucht, sich umzubringen. Frisch besucht sie am 19. Dezember. Sie bestellt Rosensträusse, um den Anschein zu erwecken, einen Verehrer zu haben.
In der Silvesternacht 1962/63 schreibt sie an Frisch:
Es ist unausweichlich. Wir müssen uns trennen. (…) In wenigen Tagen wirst Du erleichtert und froh sein, dass ich es ausgesprochen habe. (…)
Dass Du mich jetzt nicht liebst, weiss ich, (…) und ich glaube nicht einmal mehr, dass Du je ein wirkliches Gefühl für mich gehabt hast.
Sie liebe ihn noch immer, aber wolle «jetzt dieses Gefühl bald, bald zu einem Ende bringen und nie mehr für einen Menschen etwas dergleichen fühlen». Im selben, langen Brief geht sie auf Frischs Manuskript zum «Gantenbein»-Roman ein, das er ihr auch deshalb zum Lesen gegeben hat, weil darin die Jahre ihrer Beziehung in literarisch verfremdeter Weise verarbeitet sind. «Es wird wirklich ein epochales Buch werden», schreibt Bachmann:
Du bist wirklich ein ganz ganz grosser Schriftsteller, das musst Du noch wissen, wenn Du es manchmal nicht weisst, und darum musst Du Dich aufs Äusserste anstrengen. Du darfst nicht nachgeben und bequem werden.
Noch mehr steht in diesem denkwürdigen Brief.
Er möge Marianne «alles Liebe von mir» sagen «und wie gern ich sie habe». Und um für die Trennung möglichst alles zu vermeiden, «was da an Verletzungen passieren kann», wolle sie eine Forderung stellen: «dass alle Regelungen von mir allein getroffen werden», denn «beim Entscheiden zu zweit oder durch Besprechungen oder beim gegenseitigen Sichüberbietenwollen an Edelmut» komme man «unweigerlich ins Straucheln. Ich verlange also von Dir, dass Du alles mir überlässt und Dich kein einziges Mal äusserst.» PS: «Das Wägeli steht in der Köllikerstrasse.»
Frisch antwortet: «ich erkenne in diesem schweren Brief deine ganze Grossartigkeit». Und dann, als wenig später die Töne wieder etwas schärfer werden: «Warum zerstören wir einander?»
Dieser Satz wird noch ungleich stärker zutreffen, als Frisch in diesem Moment ahnen kann. Aber die Anfangszeit der Trennung ist geprägt vom beidseitigen Versuch, das Ende möglichst ohne weitere Verheerungen zu bestehen. Bachmann begleitet weiter die Arbeit am «Gantenbein» mit konstruktiver Kritik und dem Ausdruck grosser Wertschätzung. Vorübergehende Bitten, ihr keine Briefe mehr zu schreiben, hebt sie wieder auf.
Aber sie befindet sich längst in einer existenziellen Krise, die noch lange andauern wird. Seit Monaten schon: Klinikaufenthalte, ein schwerwiegender medizinischer Eingriff (eine Gebärmutterentfernung), psychologische Therapien. Ihre Medikamentenabhängigkeit verschlimmert sich massiv aufgrund einer «unverantwortlichen Verschreibungspraxis» der Ärzte (so Höller/Langer im Nachwort). Die tiefgreifende gesundheitliche Krise wird zunehmend zu einer umfassenden Lebens- und einschneidenden Schreibkrise.
Als ab Mai 1963 die Auflösung der gemeinsamen Wohnung in Rom vorbereitet wird, bleibt Bachmann, bevor sie nach Berlin geht, zunächst die Unterkunft in Uetikon. Dennoch befällt sie zunehmend ein Gefühl der Heimatlosigkeit und des Ausgestossenseins. Im Juni 1963 kommt es zu einem unerwarteten Aufeinandertreffen mit Frisch und Marianne Oellers in Rom, das in einen Disput mündet. «Wir werden einander nicht mehr sehen», schreibt Bachmann an Frisch: «Ich kann nicht weiter.»
Der Ton verschärft sich. Auf den Vorwurf, sie nie geliebt zu haben, reagiert Frisch erbost und mit eigenen Vorwürfen. Das Aufrechnen, das Hervorkramen alter Geschichten beginnt – der ganz gewöhnliche Rosenkrieg, den beide hatten vermeiden wollen.
Anfang 1964 kommt es zum endgültigen Bruch. Bachmann hatte Frisch bereits erfolglos gebeten, ihre Briefe zu verbrennen, «damit niemand ein Schauspiel hat eines Tags». Nun will sie ihre Briefe von Frisch zurückhaben und kündigt an, dass sie von seinen «nichts aufbewahren werde». Frisch antwortet, auch er sei «nicht unverletzbar». Ihre Notizen zum «Gantenbein» gibt er ihr zurück, den Wunsch mit den Briefen aber werde er ihr nicht erfüllen:
Deine Briefe gehören mir, so wie meine Briefe Dir gehören.
Eine Veröffentlichung der Korrespondenz brauche sie nicht zu fürchten, er habe «jede Veröffentlichung testamentarisch verboten» – was stimmt. 1985 wird er allerdings das Testament ändern und eine Sperrfrist von 20 Jahren nach seinem Tod verfügen.
Im Herbst 1964 erscheint «Mein Name sei Gantenbein». Wie der Briefwechsel nun, nach jahrzehntelangen Mutmassungen, erstmals zeigt, hatte Bachmann den Roman in seinen Entstehungsphasen begleitet, all ihre Änderungswünsche an Frisch kommuniziert und die Fahnen vor dem Druck zur Durchsicht bekommen. Allem Anschein nach hat Frisch sämtliche Änderungswünsche berücksichtigt. Aber nun, in einer Phase anhaltender Krankheit, hat sich Bachmanns Blick auf die Vergangenheit verändert. Sie fühlt sich in der Figur der Lila öffentlich blossgestellt. Adolf Opel, mit dem sie Anfang 1964 eine legendäre Prag- und später eine ebenfalls literarisch verarbeitete Ägyptenreise unternimmt, sowie ihr Vater Matthias Bachmann schreiben an Frisch und konfrontieren ihn mit Vorwürfen.
Zwischen Ingeborg Bachmann und Max Frisch hingegen bricht der Briefkontakt quasi ab. Im Oktober 1964 gratuliert er ihr zum Büchner-Preis, ansonsten korrespondieren sie allenfalls noch zu Eigentumsfragen und juristischen Angelegenheiten miteinander.
Die Verarbeitung der gemeinsamen Vergangenheit hat sich jetzt für beide, in unterschiedlicher Weise, auf die Literatur verschoben.
Und dort, in der wissenschaftlichen Rezeption der biografischen Dokumente und literarischen Texte, setzen nach Bachmanns Tod 1973 die Stellvertreterkämpfe ein. Mit Auswirkungen bis hinein in die jetzige Briefedition.
Nachspiel
Es gehört zu den unrühmlichen Pointen der Rezeptionsgeschichte, dass in Teilen der Forschung die destruktive Dynamik zwischen Frisch und Bachmann eher fortgesetzt als wissenschaftlich analysiert wurde.
Unter Rekurs auf den berühmten Schlusssatz von Bachmanns Roman «Malina» – «Es war Mord» – und unter Verweis auf andere Prosa ihres «Todesarten»-Projekts wurde Frisch von einigen Bachmann-Verehrern zum monströsen Bachmann-Zerstörer stilisiert; manche trieben die Dämonisierung so weit, dass sie Frisch kurzerhand aus Bachmanns Biografie tilgten. In der Frisch-Forschung hingegen meinte man, den Autor dadurch verteidigen zu müssen, dass man auf das misogyne Klischee von Bachmanns sexueller Freizügigkeit abhob, die zur Zerrüttung der Beziehung geführt habe.
Die Germanistin Renate Langer hat diese problematischen Entwicklungen und die Fallen einer überidentifikatorischen, anwaltschaftlichen Herangehensweise bereits 2011 in einem bis heute einschlägigen Text luzide beschrieben. Und Langer ist nun auch eine der Herausgeberinnen des Briefwechsels Bachmann/Frisch, zusammen mit Hans Höller, dem Doyen der Bachmann-Forschung; mit Thomas Strässle, dem Präsidenten der Max-Frisch-Stiftung; sowie der Celan-Spezialistin Barbara Wiedemann, die sich mit zahlreichen vorbildlichen (Brief-)Editionen einen Namen gemacht und auch hier die Koordination übernommen hat.
Wie gehen nun die Editorinnen mit der aufgeladenen Vorgeschichte um?
Hier wird es noch einmal kompliziert. Denn die neue Ausgabe resümiert und reflektiert die Problematik einer feindbildlastigen Rezeptionsgeschichte – und ist dennoch nicht vollkommen frei davon.
Das zeigt am deutlichsten der Blick auf die Nachworte (es sind zwei). Auch wenn die Zuordnung, allein schon wegen Barbara Wiedemann, so schwarz-weiss nicht aufgeht: Zwangsläufig versteht man den Text der Salzburger Bachmann-Forscher Höller/Langer als Nachwort der Bachmann-Seite, jenes von Strässle/Wiedemann tendenziell als Vertretung der Frisch-Fraktion. Und so sehr sich einige zentrale Schilderungen decken, so augenfällig sind auch die Unterschiede.
Ihrer Grundthese nach lesen Thomas Strässle und Barbara Wiedemann die Liebesgeschichte Bachmann/Frisch als «gegenseitiges Verhängnis». Als «besonders wichtiges Ergebnis» der Edition sehen sie die «Neubewertung des ‹Gantenbein›» aufgrund von Bachmanns genauer Begleitung der Entstehung und verwahren sich gegen die Lektüre des Textes als Schlüsselroman.
Hans Höller und Renate Langer teilen den Befund, dass Lila, die Protagonistin des Romans, «nicht einfach eine entlarvende Kopie Bachmanns» sei, sondern der gesamte Text ein komplexes literarisches Spiel. Trotzdem lautet ihre Diagnose, Frischs «Weiterverarbeitung der Briefe für den entstehenden Roman» sei «die Sünde wider den freien Geist der Literatur, ein Verrat an dem ihm am nächsten stehenden Menschen». Und Frischs Wissen um diese «Sünde» mache den Roman, im Sinne von Bachmanns Lob, «zu einem grossen Buch». Ob man dieser Argumentation folgen kann, sei dahingestellt. Auf die moralischen Fragen um Frischs Roman jedenfalls kann man sehr unterschiedliche Antworten geben. Aber wenn Höller/Langer «die wichtigste Legitimation» für die Veröffentlichung des Briefwechsels in der Zustimmung von Bachmanns Geschwistern sehen («Niemandem hat Bachmann mehr vertraut»), verwundert im Vergleich ein wenig das Sündenvokabular zum «Gantenbein»; schliesslich hatte hier Bachmann selbst im Vorfeld ihr Einverständnis gegeben.
Angesichts von Renate Langers Aufsatz 2011 mag es ausserdem überraschen, dass der Ton im gemeinsamen Nachwort mit Hans Höller von Anfang an unverkennbar von Abneigung gegen Max Frisch geprägt ist. Das beschränkt sich nicht auf eine – nachvollziehbare – Parteinahme für Bachmann, sondern äussert sich auch in Sticheleien gegen seine Qualitäten als Autor und seine Charaktereigenschaften als Mensch. «Er war selbst überrascht, als er sich beim Schreiben des ‹Gantenbein› als potenter Autor erlebte», heisst es da. Und weiter: «Frisch beschreibt sich hier als der Liebhaber PS-starker Autos, der er war.» Höller/Langer lassen es sich nicht nehmen, noch eine Fussnote anzubringen: «Ein Jahr zuvor hatte er einen Unfall mit einem geliehenen Porsche und bald darauf, noch während seiner Beziehung mit Bachmann, fuhr er sein Fiat-Cabrio zu Schrott, wobei auch sein Beifahrer, Gustav René Hocke, verletzt wurde.»
Es menschelt ein wenig mehr als nötig in diesem Nachwort einer ansonsten hervorragenden Edition. Man kann der Frisch-Seite zugutehalten, dass sie in ihren Noten zur Bachmann-Philologie etwas subtiler zu Werke geht.
Letzter Punkt dazu (falls der Eindruck entstanden sein sollte, es seien sich zumindest in der Bachmann-Forschung alle grün): Höller und Langer äussern im Nachwort auch harsche Kritik an der Bachmann-Forscherin und früheren Zürcher Professorin Sigrid Weigel. Der Briefwechsel zeige, «wie abwegig der rigorose Anti-Biographismus» sei, den Weigel propagiere.
Dazu muss man wissen: Seit den 1980ern und bis heute gilt Hans Höller als wichtigster Bachmann-Forscher, seit vielen Jahren ist die Salzburger Germanistik insgesamt tonangebend auf diesem Gebiet. Als Weigel 1999 ihr Bachmann-Buch inklusive mancher Polemik gegen Höller publizierte, prägte ihre Studie eine Zeit lang die Forschung, zog allerdings auch ihrerseits teilweise heftige Kritik auf sich – unter anderem von Höller und Langer.
Das Interesse an solchen Scharmützeln dürfte ausserhalb von Germanistenkreisen überschaubar sein. (Sonst müsste man lautstark versichern: Es ist nicht immer so, wirklich nicht.) Im Kontext dieser Briefausgabe aber verdient die Aburteilung von Weigel einen näheren Blick.
Zum einen, weil Weigels Position keineswegs so radikal antibiografisch ist, wie Höller/Langer suggerieren. Vielmehr war der Grundgedanke ihrer «intellektuellen Biografie» gegen einen Reduktionismus gerichtet, der literarische Texte kurzschlüssig auf ihren biografischen Aussagewert abklopft (eine Gefahr, die auch Höller/Langer laufen, wenn sie im Nachwort Verse aus Bachmanns bekanntestem Gedicht «Böhmen liegt am Meer» recht umstandslos als Resümee der Beziehung zu Frisch verstehen).
Zum anderen, und das ist wichtiger: Wenn die Salzburger Bachmann Edition als massgebliche Neuausgabe die wichtigste Gegenposition zum eigenen Forschungsansatz in harschen Worten abtut, dann ist sie weniger ein Ort, das wissenschaftliche Ringen um Deutungen abzubilden, als vielmehr das Mittel, Deutungshoheit durchzusetzen – und das eigene Bachmann-Bild zu kanonisieren. Auch das mag legitim, in der Tendenz vielleicht sogar unvermeidlich sein. Man sollte es nur nicht für die unumstössliche Wahrheit halten.
Postskriptum
Im März 1972, nach Jahren der Funkstille, schreibt Max Frisch noch einmal an Ingeborg Bachmann. Er soll für ein amerikanisches Publikum eine Anthologie zur deutschsprachigen Gegenwartsliteratur zusammenstellen und bittet Bachmann, fünf Gedichte beizusteuern, unbedingt auch ihr wichtigstes «Böhmen liegt am Meer».
Bachmann trifft ihre Auswahl, antwortet mit «Lieber Max Frisch» und mit «freundlichem Gruss». Frisch schreibt im Dankesbrief:
Liebe Ingeborg Bachmann
aber Liebe Ingeborg kommt mir richtiger vor
Ein Jahr später meldet er sich erneut. Aus der Anthologie ist nichts geworden.
Unser Autor, Republik-Feuilleton-Redaktor Daniel Graf, hat selbst eine Zeit lang zu Ingeborg Bachmann geforscht und über ihre Lyrik seine Dissertation geschrieben.
Zum Weiterlesen (und zum Schauen):
Die Edition des Briefwechsels zwischen Ingeborg Bachmann und Max Frisch entstand in Kooperation zwischen dem Max-Frisch-Archiv Zürich und der Ingeborg-Bachmann-Forschungsstelle im Literaturarchiv Salzburg. Zugleich ist das Buch Teil der auf 30 Bände angelegten Ingeborg-Bachmann-Gesamtausgabe. Den Titel des Bandes liefert ein Zitat von Max Frisch: «Wir haben es nicht gut gemacht». Herausgegeben von Hans Höller, Renate Langer, Thomas Strässle und Barbara Wiedemann. Piper/Suhrkamp, München/Berlin 2022. 1039 Seiten, ca. 40 Franken.
Am 15. Dezember 2022 findet im Max-Frisch-Archiv an der ETH Zürich ein Gespräch mit Barbara Wiedemann statt, bei dem auch ausgewählte Originalbriefe zu sehen sein werden. An den Literaturhäusern in Basel (13. Dezember 2022) und Zürich (14. Dezember 2022) sind ebenfalls Veranstaltungen mit Herausgeberinnen des Briefwechsels geplant.
Anlässlich einer soeben eröffneten Bachmann-Ausstellung in der Österreichischen Nationalbibliothek zum 50. Todestag 2023 erschien kürzlich auch der Sammelband «Ingeborg Bachmann. Eine Hommage». Ausserdem gibt es neue fiktionale Auseinandersetzungen mit der Beziehung Bachmann/Frisch. In der Reihe «Berühmte Paare – grosse Geschichten» ist im Aufbau-Verlag der Roman «Die Poesie der Liebe. Ingeborg Bachmann & Max Frisch» von Bettina Storks erschienen, die auch Autorin einer Doktorarbeit zu Ingeborg Bachmann ist. Die Regisseurin Margarethe von Trotta hat von Frühjahr bis Sommer 2022 einen Spielfilm über Bachmann und Frisch gedreht, 2023 kommt er in die Kinos. Ursprünglich war als Filmtitel «Bachmann & Frisch» vorgesehen, nun soll er «Ingeborg Bachmann – Reise in die Wüste» heissen.