Lies, was nicht geschrieben steht
Ingeborg Bachmann/Hans Magnus Enzensberger: «schreib alles was wahr ist auf»
Die Schriftstellerin und der Autor finden in ihren Briefen zu einer platonischen Intimität. Während Bachmanns finsterster Zeit wird die Freundschaft zum Rettungsprogramm für ihre wichtigsten Gedichte.
Von Daniel Graf, 08.11.2018
Es gibt Briefkorrespondenzen, die teilt ein bestimmtes Ereignis in ein Vorher und ein Nachher. Im April 1959 schreibt Hans Magnus Enzensberger in für ihn typischer Kleinschreibung an Ingeborg Bachmann, die für sein «Museum der modernen Poesie» eine Handvoll Ungaretti-Gedichte übersetzt hat: «vielen dank für ihre versionen, ich finde sie gut.» Im Juli dann: «seit deiner abreise steht die luft still.»
Ende 1957 hatte Enzensberger den ersten Brief an Ingeborg Bachmann geschrieben. Die drei Jahre Ältere war zu diesem Zeitpunkt bereits ein Star der deutschen Nachkriegsliteratur, der «Spiegel» hatte sie 1954 als Debütantin gar aufs Cover gehoben. Und durch ebenjenen «Spiegel» war Anfang 1957 auch Enzensberger schlagartig bekannt geworden – indem er ihn in einem furiosen Radioessay mit dem Untertitel «Moral und Masche eines deutschen Nachrichtenmagazins» einer schneidenden Kritik unterzog.
An seinem Ruf als angry young man also hat er bereits gearbeitet, als er im November 1957 Bachmann kontaktiert. Beide hatten sich schon 1955 bei der Gruppe 47 kennengelernt. Nun macht Enzensberger keinen Hehl daraus, dass er sich in die Spitzengruppe der deutschen Lyrik einzureihen gedenkt – klein sind bei ihm nur die Grossbuchstaben. Ob Suhrkamp ihr seinen Debütband geschickt habe, fragt er scheinbar beiläufig in Klammern, er habe darum gebeten. Und «wir sollten einmal, das wäre erheiternd, zusammen ein buch machen, ein buch das fliegen kann».
Knapp zwei Jahre lang schreiben sich die beiden in unregelmässigen Abständen, mit wachsender Sympathie und manch persönlichem Wort, aber doch vor allem als zwei Literaturbetriebsprofis, die das Netzwerken beherrschen wie kaum jemand sonst. Ob Enzensberger Lust habe, in das Internationale Seminar an die Harvard University zu gehen, schreibt sie Anfang 1959. Sie lege ein Formular bei – und gerne ein gutes Wort für ihn ein beim Direktor (einem gewissen Henry Kissinger). Enzensberger wiederum bedankt sich «schön für ihr harvard-billet», lehnt aber dankend ab, weil er sich «nicht noch länger» von Frau und Tochter trennen wolle.
Dann kommt der Sommer. Bachmann besucht Enzensberger in Rom, und es passiert, was in diesen Jahren immer passiert, wenn Dichterkollegen auf Ingeborg Bachmann treffen: Sie verfallen ihr. Was genau in diesen wenigen Tagen in Rom geschah, lässt sich nur aus rückblickenden Briefen erahnen. Doch kann der Kommentar der Edition auch deshalb sehr diskret sein, weil die Zeilen so schwer nicht zu deuten sind. «ingeborg / ich weiß keine briefe für dich», schreibt Enzensberger, doch habe er «einen Ort gesehen, da sollten wir uns ein Haus kaufen». Dieser Ort liege auf einem Berg, «auf der einen seite sieht man das meer und auf der andern das paradies». Angry young man? «schlaf gut und sieh nach dem schönen brunnen, der für dich rinnt, ganz in der nähe. / mang».
Mang, wie Enzensberger von Freunden genannt wird, schreibt einen zweiten Brief, darin ein Gedicht von ihm in nicht ganz stilsicherem Italienisch, das die Worte io, tu und si umspielt und den eigenen Namen: «ti ricordai?» (sic), und dann mit weitem Abstand am Zeilenrand: «mi chiamo m». Er schreibt einen dritten Brief, jenen mit der stillstehenden Luft und der Erkenntnis: «so also – sehr einseitig, warte ich, lausche daß du mir etwas sagst, etwas mit mir teilst, weil dort wo du bist diese lähmung nicht herrschen kann.» Und er schreibt einen vierten, fünften, sechsten Brief, in die sich bald auch passiv-aggressive Töne mischen. Bachmann, so scheint es, schreibt vorerst: nichts.
Sie ist auf Reisen, aber Enzensberger, der verfolgt, «wie du über die karte von europa huschst», weiss, das allein ist nicht der Grund für ihr Schweigen. Abgesehen davon, dass er selbst verheiratet ist: Bachmann ist in einer Beziehung mit Max Frisch, die endgültige Trennung von der Liebe ihres Lebens, Paul Celan, liegt noch nicht lange zurück. Aber noch bevor Bachmann Mitte August aus Uetikon schreibt, in einem Brief, der zunächst nur «man» sagt anstatt «ich», schlägt Enzensberger einen Ausweg vor: Freundschaft. «vergiß nicht daß du unschuldig bist: vergiß nicht daß ich freundlich bin.»
Freundlich sein – aus dem Mund eines Brecht-Enthusiasten ist diese Losung emphatischer, als es scheinen mag. Und auch Bachmann wird das Wort «Freundlichkeit» beschwörend mit Bedeutung aufladen, als Gegenpol zum «Beziehungswahn», der auch sie manchmal befalle, denn «allerorten taucht etwas auf, in einem Gespräch, in einem Ding, das auf Dich verweist». Der Ausklang dieses Schreibens: «Augenküsse. / Ingeborg».
Vielleicht erschliesst sich das Besondere dieser Briefe am deutlichsten, wenn man sie gegen den Briefwechsel zwischen Bachmann und Celan hält, den man mit guten Gründen zu den bedeutendsten der Weltliteratur rechnen darf. Von der Amplitude der Bachmann-Celan-Briefe, von ihrem unauflöslichen Ineinander von Poesie und Abgründigkeit, muss sich der Austausch mit Enzensberger notwendig unterscheiden, schon allein deshalb, weil die Voraussetzungen völlig andere sind. Aber wie beide die gemeinsame Sprache in ein intimes Vokabular der platonischen Freundschaft überführen und damit die persönliche Verbundenheit in eine neue Konstellation retten, gibt dieser Korrespondenz ihr ganz eigenes Gewicht.
Enzensberger wird für Ingeborg Bachmann in den folgenden Jahren zu einem ihrer wichtigsten Freunde werden, sensibel und hellhörig gerade in den Phasen von Krankheit und Gefährdung. Präziser und früher als andere erkennt er in der gefeierten Lyrikerin auch die brillante Intellektuelle. Nicht zuletzt – und das bleibt in der ansonsten vorzüglichen Kommentierung des Bandes erstaunlich unterbelichtet – macht er sich wie niemand sonst um ihre Lyrik verdient, als diese in den Sechzigerjahren eine Fundamentalkrise durchläuft.
Denn die Spirale aus Krankheit und Sucht, in die Bachmann ab 1962, nach dem Scheitern der Beziehung mit Max Frisch, gerät, jenes «Male oscuro», das Band 1 der neuen Bachmann-Gesamtausgabe bis in die medizinischen und persönlichen Details beleuchtet, musste zwangsläufig auch eine Zäsur für ihr Schreiben bedeuten. Fortan ist Bachmann auf der Suche nach einer Poetik der Krankheit und des Selbstverlusts, und dies auf zwei Wegen. Der eine führt sie zu einer neuen, radikalen Prosa, zum grossen «Todesarten»-Zyklus, dem seit Mitte der Sechzigerjahre der Schwerpunkt ihres Schreibens gilt. Der andere führt in einen Kampf mit der eigenen Lyrik.
Während Bachmann nach aussen nur noch als Prosaautorin auftritt, sucht sie über Jahre hinweg auch im Gedicht nach einer Ausdrucksform für die eigene lebensweltliche Erfahrung. So entsteht ein umfangreicher Komplex an lyrischen Texten, Entwürfen und Fragmenten, die Bachmann jedoch allesamt vor der Öffentlichkeit zurückhält (erst im Jahr 2000 sind sie postum veröffentlicht worden). Mit einer Ausnahme: jener der vier Gedichte, die Ende 1968 in Enzensbergers «Kursbuch» erscheinen, nach jahrelangem Zögern und Überarbeiten. Und nach Jahren des Feilschens und Diskutierens mit Enzensberger, der ihr unermüdlich in immer neuen Anläufen die Texte zu entlocken versucht, notfalls mithilfe martialischer Metaphern: «große zögrerin mit dynamit in deinen schubladen, ich lade dich ein.»
Vier Jahre lang wird Enzensberger seine Einladung wiederholen müssen, bis die Gedichte schliesslich im «Kursbuch» erscheinen – nachdem ein Teil der darin enthaltenen Motive und literarischen Anspielungen auch durch ihre Briefe gegeistert war. Es ist der Höhepunkt von Bachmanns Lyrik, wird die Forschung später ziemlich einhellig befinden; nirgendwo ist jene «‹Leidensgeschichte›», von der Bachmann Enzensberger nur in Andeutungen berichtet, sublimierter in Literatur aufgehoben als in dieser Sequenz von vier Gedichten.
Die Reihenfolge, schreibt Bachmann in einem nicht abgesandten Brief, «nummerierte ich, weil sie für mich einen Sinn hat». Und tatsächlich durchlaufen die Texte eine Bewegung von Schweigen und Verstummen hin zur Feier eines vielstimmigen Sprechens in «Böhmen liegt am Meer», ihrem berühmtesten Gedicht, das die Autorin als ihr letztes deklariert hat, «weil damit alles gesagt ist».
Entstehungszeit «1963/64» – das steht in einer von Bachmann selbst veranlassten Anmerkung im «Kursbuch». Nur noch diese paar letzten Gedichte, geschrieben schon vor Jahren: Das ist Bachmanns Botschaft, auch in vielen Interviews. Tatsächlich sind die Gedichte einem ganzen Konvolut von lyrischen Entwürfen abgerungen und erfahren Umarbeitungen weit über 1964 hinaus.
Doch es ist der doppelte Triumph Ingeborg Bachmanns, mit ihrer letzten Gedichtveröffentlichung nicht nur die eigenen lyrischen Entwürfe zu widerlegen, in denen es heisst: «Meine Gedichte sind mir abhanden gekommen». Sondern sich nach all den Fremdzuschreibungen auch die Deutungshoheit über ihr Werk zurückzuerobern: vier Gedichte, so signalisiert sie im «Kursbuch», als letzte Nachzügler aus einer schon überwundenen Zeit. Statt Verlust der eigenen Lyrik: Verzicht. Ein Wort, das auch als Motto über dem Briefwechsel zwischen Bachmann und Enzensberger stehen könnte. Nach 1968 wird dieser ebenfalls nur noch um sehr wenige Nachzügler wachsen.
Ingeborg Bachmann/Hans Magnus Enzensberger: «schreib alles was wahr ist auf». Der Briefwechsel. Hg. von Hubert Lengauer. Piper-Verlag/Suhrkamp-Verlag, München/Berlin/Zürich 2018. 479 Seiten, ca. 59 Franken. Hier gehts zur Leseprobe.
Zu Bachmanns erster, damals unveröffentlichter Lesung von «Böhmen liegt am Meer» gelangt man hier. Gegenüber dieser Textfassung von 1965 wird das Gedicht in der finalen Version noch geringfügige Änderungen erfahren.