Wäre es nicht ehrlicher, wenn SP und Grüne fusionieren würden, Frau Häusermann?
Der SP laufen die Wählerinnen davon. Die Politikwissenschaftlerin Silja Häusermann sagt, welche Rolle Identitätspolitik dabei spielt und warum Simonetta Sommaruga eine gute SP-Bundesrätin war.
Ein Interview von Dennis Bühler, Priscilla Imboden (Text) und Dan Cermak (Bilder), 05.11.2022
Keine andere Schweizer Traditionspartei hat einen vergleichbaren Niedergang hinnehmen müssen wie die SP: War sie 1995 noch die wählerstärkste Partei und 1999 immerhin gleichauf mit der SVP, droht sie bei den Wahlen im kommenden Herbst gar Rang zwei zu verlieren – an die FDP.
Trotzdem bleibt ihr Anspruch, weiterhin mit zwei Sitzen im Bundesrat vertreten zu sein, unangefochten. Als Simonetta Sommaruga am Mittwoch überraschend ihren Rücktritt erklärte, dauerte es exakt 69 Minuten – und schon hatten die Grünen erklärt, auf eine Kandidatur zu verzichten. Wenig später gab mit der GLP die einzige andere ernst zu nehmende Oppositionspartei dasselbe bekannt.
Welche Rolle nimmt die SP im linken Lager ein? Wie unterscheidet sie sich von den Grünen? Und trifft es zu, dass sie mit «woken» Themen Prioritäten setzt, die die eigenen Wähler kaltlassen? Diese Fragen beantwortet die Schweizer Politologin, die sich am besten mit der Sozialdemokratie auskennt: Silja Häusermann. Ihr gemeinsam mit sechs Kolleginnen geschriebenes Buch zur Wählerschaft und zu den Perspektiven der SP erscheint demnächst.
Mit dem Rücktritt von Bundesrätin Simonetta Sommaruga liegt der Fokus auf der SP. Wie geht es der Partei?
Ich finde, es geht ihr im europäischen Vergleich ganz gut: Die SP ist die zweitstärkste Partei im Land und führt das linke Lager an. Im Gegensatz zu anderen Ländern sind kaum alternative linke Parteien neben ihr aufgekommen. Aber: Die SP hat Wähleranteile verloren und steht vor der schwierigen Herausforderung, neue und vor allem auch jüngere Wählerschichten für sich zu gewinnen.
Was war Simonetta Sommaruga für eine Bundesrätin?
Aus parteistrategischer Sicht? Eine ziemlich ideale. Schweizer Parteien müssen gleichzeitig opponieren, polarisieren und regieren. Das bedingt eine Arbeitsteilung zwischen Parteileitung und Regierungsvertreterinnen. Simonetta Sommaruga war verlässlich und klar links, aber mit Appeal über die eigene Basis hinaus.
Ist ein Bundesratsrücktritt ein Jahr vor den Wahlen von Vorteil für die Partei?
In diesem Fall sicher, zumal sich Grüne und SP ganz offensichtlich auf eine solche Situation vorbereitet hatten. Durch die raschen und klaren Reaktionen ist eine Diskussion um den Anspruch der SP auf die beiden Sitze in den letzten Tagen gar nicht aufgekommen.
Silja Häusermann forscht und lehrt seit zehn Jahren als Professorin am Institut für Politikwissenschaft der Universität Zürich, wo sie den Lehrstuhl für Schweizer Politik und Vergleichende politische Ökonomie innehat. Speziell interessiert sie sich für Renten- und Familienpolitik, vergleichende Wohlfahrtsstaatenforschung und Parteiensysteme. Ihr neuestes Buch – «Wählerschaft und Perspektiven der Sozialdemokratie in der Schweiz» – hat die 45-Jährige gemeinsam mit sechs Institutskolleginnen geschrieben: Tarik Abou-Chadi, Reto Bürgisser, Matthias Enggist, Reto Mitteregger, Nadja Mosimann und Delia Zollinger. Es erscheint am 14. November im Verlag NZZ Libro.
Trotzdem: Die SP befindet sich im Niedergang. Wähler laufen ihr davon: Vor drei Jahren verlor sie national 2 Prozentpunkte, seither hat sie praktisch jede kantonale Wahl verloren. Auch 2023?
Für eine Prognose ist es ein Jahr vor der Wahl zu früh, die erste Umfrage zeigt nur kleine Verschiebungen. Aber klar ist: Es gibt einen langfristigen, strukturellen Schwund des sozialdemokratischen Elektorats. Einerseits, weil wir von einer industriellen Gesellschaft zu einer postindustriellen oder Wissensgesellschaft übergegangen sind – und andererseits, weil andere, neue Themen politisch sehr wichtig geworden sind.
Wieso sprechen die Wissensgesellschaft und die Themenvielfalt gegen die SP?
Der wirtschaftliche Strukturwandel erodiert einen wichtigen Teil der traditionellen Wählerbasis der Sozialdemokratie. Die Beschäftigung in Industrie und Dienstleistung macht in der Schweiz noch etwa 20 Prozent aus. Die überwiegende Mehrheit der Beschäftigung ist in gut qualifizierten «managerialen», technischen oder personenbezogenen Berufen. Um in einem so radikal veränderten Umfeld mobilisieren zu können, muss sich die Sozialdemokratie seit gut dreissig Jahren neu aufstellen. Zudem muss sie sich in den Themenfeldern, die in dieser Zeit so wichtig geworden sind – Migration, Gleichstellung, Klima, Europa –, ein Profil und eine Glaubwürdigkeit erarbeiten, die ihr in ihren Kernthemen traditionell zugeschrieben werden, etwa der Sozialpolitik.
In Ihrem neuen Buch attestieren Sie der SP ein Wählerpotenzial von 40 Prozent. Warum schöpft sie es aktuell nicht einmal zur Hälfte aus?
Das Wählerpotenzial bezeichnet den Anteil der Wählerinnen, die sich vorstellen können, eine Partei zu wählen, unabhängig davon, ob sie es tun. Seit Jahrzehnten kommt das linke Lager auf einen Wert von rund 40 Prozent – bloss gibt es immer mehr Parteien, die einen Teil davon ergattern. Die SP hat kein Monopol mehr.
Laufen die sozialdemokratischen Parteien Gefahr, ihre Vormacht im linken Lager zu verlieren?
Ja. In vielen Ländern ist der Zug wohl bereits abgefahren: Die französischen und niederländischen Sozialdemokraten etwa sind regelrecht implodiert. Auch in Deutschland könnten die Grünen der SPD in den nächsten zehn bis zwanzig Jahren den Rang ablaufen.
Und in der Schweiz?
Hier ist das Rennen offen. Relativ betrachtet, hat die SP weniger Wähleranteile verloren als ihre europäischen Schwesterparteien. Doch die Altersstruktur ihrer Wählerschaft verheisst für die Partei grosse Schwierigkeiten.
Erklären Sie.
Noch 1995 waren bloss etwa 25 Prozent der SP-Wählenden über sechzig Jahre alt. 2019 waren es 40 Prozent. Bei jüngeren Linken haben die Grünen einen Vorsprung in der Mobilisierung.
Wenden sich die beiden Parteien an die genau gleiche Wählerschaft?
Die Überschneidung ist riesig: Über 70 Prozent der SP-Wählerinnen könnten sich auch vorstellen, die Grünen zu wählen, und vice versa.
Gibt es etwas, das im Konkurrenzkampf mit den Grünen für die SP spricht?
Die SP ist in Bereichen, die jungen Menschen auf der Linken wichtig oder sehr wichtig sind, klar positioniert und geniesst eine hohe Glaubwürdigkeit. Beispielsweise in der Integrations- und der Gleichstellungspolitik. Kommt es innerhalb des linken Lagers zu Verschiebungen, könnte deshalb auch die SP auf Kosten der Grünen profitieren.
Das zeigt aber eher, dass es kaum Differenzen gibt zwischen den Grünen und der SP.
Die Positionen sind sehr, sehr ähnlich.
SP und Grüne haben eine gemeinsame Klimafonds-Initiative lanciert, sie wollen 2023 in möglichst vielen Kantonen Listenverbindungen eingehen, und kaum hatte Sommaruga ihren Rücktritt aus dem Bundesrat erklärt, gaben die Grünen bekannt, ihren Sitz nicht anzugreifen.
So ist es.
Wäre es nicht ehrlicher, wenn SP und Grüne fusionieren würden?
Ich glaube, eine enge Partnerschaft ergibt aus strategischer Sicht für die beiden Parteien mehr Sinn als eine Fusion. Sie haben zwar zu den meisten Fragen deckungsgleiche Positionen, aber sie gewichten die Themen unterschiedlich. Alle Wahlstudien zeigen, dass die Wähler sie auch effektiv mit unterschiedlichen Schwerpunkten assoziieren. So bieten sie den Wählerinnen ein breiteres Spektrum an.
Was ist mit dem umgekehrten Weg – sollte sich die SP stärker von den Grünen abgrenzen?
Das wäre weder glaubwürdig noch Erfolg versprechend. Theoretisch hätte die SP drei Möglichkeiten, um Distanz zu markieren: Sie könnte sich auf soziale und wirtschaftliche Themen konzentrieren, in die politische Mitte rücken oder linkskonservative Positionen einnehmen. Nichts davon würde der SP nützen, im Gegenteil. Sie würde damit den Grünen das Feld überlassen.
Der Kurs der SP sorgt immer wieder für Kritik. Sie müsse weg von der «Bewegler»-Logik, kritisierte der ehemalige Nationalrat Rudolf Strahm jüngst und sagte: Identitäts- und Woke-Themen seien wichtig, «aber sie irritieren die SP-Wählerschaft, und Kampagnen wie gegen Frontex und gegen das Burkaverbot spalten die Sozialdemokratie».
Ich sehe in unseren Daten keine Belege für Strahms Aussage, dass diese Themen die SP-Wählerschaft irritierten. Im Gegenteil: Wir legten Studienteilnehmern fiktive Parteiprogramme vor und beobachteten, wie sie darauf reagieren. So kann man sehen, welche Themen bei wem ziehen und welche abschrecken.
Und was kam dabei heraus?
In der SP-Wählerschaft und im ganzen linken Elektorat ziehen die progressiven gesellschaftspolitischen Themen am stärksten. Eine klar liberale Migrationspolitik, eine Erhöhung der CO2-Abgaben oder Geschlechterquoten erhöhen die Wahrscheinlichkeit, dass die Befragten ein Parteiprogramm besonders gut bewerten, stärker noch als sozialpolitisch expansive Positionen. Genauso wichtig: Konservativere Positionen in diesen Themen reduzieren die Zustimmung zum Parteiprogramm. Gesellschaftspolitisch progressive Positionen herunterzufahren, wäre deshalb ein grosses Risiko für die Partei.
Das heisst: Die These, dass die SP mit konservativeren Positionen weniger gebildete, konservativ eingestellte Schichten erreichen würde – die frühere Arbeiterschaft –, ist falsch?
Ja. Die Wählerschaften in der Schweiz sind heute stark segmentiert zwischen verschiedenen Lagern. Die Umschichtung der Wählerschaften hat schon vor langer Zeit stattgefunden: Höher gebildete Personen wählen eher progressiv, tiefer gebildete und einkommensschwächere Schichten in der Tendenz eher konservativer.
Also stimmt es, dass die SP die Arbeiterschaft an die Rechten verloren hat.
Nein, oder zumindest nicht direkt. Wir wissen heute aus der Forschung: Es kam zu praktisch keiner direkten Abwanderung, es war vielmehr ein Generationenwandel. Ausserdem ist die Arbeiterschaft massiv geschrumpft. Jene «Arbeiter» – etwa Menschen mit ausschliesslich Berufsbildungsabschluss –, die heute noch SP wählen, sind nicht konservativ eingestellt, gesellschaftspolitische Fragen sind ihnen höchstens etwas weniger wichtig. Jene Arbeiterinnen, die heute rechts wählen, sind für die SP nicht zu gewinnen: Der Anteil an SVP-Wählern, die sich vorstellen können, jemals eine SP-Liste in die Urne zu werfen, liegt bei weit unter 10 Prozent; dasselbe gilt übrigens auch umgekehrt.
Trotzdem gibt es andauernde Diskussionen über sogenannte «woke» Themen: dass die Linke sich auf die Rechte von Minderheiten fokussiere zu Lasten der traditionellen Mehrheitsgesellschaft. Was halten Sie von diesem Vorwurf?
Nicht viel. Es gibt eine etwas unglückliche Wahrnehmung dessen, was heute culture wars oder Identitätspolitik sei. Nehmen wir das Beispiel der Gleichstellung. Im AHV-Abstimmungskampf sahen wir eben erst, wie die Realitäten für Frauen und Männer im Schweizer Arbeitsmarkt komplett unterschiedlich sind. Das betrifft nicht eine kleine Elite, sondern ganz durchschnittliche Wähler und Wählerinnen und ihre Familien.
Also sind das keine Nebenschauplätze.
Nein. Wenn man sich empirisch anschaut, was die Menschen beschäftigt, kommt klar zum Ausdruck, dass diese Themen sie sehr stark umtreiben. Das ist natürlich vor allem bei links eingestellten Menschen der Fall, erst recht bei den jüngeren Leuten um die dreissig oder vierzig. Sie sind mit diesen Themen politisiert worden – sie bedeuten für sie soziale Gerechtigkeit und Inklusion.
Versteht man heute unter sozialer Gerechtigkeit etwas anderes als früher?
Heute stellt sich diese Frage auf eine andere Art, in einer sehr durchmischten Gesellschaft, in einer Gesellschaft, in der sich auch soziale und wirtschaftliche Risiken verändert haben. Die Sozialdemokratie muss sich überlegen, wie ihr Programm fürs 21. Jahrhundert aussieht.
Was raten Sie ihr?
Wenn man sich die Einstellungen und Prioritäten der linken Wählerschaft heute ansieht, dann sollten linke Parteien offensiv dazu stehen, dass die Themen der Gleichberechtigung, der sozialen Zugehörigkeit und Anerkennung wichtig sind. Cultural wars und «Wokeness» sind ja eher Terminologien der politischen Gegnerschaft. Die linken Parteien müssen bestrebt sein, sich diese Themen nicht auf negative Art zuschreiben zu lassen, sondern sie aufzunehmen und eigenständig positiv zu besetzen.
Was heisst das konkret?
Das bedeutet, die unterschiedlichen Anliegen ihrer Wählerinnen in einem kohärenten Programm zu verbinden. Zum Beispiel: Soziale Gerechtigkeit umfasst den Kampf gegen prekäre Beschäftigung oder fehlende Chancengleichheit genauso sehr wie denjenigen gegen Diskriminierung, Ausgrenzung von Minderheiten oder den Klimawandel und seine Folgen für unsere Kinder. Eine solche Ausrichtung widersetzt sich einer Hierarchisierung der Ungleichheiten in zentrale und nebensächliche, in «harte» und «weiche».
Der SVP gelingt es nahezu perfekt, gesellschaftskonservative Kreise zur Wahl zu bewegen. Weshalb?
Im Gegensatz zur Sozialdemokratie hat die SVP seit den Neunzigerjahren, als sie von einer 12- zu einer 30-Prozent-Partei anzuwachsen begann, fast ausschliesslich auf der gesellschaftspolitischen Dimension mobilisiert – und das enorm erfolgreich. Auch wenn die SVP erst mit dem EWR-Nein den ganz grossen Durchbruch schaffte, darf man nicht vergessen: Der Aufstieg der SVP begann schon vorher, etwa mit ihrem Kampf gegen das neue Eherecht, das Frauen mehr Rechte einräumte. Sie hat sich als Gegenpol zu den sozialen Bewegungen der Achtzigerjahre positioniert, und als solcher Gegenpol wird sie bis heute gewählt.
Wie gross ist denn das SVP-Wählerpotenzial?
Es liegt bei etwa einem Drittel, was die SVP auch beinahe erreicht.
Kann man sagen, dass die SVP eigentlich die Partei ist, die wirklich Identitätspolitik betreibt und culture wars führt, obwohl sie dies den linken Parteien vorwirft?
Jede grundlegende politische Spaltung beruht nicht nur auf materiellen Interessen, sondern auch auf Identitäten. Die gesellschaftspolitische Konfliktlinie zwischen Offenheit, Universalismus, Internationalismus auf der einen Seite und nationalkonservativen Traditionen, die es zu bewahren gelte, auf der anderen Seite hat eine klar identitätsbasierte Dimension, und zwar an beiden Enden. Diese Konfliktlinie sehen wir in ganz Europa. Es prallen zwei verschiedene Vorstellungen davon aufeinander, wie die Gesellschaft funktionieren soll.
Was bestimmt, wer auf der einen und wer auf der anderen Seite dieses politischen Konfliktes steht?
Die Identitäten an den beiden Enden dieses Konfliktes haben sich in der Schweiz sehr klar herausgebildet, das konnten wir in neuen Befragungen erheben. Wer sich heute in der Schweiz als «links» bezeichnet, definiert sich selbst stark über Begriffe wie Offenheit, Inklusion, Geschlechtergleichheit oder Solidarität, auch im Bereich der Migration. Wer sich heute als «rechts» bezeichnet, meint damit nicht primär tiefe Steuern, sondern denkt an Nation, Traditionen bewahren, Heimatverbundenheit, Bodenständigkeit. Auch die Abgrenzung gegenüber «Out-group-Identitäten» ist bezeichnend: Die Linken sagen nicht etwa, dass der politische Gegner «der Unternehmer» sei, sondern sie grenzen sich von den eher konservativ-nationalen Identitäten ab. Diese Symmetrie in den Identitäten und Abgrenzungen tritt sehr klar zum Vorschein.
Mit anderen Worten: SP- und SVP-Wähler definieren sich selbst auch stark in Abgrenzung zur Gegenseite.
So ist es.
Für die SP-Wählerschaft ist hingegen nicht mehr identitätsstiftend, zu welcher ökonomischen Klasse sie gehören. Das zeigen Ihre Befragungen. Ist der Klassenkampf endgültig vorbei?
Der Klassenkampf … Ich zögere mit meiner Antwort, weil das Wort «Klassenkampf» die falsche Vorstellung weckt, die SP habe noch vor wenigen Jahrzehnten ausschliesslich aus Arbeitern bestanden, die für ihre materiellen Interessen kämpften. Dabei gehörte schon in den Sechzigerjahren nur etwa die Hälfte der linken Wählerschaft zur Arbeiterklasse. Auch der Klassenkonflikt als fundamentale politische Spaltung hatte und hat sowohl eine materielle als auch eine Identitätsdimension. Auch damals gab es viele gut qualifizierte Menschen, die sich für die Sache der Arbeiterbewegung einsetzten.
Das heisst?
Es ist nicht so, dass wir von einer einfachen Welt des Klassenkampfes zu einer komplizierten Welt der Identitätspolitik wechseln. Das Wahlverhalten ist heute nach wie vor stark an soziostrukturelle Lebensrealitäten gebunden, aber an andere, und die Selbstwahrnehmung der Menschen beruht stärker auf kulturell definierten Identitäten als auf ökonomisch definierten.
Der SP wird gemäss Ihrer Studie auch in der Europapolitik eine Themenführerschaft zugesprochen. Riskiert sie, diese durch die Flügelkämpfe zwischen Gewerkschaften und Internationalisten zu verlieren?
Ja. In der Europafrage droht die SP ihre Vorreiterrolle zu verlieren. In den letzten Jahren wusste die Wählerschaft zuweilen nicht, wofür sie steht.
Was steht dabei auf dem Spiel?
In der Schweiz gibt es eine Altersgruppe, die in den Neunzigerjahren stark mit der Europapolitik politisiert wurde. Das sind die heute 40- bis 55-Jährigen. Sie könnten sich von der SP abwenden. Der Partei kommt zugute, dass die Grünen in der Europafrage keine ernsthafte Konkurrenz sind, weil sie diesbezüglich mindestens so ambivalent sind. Die Grünen waren vor dreissig Jahren etwa gegen den EWR.
Die Grünliberalen hingegen haben sich als mittlerweile einzige Partei eindeutig proeuropäisch positioniert. Können sie damit eine Konkurrenz für die SP werden?
Ja, das ist durchaus möglich. Die GLP ist die Europafrage von Anfang an offensiver angegangen. Die SP spürt diesen Druck. Deshalb hat die Parteileitung versucht, ihr europapolitisches Profil zu klären, und am vergangenen Wochenende ein Europapapier verabschieden lassen, das den EU-Beitritt weiterhin als Fernziel definiert.
Die Grünliberalen sind aber in wirtschafts- und finanzpolitischen Fragen bürgerlich. Sind sie nicht eher eine Gefahr für die FDP als für die SP?
Für beide in etwa gleich, wie unsere Befragungen zeigen. Es gibt in der Politikwissenschaft die These, dass die europäischen Parteiensysteme sich in eine tripolare Richtung entwickeln: mit einem linksprogressiven Pol, einem rechtskonservativen Pol und einem sowohl marktliberalen als auch gesellschaftlich liberalen Pol.
Die Schweiz entspricht sehr stark diesem Modell.
Das tut sie, und doch gibt es einen Wandel: Früher besetzte die FDP den liberalen Pol mit ihrem progressiven Flügel, dem unter anderem Politikerinnen wie Christine Beerli, Christine Egerszegi oder Felix Gutzwiller angehörten. Dieser Pol ist in der FDP schwach geworden. In diese Lücke ist die GLP getreten.
In der Schweiz kann eine Partei Regierungsverantwortung haben und gleichzeitig trotzdem radikale Positionen vertreten. Wie gut gelingt der SP dieser Spagat?
Dieser Spagat zwischen Opposition und Reformfähigkeit gelingt eigentlich allen Schweizer Parteien zunehmend schlecht. Nicht nur der SP. Die Schweiz ist ja eine sogenannte Konkordanzdemokratie, die über vielfältige Institutionen Macht verteilt, den Föderalismus, die direkte Demokratie, den Proporz, die Konkordanzregierung. Die ganzen Institutionen sind so ausgelegt, dass gewichtige Entscheidungen breite Koalitionen brauchen. Die starke Polarisierung erschwert diesen Prozess massiv.
Welche Folgen hat das?
Das System droht zu versagen. Nehmen wir die grossen Fragen der nächsten zehn, zwanzig Jahre: die Demografie, Europa und die Umwelt. In allen drei Bereichen fiel es der Schweiz in den letzten Jahren äusserst schwer, wirklich substanzielle Fortschritte zu erzielen. Das liegt daran, dass die Polarisierung das System blockiert. Ich zitiere immer die eindrücklichen Zahlen des Berner Politikwissenschaftlers Adrian Vatter: Bis in die Achtzigerjahre gaben die Regierungsparteien noch bei mehr als zwei Dritteln aller Volksabstimmungen die gleiche Parole ab. Heute ist dieser Wert auf unter 10 Prozent geschrumpft. Die beiden grössten Parteien SVP und SP sind quasi nie mehr im gleichen Boot. Das scheint schon so normal, dass es gar nicht mehr auffällt. Aber eigentlich ist es bizarr, da sie ja gemeinsam in der Regierung sitzen.
Das politische System der Schweiz ist also in einer Krise angelangt?
Ja. Die Polarisierung hat zwar auch ihr Gutes: Die Wahlbeteiligung steigt, auch bei den Jungen, weil es um etwas geht. Die Bundesratszusammensetzung ist plötzlich spannend geworden. Das ist für eine Demokratie nicht so schlecht. Die politischen Ansichten in der Bevölkerung werden ziemlich gut abgebildet durch diese polarisierte Parteienlandschaft. Aber die Handlungsfähigkeit des politischen Systems wird dadurch behindert.
Gibt es einen Ausweg?
Vorerst wohl kaum. Ich sehe auf absehbare Zeit wenig Grund, auf eine Deblockade zu hoffen.
Geht es bei den Wahlen im Oktober 2023 um viel?
Es geht nicht mehr um so viel wie früher, in den fünf nationalen Wahlen zwischen 1995 und 2011, als die SVP die Rechte umkrempelte, sich die politische Mitte aufspaltete, neue Parteien wie die GLP und die BDP entstanden und die Grünen sich als zweite linke Macht neben der SP etablierten. Im Moment konsolidiert sich die Parteienlandschaft eher: Die GLP etwa wird – anders als zuletzt die BDP – nicht wieder verschwinden, sie hat ein klar erkennbares Kernelektorat.
Gemäss dem jüngsten SRG-Wahlbarometer wird es praktisch keine Verschiebungen geben bei den nächsten Wahlen. Es droht langweilig zu werden.
Nein, im Gegenteil: Mich als Politikwissenschaftlerin fasziniert Stabilität oder genauer Stabilisierung genauso sehr wie Veränderung, umso mehr, wenn es die Schweizer Parteienlandschaft betrifft.
Stabilität kann ja politisch wünschenswert sein oder erfreulich, aber spannend?
Es ist enorm spannend, weil der Wandel des politischen Systems in der Schweiz in den letzten Jahrzehnten wegweisend war in Europa. In der Schweiz hat sich früher als anderswo das System fragmentiert und polarisiert: Der Aufstieg der rechtsnationalen SVP kam lange vor dem Aufstieg der PVV in den Niederlanden, der Schwedendemokraten oder der AfD in Deutschland. Auch der Wandel der Sozialdemokratie hin zu einer neulinken Partei, die sich mit Umweltschutz und Migration beschäftigt, geschah früher als in den meisten anderen Ländern.
Ist die Schweiz also eine Art parteipolitisches Labor Europas?
Genau, auch weil die Wahlergebnisse weniger beeinflusst sind von der Dynamik von Regierung und Opposition. Wahlergebnisse in der Schweiz reflektieren soziale Verschiebungen in den Elektoraten und ihren Einstellungen. Und das macht es so spannend: Fast alle europäischen Parteiensysteme bewegen sich auf eine Situation zu, in der es fünf bis sieben Parteien gibt, die je so plus/minus 10 bis 20 Prozent der Wählerschaft erreichen. Wenn sich die aktuelle Parteienlandschaft in der Schweiz stabilisiert, so ist das auch von Interesse für die parteipolitische Entwicklung in den anderen Ländern Europas, wo sich viele Beobachter noch fragen, welcher Teil des Wandels volatil ist und welcher stabil.