Briefing aus Bern

Cassis läuft in Brüssel auf, Kampfjet-Kauf wird untersucht – und Fussballfans im Dilemma

Das Wichtigste in Kürze aus dem Bundeshaus (168).

Von Reto Aschwanden, Lukas Häuptli, Priscilla Imboden und Cinzia Venafro, 18.11.2021

Eigentlich möchte Aussen­minister Ignazio Cassis die Europa­politik gemütlich angehen. Vor neuen Verhandlungen mit der EU müsse zuerst Ruhe einkehren, sagte er letzte Woche: «Wir brauchen Zeit, um ohne Druck innen­politisch unsere Prioritäten zu klären.» Er freue sich darauf, seinen neuen Ansprech­partner, den Vizepräsidenten der EU-Kommission Maroš Šefčovič, kennen­zulernen und ihm zu erklären, dass «die Schweiz auch aus innen­politischen Gründen nicht in eine Hektik verfallen kann».

Am Montag kam es zu diesem Kennenlernen – aber es blieb nicht beim gemütlichen Plausch. Nach dem Treffen am Montag teilte das eidgenössische Aussen­­departement mit, man habe sich geeinigt, einen strukturierten Dialog auf Minister­ebene zu führen, um eine «Standort­bestimmung vorzunehmen» und eine «gemeinsame Agenda» zu definieren. «Der Ball liegt auf beiden Seiten», erklärte Cassis, was nicht nur als Sprach­bild schief hängt, sondern auch im Wider­spruch steht zur klaren Ansage der Europäischen Kommission: Man erwarte von der Schweiz eine «Roadmap», die aufzeige, wie sie die dynamische Übernahme des EU-Rechts und die Streit­schlichtung organisieren wolle sowie die regelmässigen Kohäsions­zahlungen. Und das bis zum nächsten Termin am Rande des Weltwirtschafts­forums in Davos in nur zwei Monaten. Er wolle schnelle Ergebnisse, stellte EU-Kommissions­vize Šefčovič nach dem Treffen mit Cassis klar: «Wir wollen keine abstrakte Diskussion, die sich nur im Kreis dreht.» Man habe nach sieben Jahren Verhandlungen, 25 Treffen auf Minister­ebene und einem abrupten Abbruch ein Vertrauens­problem.

Eine steife Brise wehte auch Mitgliedern der Aussen­politischen Kommission des Nationalrats entgegen, die letzte Woche in Brüssel zu Besuch waren. Die Kommissions­präsidentin und grünliberale Fraktions­chefin Tiana Angelina Moser sagt gegenüber der Republik: «Es wurde uns aus allen Gesprächen klar: Die EU hat die Reihen geschlossen und entschieden, wie sie die Zusammen­arbeit mit Drittländern gestalten will. Ohne Klärung der institutionellen Fragen gibt es keinen bilateralen Weg mehr. Es ist an uns zu entscheiden, welche Beziehung wir mit der EU wollen.»

Nun ist es also vorbei mit der Gemütlichkeit. Der Bundesrat und allen voran Ignazio Cassis werden nicht umhin­kommen, schneller als geplant einen Ausweg aus der europa­politischen Sackgasse zu finden.

Und damit zum Briefing aus Bern.

Missbrauch: Sport­förderung soll umgebaut werden

Worum es geht: Viele Schweizer Sportlerinnen erleben Erniedrigungen, Beschimpfungen und Kollektiv­strafen. Das zeigt ein Untersuchungs­bericht im Auftrag des Bundes. Befragt wurden dafür vor allem Athletinnen, aber auch einige Athleten: mehrheitlich Turnerinnen sowie Eiskunst­läuferinnen, Wasser­springer und Synchron­schwimmerinnen. Von den Schwimmerinnen gab jede Vierte an, schon sexuell anzügliche Bemerkungen erlebt zu haben. Nun zieht das Departement für Verteidigung, Bevölkerungs­schutz und Sport (VBS) Konsequenzen. Ab nächstem Jahr sollen Sportler bei der neuen Meldestelle «Swiss Sport Integrity» anonym Ethik­verstösse melden können.

Warum Sie das wissen müssen: Der Untersuchungs­bericht ist eine Reaktion auf die «Magglingen-Protokolle», die vor einem Jahr im «Magazin» von Tamedia publiziert wurden. Darin berichteten Kunst­turnerinnen von systematischer Einschüchterung und Erniedrigung im Nationalen Sport­zentrum Magglingen, das zum Bundesamt für Sport gehört. Ende Sommer trennte sich der Schweizer Turnverband von Fabien Martin, dem Cheftrainer der Frauen. Doch das Problem betrifft auch andere Sportarten, die mehrheitlich von teils sehr jungen Frauen betrieben werden. Wie der Bericht zeigt, bestehen generell «kaum leistungs­sport­spezifische Schutz­bestimmungen». Ethik­grundsätze seien nur allgemein formuliert und könnten darum nicht als Basis für Sanktionen wie Kürzungen von Förder­geldern dienen. Zudem hätten der Bund und Swiss Olympic ihre Kontroll­funktion nicht wahrgenommen und auf Vorwürfe nur zögerlich reagiert. Nun zeigt Swiss-Olympic-Präsident und Alt-SVP-Nationalrat Jürg Stahl Einsicht: Man wolle «Athletinnen und Athleten, die sich an Trainer erinnern, die sie gefördert haben – aber nicht überfordert. Und sie sollen sich schon gar nicht an solche erinnern, die sie misshandelt haben.»

Wie es weitergeht: Künftig will der Bund im Sport genauer hinschauen. So sollen kinder- und jugend­gerechte Nachwuchs­förder­modelle entwickelt und Eltern stärker eingebunden werden. Sport­ministerin Viola Amherd unterbreitet dem Gesamt­bundesrat eine Teilrevision der Sportförder­verordnung: Sie regelt, welche Mindest­anforderungen Sport­verbände erfüllen müssen, um Subventionen beanspruchen zu können. Die Umsetzung ist auf Anfang 2023 geplant. Amherd stellte vor den Medien klar: «Wir unterstützen den Leistungs­sport, aber nicht um jeden Preis.»

Klimafonds: Grüne und SP wollen Initiativen starten

Worum es geht: Sie wollen beide mehr finanzielle Mittel im Kampf gegen den Klima­wandel: Darum arbeiten die Grünen und die SP parallel an der gleichen Idee – einem Investitions­fonds für die ökologische Wende. Vorbild des grünen Volks­begehrens ist der Green Deal der EU, ein Investitions­programm von mehr als 600 Milliarden Euro. In der Schweizer Version soll jährlich ein Prozent des Brutto­inland­produkts (BIP) eingesetzt werden, was einer Summe von rund 7 Milliarden Franken entspricht. Die SP wiederum will einen Klima­fonds schaffen, mit dem jährlich zwischen 0,5 und 1 Prozent des BIP in den ökologischen Wandel investiert werden. Die SP betont in ihrer angedachten Initiative den sozialen Gedanken. Man werde «auch sicher­stellen, dass sich all diejenigen Menschen weiter­bilden können, die heute in Berufen arbeiten, welche es nach dem ökologischen Umbau nicht mehr geben wird».

Warum Sie das wissen müssen: Nach dem Nein zum CO2-Gesetz sucht die Schweiz nach neuen Ansätzen im Kampf gegen die Klima­krise. Diese Woche haben sich die Umwelt­kommissionen von National- und Ständerat darauf verständigt, einen indirekten Gegen­vorschlag zur Gletscher­initiative zu erarbeiten, mit dem die Treibhausgas­emissionen bis 2050 auf netto null gesenkt werden sollen. Die neuen Initiativen sind direkte Reaktionen auf das Scheitern des CO2-Gesetzes. Dieses hätte höhere Benzin- und Heizkosten verursacht. «Das Nein zeigt, dass es neue Lenkungs­abgaben an der Urne schwer haben», sagt Grünen-Präsident Balthasar Glättli. Deshalb wolle man jetzt weg vom Verursacher­prinzip und hin zu einem mit Steuergeld finanzierten Investitions­programm. Die beiden Volks­begehren könnten auch im Wahlkampf 2023 von Nutzen sein. Weil seit den Wahlen 2019 immer mehr SP-Wählerinnen zu den Grünen abwandern, könnten die Initiativen den Parteien auch dazu dienen, diese Wechsel­wähler möglichst für sich zu gewinnen.

Wie es weitergeht: Die Grünen wollen ihre Initiative Ende März 2022 definitiv lancieren – sodass die Unterschriften­sammlung mit dem Wahlkampf für die Parlaments­wahlen 2023 zusammenfällt. Zuvor wollen Grüne und SP aber doch noch eine Zusammen­­arbeit prüfen. Der indirekte Gegen­vorschlag zur Gletscher­initiative soll bis zur Sommer­session 2022 vorliegen.

Kampfjets: Parlament nimmt Evaluation unter die Lupe

Worum es geht: Die Geschäfts­prüfungs­kommission des Nationalrats will klären, aus welchen Gründen genau sich der Bundesrat für den Kauf von 36 Kampf­flugzeugen des Typs F-35A entschieden hat. Sie teilte am Dienstag mit, sie werde die «Recht­mässigkeit und Zweck­mässigkeit» des entsprechenden Evaluations­verfahrens untersuchen. Dabei interessiert sie sich für die Methodik, auf die sich der Bundesrat bei seinem Typen­entscheid vom letzten Juni gestützt hat, aber auch für die Frage, wie sehr politische Faktoren beim Kauf ausschlag­gebend waren und ob Akten aus dem Evaluations­verfahren vernichtet wurden.

Warum Sie das wissen müssen: Der Entscheid für den F-35A steht in der Kritik. Die Untersuchung sei wichtig «für die Legitimation der Typen­wahl durch den Bundesrat und damit auch der anstehenden nächsten Phasen der Beschaffung des neuen Kampf­flugzeuges», schreibt die Geschäftsprüfungs­kommission. Von Bedeutung sind die Abklärungen aber auch deshalb, weil der Kauf der 36 Kampfjets des amerikanischen Herstellers Lockheed Martin eines der grössten Beschaffungs­vorhaben der Schweiz überhaupt ist. Der Bundesrat veranschlagt die Kosten der Flugzeuge über die gesamte Betriebsdauer auf rund 15,5 Milliarden Franken. Womöglich werden die Jets letztlich aber noch teurer. Es versteht sich, dass das Parlament und die Öffentlichkeit wissen müssen, ob beim Entscheid für Lockheed Martin (und gegen die drei Konkurrenten Dassault, Airbus und Boeing) alles mit rechten Dingen zu- und herging.

Wie es weitergeht: Die zuständige Subkommission der Geschäfts­prüfungs­kommission nimmt ihre Unter­suchung im nächsten Februar auf. Bis ihr Bericht vorliegt, wird es also noch eine Weile dauern. Das Thema Kampfjets wird die Schweiz ohnehin weiter beschäftigen: Zurzeit sammeln SP, Grüne und die «Gruppe für eine Schweiz ohne Armee» Unterschriften für eine Volksinitiative gegen den Kauf der 36 F-35A. Zum Schutz des Schweizer Luftraums seien diese Flugzeuge ungeeignet, zu unsicher und zu teuer, argumentiert das Initiativ­komitee.

Boykott­aufruf der Woche

Am Montag besiegte das Schweizer Nationalteam Bulgarien mit 4:0 und sicherte sich damit die Teilnahme an der Fussball-WM 2022 in Katar. 14’300 Fans wedelten im Stadion in Luzern begeistert mit Schweizer Fähnchen, die von einer Grossbank verteilt worden waren. Und wenn im Sport gefeiert wird, ist die Politik nicht weit. Wenn es sein muss, auch als Spielverderberin: «Juso fordert WM-Boykott in Katar» überschrieben die Jungsozialistinnen am Tag nach der Qualifikation eine Medien­mitteilung. Darin prangert die Jung­partei Tausende Tote beim Stadionbau, sklavereiähnliche Arbeits­verhältnisse und «eine der schrecklichsten Anti-queer-Gesetzgebungen der Welt» an. Das Nationalteam solle deshalb nicht an der WM teilnehmen, SRF die Spiele nicht übertragen. Die Kritik ist durchaus angebracht, am selben Tag zeigte nämlich Amnesty International einmal mehr auf, wie in Katar Arbeits­migranten ausgebeutet werden. Verdribbelt haben sich die Juso aber mit ihrer weiteren Argumentation: «Fussball war ursprünglich der Sport der Arbeiter*innenklasse. Die Jungpartei kritisiert deswegen auch die Vereinnahmung des Sportes von Profit­interessen.» Ob sich die Jung­millionäre im National­team und Fussball­funktionäre mit fürstlichen Salären mit Klassenkampf­parolen zu internationaler Solidarität bewegen lassen, sei dahingestellt.

Illustration: Till Lauer