Premierminister Albin Kurti: «Wir haben keine Angst, aber wir sind wachsam. Wir bleiben besorgt.»

«Kosovo ist eine Demokratie, Serbien ist es nicht»

Diesen Sommer eskalierte einmal mehr ein Streit zwischen Serbien und Kosovo. Und der kosovarische Premier­minister Albin Kurti warnte, Russlands Krieg könnte auf den Balkan überschwappen. Wir haben nachgefragt: Steht es wirklich so schlimm, Herr Kurti?

Ein Interview von Franziska Tschinderle (Text) und Ilir Tsouko (Bilder), 26.09.2022

Synthetische Stimme
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Albin Kurti ist jetzt dort, wo er immer sein wollte. Hinter einer massiven Tür mit Messing­schild, auf dem «Premier­minister» steht. Der Raum liegt am Ende eines langen Korridors, im dritten Stock eines spiegel­verglasten Büroturms mitten im Zentrum von Pristina. Früher einmal war hier eine Bank untergebracht, jetzt ist es das Büro der Regierung von Europas jüngstem Staat.

Seit März 2021 ist der 47-Jährige im Amt. Sein Erdrutsch­sieg galt als Zäsur in der Nachkriegs­geschichte Kosovos. Mit Kurti zog auch eine neue Generation in das Regierungs­gebäude ein: jung, viele davon Teil der Diaspora, ausgebildet im Ausland. Sie wechseln zwischen geschliffenem Englisch und Albanisch, an der Wand hängt ein Bild von Bernie Sanders, dem linken Amerikaner, neben Skanderbeg, dem mittel­alterlichen National­helden der Albaner.

Es ist der 9. September, und in Pristina regnet es. Der Sommer geht vorüber, was man daran merkt, dass die Dichte an Schweizer Auto­kennzeichen auf den Strassen abnimmt. Für Kurti waren es Krisen­monate: Inflation, Energie­engpässe und dann, Ende Juli, Schüsse und Sirenen­geheul an der Grenze zu Serbien. Die Situation zwischen Serbien und Kosovo war schon lange nicht mehr so angespannt wie in diesem Sommer.

Es eskalierte ein Streit um Einreise­dokumente und Nummern­tafeln, und die Rhetorik zwischen Belgrad und Pristina ist so giftig wie schon lange nicht mehr. Der serbische Präsident Aleksandar Vučić behauptet ohne ersichtlichen Grund, die Albaner wollten die Serbinnen aus Kosovo vertreiben. Albin Kurti wiederum warnt seit dem Krieg in der Ukraine, Russlands Invasion könnte auf den Balkan überschwappen. Auf Vermittlung der EU konnte die jüngste Eskalation zwar beendet werden. Aber vom Haupt­ziel des Dialogs sind beide Seiten weit entfernt. Serbien erkennt die 2008 ausgerufene Unabhängigkeit Kosovos bis heute nicht an. Im Gegensatz zu über 100 Uno-Mitglieds­ländern, darunter auch die Schweiz.

Herr Kurti, der serbische Präsident Aleksandar Vučić hat Sie kürzlich einen «kleinen Selenski» genannt. Ehrt Sie das?
Ich hatte Vučić zuvor auf Facebook als «kleinen Putin» bezeichnet. Ich glaube, er war nicht kreativ genug, sich etwas Besseres einfallen zu lassen.

Putin hat vor ein paar Monaten die Ukraine überfallen. Die serbische Armee hat die Grenze zu Kosovo seit dem Ende des Krieges 1999 nicht übertreten. Kann es sein, dass Sie übertreiben?
Nein, Serbien ist aus meiner Sicht ein Klientel­regime des Kremls. Serbien und Russland halten gemeinsame militärische Übungen unter dem Namen «Slawisches Schild» und «Slawische Bruderschaft» ab. Ein Grossteil der Erdöl­industrie Serbiens ist im Besitz von Gazprom. Das russische Verteidigungs­ministerium hat im serbischen Verteidigungs­ministerium ein eigenes Büro eingerichtet. Serbien bezieht Panzer und Waffen­systeme aus Moskau.

Auch Deutschland ist von Putins Öl abhängig. Was Serbien aber einzigartig in Europa macht: Es weigert sich, EU-Sanktionen gegen Putin mitzutragen.
Heute haben 70 Prozent der Serben eine positive Meinung über Wladimir Putin. Gleichzeitig ist die Unter­stützung für die Europäische Union auf ein historisches Tief von 30 Prozent gefallen. Diese Stimmung schwappt auch auf die Serbinnen in Kosovo über, insbesondere im Norden des Landes.

Über den Norden werden wir später noch sprechen. Zuerst eine Grundsatz­frage: Sie haben Anfang August in einem Interview vor einem Krieg mit Serbien gewarnt. Ist es wirklich so schlimm?
Wir haben keine Angst, aber wir sind wachsam. Wir bleiben besorgt. Aus meiner Sicht gibt es vier Gründe, die einen Konflikt denkbar machen. Erstens: Serbien erkennt die Unabhängigkeit Kosovos noch immer nicht an. Es kämpft gegen unsere internationale Anerkennung, und zur gleichen Zeit finanzieren sie illegale Strukturen innerhalb Kosovos, um den Rechts­staat und unsere Souveränität zu untergraben. Zweitens: In Serbien gibt es keine Aufarbeitung der in den 1990er-Jahren verübten Kriegs­verbrechen. Es gibt kein Bedauern.

Diese Kritik ist nicht neu: Das war auch schon vor dem Krieg in der Ukraine so.
Der dritte Grund, der mir Sorge bereitet: Kosovo ist eine Demokratie, Serbien ist es nicht. Wer an eine Autokratie grenzt, der ist in Gefahr. Viertens: Das offizielle Belgrad unterhält engste Verbindungen mit dem despotischen russischen Präsidenten Putin. Vučić hat Putin in 10 Jahren fast 20 Mal getroffen, zuletzt am 25. November 2021 in Sotschi, drei Monate vor Beginn des Krieges.

(Kurti nimmt ein Blatt Papier mit einer Agentur­meldung vom Tisch.)

Ich zitiere Vučić jetzt: «Wir haben über doppelte Standards und Heuchelei in internationalen Beziehungen gesprochen. Präsident Putin versteht, wovon ich spreche. Wir haben auch über den Norden Kosovos gesprochen und ich habe ihn Putin auf der Karte gezeigt.»

(Kurti blickt von seinem Zettel auf.)

Warum interessiert sich Putin für den Norden Kosovos, frage ich mich?

Für Putin war die Nato-Intervention 1999 gegen Serbien ein Affront. Er hat die Unabhängigkeit Kosovos nie anerkannt. Vor dem Krieg hat Putin auffallend häufig von Kosovo gesprochen. Er hat dies als Beispiel vorgebracht, um seine Invasion in der Ukraine zu rechtfertigen. Was antworten Sie ihm?
Die Menschen in Kosovo haben einen Genozid erlebt. Im Frühling 1999 haben sich 19 Nato-Länder zusammen­gefunden und ein kleines Land in Europa bombardiert. Es muss also wirklich schlimm gewesen sein. Es ist sehr schwer, 19 Länder an Bord zu haben, zumal es sich um demokratische Staaten handelt, in denen es Proteste gegen die Intervention gab. In der Ukraine ist die Situation ganz anders. Es ist die russische Armee, die eine Militär­intervention führt – auf der Krim, im Donbass, in der gesamten Ukraine.

Zur Geschichte Kosovos

Zur Zeit des sozialistischen Jugoslawien war Kosovo eine autonome Provinz Serbiens. Unter dem serbischen Macht­haber Slobodan Milošević wurde die Autonomie 1989 aufgehoben, Albanerinnen waren fortan massiven Repressionen ausgesetzt, der Ruf nach einer eigenen Republik wurde immer lauter.

Ende der 90er-Jahre kam es zum Krieg. Die jugoslawische Armee und serbische Para­militärs begingen schwere Massaker, Hundert­tausende wurden vertrieben. Beendet wurde der Krieg 1999 durch die Nato-Bombardements. Seitdem ist die Nato-Schutztruppe KFOR in Kosovo stationiert, derzeit mit rund 4000 Soldaten.

Jahrelang war Kosovo ein Uno-Protektorat, verwaltet von der internationalen Gemeinschaft. 2008 erklärte Kosovo seine Unabhängigkeit von Serbien. Belgrad hat diesen Schritt nie anerkannt und sieht Kosovo bis heute als Teil des eigenen Staats­gebiets. Über 90 Prozent der rund 1,8 Millionen Einwohnerinnen sind Albaner, der Rest Serbinnen, Roma und andere Minderheiten.

Der Grossteil der serbischen Minderheit lebt in den drei nördlichen Gemeinden rund um die geteilte Stadt Mitrovica. Der Norden ist ein Sonderfall, weil er nicht zur Gänze in die staatlichen Strukturen der Republik Kosovo integriert ist. Belgrad unterhält bis heute Parallel­strukturen – und damit auch politischen Einfluss auf die serbische Gemeinde.

Während Sie vor einem möglichen Krieg warnten, tanzten Tausende junge Menschen bei einem Konzert der Sängerin Dua Lipa in Pristina. Existiert die Krisen­stimmung nur in der Rhetorik der Politiker?
Ich stimme Ihnen zu: Die einfache Bevölkerung will keinen Konflikt und befeuert ihn auch nicht. Das tun ein paar hundert Menschen, die von Belgrad finanziert werden. Viele haben Erfahrungen in den Kriegen des ehemaligen Jugoslawien gesammelt.

Vučić war in den 90er-Jahren Informations­minister eines Regimes, das Sie festnehmen und nach Serbien verschleppen liess. 22 Jahre später sitzen Sie beide an einem Tisch und verhandeln über die Zukunft ihrer Länder. Ist das eine persönliche Genugtuung für Sie?
Nicht wirklich. Ich würde in Serbien viel lieber eine Politik sehen, die progressiv und proeuropäisch ist. Aber das ist nicht der Fall. Auf der anderen Seite hat sich die Atmosphäre während unserer Treffen in Brüssel verbessert.

Haben Sie einander je die Hand geschüttelt?
Nein, noch nie. Das liegt daran, dass wir uns drei von vier Mal während der Corona-Pandemie getroffen haben und es noch keinen endgültigen Deal gibt.

Kommen wir zu den aktuellen Ereignissen. Der Norden Kosovos ist mehrheitlich von Serbinnen besiedelt, rund 50’000 Menschen. Am 31. Juli wurden an der Grenze Barrikaden errichtet. Falsch­informationen auf Twitter nahmen überhand. Plötzlich war von einem Angriff Serbiens die Rede. Was ist wirklich passiert?
An diesem Tag wurden 13 Barrikaden errichtet, 9 von ihnen in weniger als 10 Minuten. Kriminelle Banden, die Teil der illegalen, mit Belgrad verbundenen Strukturen im Norden sind, haben sie errichtet. Sie hatten das Ziel, bewaffnete Personen dahinter zu schützen. Die Situation war sehr gefährlich und angespannt. Wir können froh sein, dass es keine Toten gab.

Zur Krise im Sommer 2022

Weil Serbien die Unabhängigkeit Kosovos und damit auch seine Grenzen nicht anerkennt, kommt es immer wieder zu Auseinander­setzungen. Im Juli eskalierte der Streit aufgrund von Personal­dokumenten und Auto­kennzeichen. Bis zuletzt galt: Kosovarische Bürger, die nach Serbien einreisen, bekommen ein provisorisches Ausweis­papier ausgestellt, weil die serbischen Behörden ihre Dokumente nicht anerkennen. Zudem mussten sie ihr Kennzeichen abmontieren. Pristina wandte daraufhin dieselben Regeln auch gegen Serbien an, was zu Unruhen und Strassen­blockaden im Norden Kosovos führte. Auf EU-Vermittlung wurde ein Durchbruch erzielt: Serbien erkennt erstmals in der Geschichte kosovarische Personal­ausweise an. Bei den Auto­kennzeichen wurde allerdings noch keine Lösung gefunden.

Eine Sonder­einheit der kosovarischen Polizei, bekannt unter dem Namen Rosu, bricht immer wieder in den Norden auf, um gegen Schmuggel­aktivitäten vorzugehen. Für viele Serben ist sie zum Feindbild geworden. Junge Männer bezeichnen sie als «Okkupator».
Wissen Sie, was interessant ist? Zwischen April letzten Jahres und diesem August hat die kosovarische Spezialeinheit 71 Personen im Norden verhaftet: 33 Albaner, 26 Kosovo-Serben, 6 Serben aus Serbien, 3 Roma, 2 Bosniaken und einen Gorani.

Sie wollen damit sagen, dass ethnische Zugehörigkeit aus Sicht der Polizei keine Rolle spielt?
Das organisierte Verbrechen ist multi­ethnisch und grenz­überschreitend. Serbiens illegale Strukturen im Norden Kosovos haben ganz offensichtlich ein Problem damit, wenn unsere Polizei dagegen vorgeht. Im Kampf gegen Schmuggel­routen, Drogen­labore und illegale Bitcoin-Minen wird unsere Polizei immer wieder angegriffen, allein dieses und letztes Jahr über 14 Mal. Es sind genau diese Kriminellen, die im Juli die Barrikaden errichtet haben. Einige stehen auf US-Sanktions­listen.

Ich komme gerade aus Mitrovica zurück. Die Stadt ist ethnisch in einen albanischen Süden und einen serbischen Norden geteilt. Im Süden flattern US-Flaggen, im Norden prangt das «Z», das Symbol von Russlands Angriffs­krieg, auf Haus­mauern. Wie wollen Sie diesen tiefen Spalt in Ihrer Gesellschaft kitten?
Der Grossteil der Serbinnen in Kosovo weiss, dass sich die Zeiten geändert haben. Sie sind integriert, und ein gutes Beispiel dafür ist, dass mittlerweile über 130’000 von ihnen kosovarische Personal­ausweise besitzen. Es gibt nur eine kleine Minderheit – zwischen 2000 und 5000 Menschen –, die sich weigert, diese anzuerkennen. Ich bin optimistisch, dass sich die Dinge zum Besseren bewegen werden. Die illegalen Strukturen verlieren immer mehr an Einfluss. Deswegen treten sie immer aggressiver auf. Das «Z» auf den Haus­wänden ist ein Zeichen dafür.

Die Menschen im Norden fahren mit in Belgrad ausgestellten Auto­kennzeichen. Sie wollen das ändern.
Wir arbeiten intensiv daran, dass die Serben in Kosovo auf kosovarische Nummern­tafeln umsteigen. Denn nur die sind in diesem Staat legitim. Ich habe den Menschen jetzt die Hand ausgestreckt. Wer seine Tafel bis zum 31. Oktober ummeldet, der bezahlt weder Steuern noch eine Zulassungs­gebühr für das Fahrzeug. Das ist sehr attraktiv für die Serbinnen in Kosovo. Genau deswegen üben die illegalen Strukturen Druck aus. Aber noch gibt es genug Zeit, seine Tafeln umzumelden.

Die nördlichen Gemeinden sind mit Hunderten Plakaten vollgepflastert, auf denen «Keine Kapitulation!» steht. Die Menschen werden gezielt dazu aufgefordert, ihre serbischen Kenn­zeichen beizubehalten. Werden Sie sie am Ende zwingen?
Nach dem 1. November werden diese Kenn­zeichen illegal sein, und wir werden in Übereinstimmung mit unseren Gesetzen handeln.

Am 15. August 2021 übernahmen die Taliban in Afghanistan die Macht, nachdem sich die Nato zuvor Hals über Kopf aus dem Land zurück­gezogen hatte. Können Sie sich auf die Amerikaner verlassen?
Die Nato wird in Kosovo bleiben, weil Kosovo der Nato beitreten will. Beide sind Teil der Geschichte des anderen – und so wird das auch in Zukunft sein. Es gibt keine Parallele zwischen Afghanistan und Kosovo. Das Einzige, was ich mich an jenem 15. August gefragt habe, war: Wie kann ich bei der Flüchtlings­frage helfen? Kosovo hat daraufhin rund 1800 afghanische Flüchtlinge aufgenommen. Die Nato bietet uns Schutz und Sicherheit, und wir tragen auch etwas zum westlichen Verteidigungs­bündnis bei. Von März bis Juni letzten Jahres haben wir mit 330 Soldaten an der Militär­übung «Defender Europe» teilgenommen und gemeinsam mit der US-Armee eine Friedens­truppe nach Kuwait entsandt.

Sie sagen all das, wissend, dass Ihre erste Regierung auf Geheiss Washingtons gestürzt wurde? Trumps Balkan-Gesandter Richard Grenell wollte Sie weghaben. Sie galten ihm als Stören­fried, mit dem man keine Deals eingehen kann.
Kosovo betrachtet die USA als Freund, Partner und als Alliierter für unsere Sicherheit und Verteidigung. Noch einmal: Mit der Ausnahme von Belarus gibt es kein Land, das dem Kreml näher steht als Serbien. Deshalb sind die USA für uns wichtiger als jedes andere Land. Aber selbst­verständlich bin ich nicht mit allem einverstanden, was US-Repräsentanten sagen. Das wurde im Jahr 2020 deutlich, als Trumps Balkan-Gesandter Grenell wollte, dass ich meine Forderungen gegenüber Serbien aufgebe.

Heute nennt Grenell Sie auf Twitter einen «Faschisten». Was bedeutet das für den Balkan, wenn Grenells Chef, Donald Trump, eines Tages zurück­kommt?
Ich bin optimistisch, dass sich die Dinge in den USA zum Guten entwickeln werden. Joe Biden ist heute der progressivste Politiker auf der Welt. Ich hoffe, dass dieses trans­atlantische Gefühl nicht verloren geht. Ich hoffe auf das Beste.

Auf Lokal­ebene hat Ihre Partei Vetëvendosje zuletzt eine Schlappe eingefahren. Die Opposition hat im Gross­teil der Gemeinden gewonnen. Wie erklären Sie sich das?
Die Opposition hat sich gegen uns zusammen­getan. Regieren macht müde. Es lässt dir nicht mehr so viel Zeit, nahe bei der Partei­basis zu sein und Menschen zu treffen. Die Pandemie hat uns härter als die anderen Parteien getroffen, weil diese traditionell über Spots im Fernsehen werben. Unsere Methode waren immer die öffentlichen Treffen.

Kann es sein, dass Sie weniger Stimmen bekommen haben, weil die Diaspora in Deutschland oder der Schweiz nicht gewählt hat?
Da gebe ich Ihnen recht. Auf Lokal­ebene nimmt sie in viel kleinerer Zahl teil.

Nehmen wir eine junge Albanerin aus der Schweiz – zweite oder dritte Generation. Wohnhaft in Bern und einmal im Sommer in Kosovo. Sollte so eine Person in Ihrem Land politisch mitbestimmen dürfen?
Zwischen Pristina und der Schweiz verkehren pro Tag mehr Flugzeuge, als es Bus­verbindungen zwischen einzelnen Städten gibt. Die Diaspora kommt nicht nur einmal pro Jahr, sondern mehrmals. Jede dritte Staats­bürgerin Kosovos lebt im Ausland – davon der Gross­teil in Deutschland und der Schweiz. Die Überweisungen aus dem Ausland machen 20 Prozent des Bruttoinland­produkts aus. Sie leben vielleicht nicht hier, aber sie helfen uns, hier zu leben. Für diesen materiellen und finanziellen Beitrag, aber auch für das Know-how, das sie uns bringen, sollten sie ein politisches Mitsprache­recht haben.

Diaspora ersetzt dennoch keinen Sozial­staat. Wie wollen Sie die Armut in Ihrem Land bekämpfen?
Ich halte das duale Bildungs­system in Deutschland, der Schweiz und in Österreich für ein Vorbild. Wir sollten die Bedürfnisse des Arbeits­marktes mit Bildung verknüpfen. Vor ein paar Tagen habe ich eine Klasse mit Schülern zwischen 15 und 18 Jahren besucht: Friseure, Maurerinnen, Spital­assistenten, Köchinnen. Drei Tage pro Woche sind sie in den Schulen und zwei Tage pro Woche in Unternehmen. Das ist ein Weg, um gegen die Armut vorzugehen und Arbeits­plätze zu schaffen.

Zuletzt hat Ihre Regierung Millionen­pakete geschnürt, um gegen Inflation und Energie­krise anzukämpfen. Wirtschafts­expertinnen kritisieren: Schnelles Geld für ein paar Monate ist keine besonders nachhaltige Strategie.
Studierende haben Einmal­zahlungen von 100 Euro erhalten – zum zweiten Mal. Dazu kam Kinder­geld für Mütter mit kleinen Kindern. Wir haben die Renten um 11 Prozent erhöht und die für Körper­behinderte um 33 Prozent. Auch lokale Unternehmer, Dienst­leister oder Händler haben Geld bekommen. Wir haben sowohl ein Konjunktur- als auch ein Inflations­paket geschnürt. Wir subventionieren auch den Energie­verbrauch und entlasten jene, die den Verbrauch senken, also Energie sparen. Aber ich hoffe, dass wir als ganz Europa aus dieser Krise heraus­kommen. Und ich hoffe, dass wir den Winter überstehen. Der Kreml will Europa spalten.

Vor vier Jahren haben sie mir lange und ausführlich erklärt, warum Sie sich nicht mit der blau-goldenen Flagge des Kosovo identifizieren können. Hat sich das mittlerweile geändert?
Als Premier­minister der Republik ist die Flagge des Kosovo meine Pflicht und Verpflichtung und auch etwas, das ich respektiere und annehme. Sie ist meine oberste Priorität. Im Programm unserer Bewegung mögen andere Sachen stehen.

Zum Beispiel, dass Albanien und Kosovo eines Tages einen gemeinsamen Staat bilden könnten. Mussten Sie diesen Traum aufgeben?
Niemand soll seine Träume aufgeben. Aber man sollte dabei immer in der Legalität handeln.

Zu den Autorinnen

Franziska Tschinderle ist freie Journalistin und lebt in Tirana. Für die Republik schrieb sie zuletzt eine Reportage aus Serbien, das Russland als wichtigsten Verbündeten sieht – was historische Gründe hat.

Der Fotograf Ilir Tsouko ist in Albanien geboren, in Athen aufgewachsen. Er lebt in Berlin und Tirana und hat für die Republik immer wieder Reportagen aus dem Balkan fotografiert, zuletzt «Der Zug».