Die dritte Republik

Am Wochenende wählt Kosovo – und so viele Menschen aus der Diaspora wie nie zuvor haben sich dafür registriert. Das passt denen, die in Kosovo das Sagen haben, gar nicht. Denn die Diaspora ist mächtig – mächtig genug, um Wahlen zu entscheiden. Mittendrin: zwei Studenten aus der Schweiz.

Eine Reportage von Adelina Gashi («Bajour», Text) und Michael Sieber (Bilder), 10.02.2021

«Wählen ist ein Grundrecht»: Arianit Ramiqi.
«Wie die Schweiz ist auch Kosovo ein Teil von uns»: Eleonit Smajli.

Ein verregneter Januartag in einer Studenten-WG im Zürcher Kreis 1. Der Gjygym – der Teekessel – dampft, Eleonit Smajli und Arianit Ramiqi servieren Schwarztee und Magenbrot. Auf dem Kaffeetisch liegt ein Buch des albanischen Schriftstellers Ismail Kadare. Die Wand dahinter ist mit Notizen zugeklebt. Es sind Pläne für das Projekt, das den beiden ETH-Studenten innerhalb kürzester Zeit internationale Schlag­zeilen eingebracht hat – und möglicherweise einen Strafbefehl.

Am Sonntag, 14. Februar, wählt Kosovo. Schon wieder ein Regierungs­wechsel. Der dritte innerhalb von nicht einmal eineinhalb Jahren. Doch diesmal ist etwas anders: Es kann gut sein, dass die Wahl nicht in der Hauptstadt Pristina entschieden wird, sondern hier: in London, Paris, Zürich, Stockholm, Berlin, Bern, Basel, Olten. In der Diaspora. Die Wahlbeteiligung unter den kosovarischen Expats wird wohl so hoch sein wie noch nie zuvor.

In diesem Jahr haben sich 175’000 Ausland­kosovarinnen für die Wahlen registrieren lassen, 103’000 Bewerbungen wurden akzeptiert, wie es vonseiten der kosovarischen Wahlkommission KQZ heisst, bei anderen habe es formale Fehler gegeben. Zum Vergleich: Bei den Wahlen im Jahr 2019 registrierten sich gerade mal 40’300 Menschen.

Und das Potenzial der Diaspora ist noch viel grösser: 1,9 Millionen Menschen leben in Kosovo, 800’000 kosovarische Bürgerinnen im Ausland, 112’000 sind es alleine in der Schweiz. Nicht nur elektoral darf man die Ausland­kosovaren nicht unterschätzen: Auch finanziell haben sie einen grossen Einfluss. Das Geld, das sie jährlich in die alte Heimat schicken, macht 17 Prozent des Bruttoinland­produkts aus. Zum Vergleich: Der Finanzsektor in der Schweiz trägt gerade einmal 9 Prozent zum hiesigen BIP bei.

Kein Wunder, will die Diaspora mitreden.

Auch Eleonit Smajli und Arianit Ramiqi wollen wählen. Mehr noch: Die beiden Studenten und ihre Mitstreiter haben massgeblich zur rekordhohen Stimm­beteiligung der Diaspora bei dieser Wahl beigetragen.

Ihre Idee ist simpel – und effektiv: Die beiden haben eine Website programmiert, auf der Kosovarinnen im Ausland das Registrierungs­formular für die anstehende Wahl ausfüllen können und es dann nach Hause geschickt bekommen. Der Name ist gleichzeitig Zweck des Projekts: Du me votu! Ich will wählen! Seit sie vor vier Wochen aufgeschaltet wurde, haben sich bereits 25’000 potenzielle Wähler über die Plattform registriert.

Aus der Diaspora: Sherif Morina, 55, Hauswart, Basel

«Es war 1988, Kosovo litt damals unter der Repression Serbiens, als ich von einem Tag auf den anderen beschloss, aus meinem Heimat­dorf in der Region Drenica zu fliehen. Ich war in einer studentischen Protest­bewegung aktiv und hatte durch Bekannte erfahren, dass die Polizei mich suchte. Es war Bajram, das muslimische Opferfest, als ich meiner Mutter sagte, dass ich gehen muss. Mein eigentliches Ziel waren die USA. Wie der Zufall es aber dann wollte, landete ich in der Schweiz und heuerte als Hilfsarbeiter auf einem Bauernhof an. Ich schlief damals noch im Stall bei den Hühnern, bis ich mir eine eigene Wohnung leisten konnte. Jetzt, über dreissig Jahre später, bin ich immer noch hier, verheiratet und habe vier Kinder. Ich hatte eigentlich immer vor, zurückzugehen. Kosovo war und ist meine Heimat, der Ort, der für mich Leben bedeutet. Es betrübt mich, dass sich in all diesen Jahren so wenig geändert hat. So viel Potenzial geht verloren, weil junge Menschen vor der Perspektiv­losigkeit fliehen und ins Ausland gehen. Darum glaube ich auch, dass es am allerwichtigsten ist, das Bildungs­system in Kosovo zu fördern. Für meine Kinder ist die kosovarische Politik nicht so sehr Thema wie für mich. Ihnen fällt es leichter, Distanz zu halten zu allem, was da unten schiefgeht. Ich habe mich nicht für die Wahlen registriert, weil ich plane, runterzufliegen und vor Ort zu wählen. Ich wünsche mir eine Regierung, die nicht nur an sich selbst denkt, sondern für die Menschen da ist. Der bisherige Regierungs­chef Albin Kurti ist nicht der Richtige, sonst wäre er nicht nach so kurzer Zeit abgewählt worden. Ich werde für die Opposition, für die PDK stimmen – die Partei Hashim Thaçis.»

Aktivisten? Was soll daran aktivistisch sein?

Wenn sie nicht gerade ihre Landsleute mobilisieren, führen Eleonit Smajli, 23, und Arianit Ramiqi, 30, ein ziemlich gewöhnliches Studenten­leben. Sie studieren beide an der ETH, Ramiqi Architektur im Master und Smajli Agrarwissenschaften im Bachelor. Beide sind in der Schweiz aufgewachsen, Ramiqis Familie flüchtete 1991 in die Schweiz. Smajlis Vater kam Ende der 1980er-Jahre als Saisonnier ins Land, seine Mutter folgte 1996.

Was die beiden zusammengeführt hat, ist ihr Tatendrang – die Entschlossenheit, etwas zu verändern, und die Überzeugung, es auch zu können. Aber als Aktivisten würden sie sich nicht bezeichnen. «Was soll daran aktivistisch sein, dafür zu sorgen, dass es eine höhere Wahl­beteiligung gibt?», fragt Ramiqi und rückt seine runde Brille zurecht. «Alles, was wir versucht haben, ist, den demokratischen Prozess zu unterstützen. Wählen ist ein Grundrecht.»

Als am 24. Dezember verkündet wird, dass es Neuwahlen geben wird, wissen die beiden, dass sie etwas tun müssen. Sie tauschen kurz einen Blick, als sie davon erzählen, Smajli fährt sich mit der Hand durch die dunklen Locken. «Genauso wie die Schweiz ist auch Kosovo ein Teil von uns. Wir können gar nicht so tun, als gehe es uns nichts an», sagt er in breitem Berndeutsch.

«Wir haben uns gefragt, wie wir dafür sorgen könnten, dass sich die kosovarische Diaspora leichter an den Wahlen beteiligen kann», sagt Smajli. Die bürokratischen Hürden seien bisher für viele ein Grund gewesen, es nicht zu tun.

Aus der Diaspora: Merita, 46, Bankkauffrau, Zürich

«Vor der Pandemie reiste ich mehrmals im Jahr nach Kosovo, um die Familie zu besuchen. Das war gar keine Frage, obwohl ich in der Schweiz gross geworden bin. Mein Vater arbeitete bereits in den 1970er-Jahren hier als Saisonnier. Ein paar Jahre später, in den 1980ern, zogen meine Mama und meine Geschwister nach. Ich habe immer mit beiden Kulturen gelebt und dadurch auch von beiden, der schweizerischen und der kosovarischen Kultur, profitieren können. Genau das versuche ich auch meiner Tochter mitzugeben. Denn die Verbindung zu Kosovo ist nie abgerissen. Das liegt auch daran, dass wir jahrelang unsere Familien finanziell unterstützt und Geld runtergeschickt haben. Umso schlimmer ist es mit anzusehen, dass sich in all dieser Zeit für die Menschen vor Ort kaum etwas verändert hat. Besonders die jungen Menschen tun mir leid, denen nach der Ausbildung oft nicht viel mehr bleibt, als in Cafés zu jobben oder arbeitslos zu sein. Es läuft einfach ins Leere. Krenaria edhe vullneti, der Stolz und der Wille, den die Menschen einmal für Kosovo hatten, sind verblasst. Aber vielleicht wird sich das mit dieser Wahl ändern. Ich habe mich zwar für die Wahlen registrieren lassen – aber keine Rückmeldung der Behörden bekommen. Trotzdem hoffe ich sehr auf Veränderung und darauf, dass die Menschen wieder stolz sein können.»

Heftige Vorwürfe

Viel Anlaufzeit hatten Eleonit Smajli, Arianit Ramiqi und ihre Mitstreiter nicht. Du me votu! entstand in weniger als zwei Wochen, viel Schwarztee und einige schlaflose Nächte waren dafür nötig. «Wir schliefen abwechselnd auf dem Bettsofa, haben aber eigentlich eine Woche durch­gearbeitet», erzählt Smajli. Am 13. Januar wurde die Plattform lanciert.

Das sieht nach einem Plan aus: Smajli und Ramiqi sehen sich nicht als Aktivisten, sie wollen nur eine möglichst hohe Wahlbeteiligung.

Womit die beiden jungen Männer nicht gerechnet hatten, war die Reaktion der kosovarischen Medien und der Wahl­kommission KQZ, die wegen der Plattform der beiden Studenten eilig eine Presse­konferenz einberief, kaum war sie lanciert worden. Die Studenten und ihre Freundinnen wurden mit heftigen Vorwürfen konfrontiert. Sie seien Betrüger, wollten den Menschen das Geld aus der Tasche ziehen und hätten gar nicht das Recht, eine solche Plattform bereitzustellen, schrieben kosovarische Medien. Damit war der Schaden angerichtet. Innert kürzester Zeit erhielten die beiden Studenten Hunderte Nachrichten von Menschen, die wissen wollten, was an den Anschuldigungen dran war.

Ihre Antwort: nichts. «Wir sind ein Verein, nicht kommerziell orientiert und unparteiisch. Ich habe mein ganzes Stipendien­geld ausgegeben, um Du me votu! zu finanzieren», sagt Smajli. Die beiden Studenten hatten gehofft, durch einen Spenden­aufruf die restlichen Kosten decken zu können. Momentan sind sie nämlich ziemlich verschuldet.

Die Wahlkommission KQZ bezeichnete Du me votu! sogar als eine Gefahr für die nationale Sicherheit. «Das ist eine Diffamierungs­kampagne», sagt Ramiqi, während er sich eine Zigarette dreht. Auch den Vorwurf der Parteilichkeit weisen sie zurück. Smajli sagt, er habe im Sommer 2019 in Pristina ein Praktikum bei der Vetëvendosje gemacht, einer linken, nationalistischen Partei, deren Mitglied er sei. Mit Du me votu! habe das aber nichts zu tun. Es sei ihnen wichtig, neutral aufzutreten. «Wir stehen hier für keine Partei ein, sondern für unser Recht, zu wählen.»

Die beiden Studenten sind sich sicher: Hinter den Attacken gegen sie und ihr Projekt steckt mehr. «Sie fürchten sich vor uns», sagt Smajli. «Sie fürchten sich vor der Diaspora. Wir sind eine unbekannte Variable in diesen Wahlen, nicht steuerbar.»

Was heisst das, nicht steuerbar?

«Klientelismus funktioniert bei der Diaspora nicht. Das heisst, es kann niemand kommen und mich dazu bringen, für seine Partei zu stimmen, indem er mir oder einem meiner Familien­mitglieder einen Job verspricht.»

Aus der Diaspora: Diana Kukeli, 31, Leitung Qualitätsmanagement Gesundheitswesen, Zürich

«Ich fühle mich immer noch sehr verbunden mit Kosovo, obwohl ich in der Schweiz gross geworden bin. Vor der Pandemie bin ich mindestens ein bis zwei Mal im Jahr te shpia, nach Hause, gefahren. Das Essen, die Musik, die Tänze – ich liebe es. Die Frage nach meiner Identität hat mich mein halbes Leben lang begleitet. Politik war bei uns zu Hause schon immer Thema, ich bin mit dem kosovarischen Nachrichten­sender RTK gross geworden. Mein Vater kam relativ früh, nämlich schon in den 1970er-Jahren, in die Schweiz, um hier als Saisonnier zu arbeiten. Als ich sechs Monate alt war, zogen meine Mama und meine beiden Brüder aus Gjakova zu ihm nach Wollerau. Ich erinnere mich noch ganz genau daran, wie belastend das für meine Familie und mich war, den Krieg in Kosovo über den Fernseher mitzuverfolgen. Zu der Familie meiner Mutter hatten wir wochenlang keinen Kontakt. Sie war krank vor Sorge und sass jeden Abend vor dem Fernseher und suchte die Bilder aus den Camps mit den Geflüchteten nach ihrem Bruder ab. ‹Diana, guck ganz genau hin, vielleicht siehst du deinen Onkel oder deine Cousine›, sagte sie zu mir. Ich habe mich nicht für die Wahlen registriert, mir fehlt da der genaue Überblick. Meine Eltern aber schon. Sie werden Vetëvendosje wählen, weil sie hoffen, dass Albin Kurti der Korruption den Kampf ansagen wird. Und das hoffe ich auch. Es kann nämlich nicht so weitergehen.»

In einem Land mit instabilen Institutionen und korrupten Behörden verlassen sich die Menschen seit Jahrzehnten lieber auf die altbekannten Seilschaften. Klientelismus ist der Standardweg, wenn etwas in Kosovo in die Gänge gebracht werden soll.

Seit Ende des Kosovo-Kriegs 1999 ist das Land eine von der EU und anderen internationalen Akteuren überwachte Demokratie, die teilweise fremdbestimmt ist. So wurde die kosovarische Verfassung nicht von den Kosovaren selbst geschrieben, sie wurde vom Uno-Sonderbotschafter Martti Ahtisaari geplant. Seit 2008 ist die EU-Rechtsstaatlichkeits­mission Eulex damit beauftragt, die Behörden in Kosovo aufzubauen und dafür zu sorgen, dass sie unabhängig funktionieren. Oder besser gesagt: überhaupt funktionieren.

Es war das Verfassungsgericht, das den dritten Regierungs­wechsel in anderthalb Jahren ansetzte. Ist das ein Zeichen, dass die Gewalten­trennung und die einzelnen Institutionen intakt sind?

Nicht ganz.

Schwacher Staat, starke Demokratie

«Es klingt durchaus plausibel, dass sich manche vor dem Einfluss der Diaspora auf die Wahlen in Kosovo fürchten», sagt Dana Landau. Der Staat in Kosovo sei zwar schwach. «Die Demokratie aber nicht.» Die Politik­wissenschaftlerin arbeitet für die Friedensstiftung Swisspeace und ist Dozentin an der Universität Basel. Sie forscht seit mehreren Jahren zum Thema Staats­bildung in Kosovo.

«In Kosovo haben die Menschen die Möglichkeit, sich zu beteiligen und durch ihre Wahlbeteiligung Veränderungen hervor­zubringen», sagt sie. «Das ist ein Zeichen der Reife des politischen Systems.» Die Hinter­gründe, die zu diesen vielen Umbrüchen in der Regierung geführt hätten, dürfe man trotzdem nicht vergessen.

Die Hintergründe? Festhalten – jetzt wirds chaotisch.

Formell sind die Neuwahlen verfassungs­konform und korrekt – aber auch Bestandteil internationaler Machtspiele.

Am 6. Oktober 2019 ging die linksnationale Partei Vetëvendosje – was so viel wie Selbstbestimmung heisst – als Siegerin aus den Wahlen hervor, Parteiführer Albin Kurti wurde Premier­minister. Hashim Thaçi, Teil der alten Garde und ehemaliger Anführer der paramilitärischen Organisation UÇK, fiel das Amt des Präsidenten zu. Seit der Unabhängigkeitserklärung Kosovos im Jahr 2008 schon hielt sich Thaçi, der seinerzeit ebenfalls in Zürich studiert hatte, in verschiedenen Positionen an der Macht.

Knapp zwei Monate ist Kurti erst im Amt, als er vom Parlament am 24. März 2020 mithilfe eines Misstrauensvotums wieder abgesetzt wird. Der Stein des Anstosses: Kurti hatte sich geweigert, Thaçis Plan umzusetzen und wegen der Corona-Pandemie den Ausnahme­zustand auszurufen. Kurti entliess seinen Innenminister Agim Veliu, und die Koalition mit der Demokratischen Liga (LDK) brach.

In Albin Kurti sahen viele Kosovaren einen Hoffnungs­träger, besonders bei den Jungen war er sehr beliebt. Er sollte, gemeinsam mit der aufstrebenden LDK-Politikerin und Juristin Vjosa Osmani, eine neue Ära einläuten. Jahrelang warf Kurtis Partei Vetëvendosje Thaçi und seinen Anhängern aus Ex-UÇK-Kämpfern vor, sich in die eigene Tasche zu wirtschaften und den Staat von innen auszuhöhlen. «Tatsächlich ist die Vetëvendosje seit der Unabhängigkeit Kosovos die einzige Partei, die eine policy, also tatsächliche politische Inhalte, vorweisen konnte», sagt Landau.

Auch bei der Diaspora ist Kurti so beliebt wie wohl kein anderer kosovarischer Politiker.

Aus der Diaspora: Marigona Iseni, 26, und Valon Kurteshi, 25, Studierende, Genf

«Gemeinsam mit Eleonit und Arianit und anderen Studierenden haben wir Du me votu! aufgebaut. Wir sind Teil der albanischen Studierenden­vereinigung der Universität Genf. Schon lange geht es bei uns nicht mehr bloss um gemeinsames Feiern, sondern auch darum, unsere Stimme zu erheben, um auf die Missstände in der kosovarischen Politik aufmerksam zu machen. Wir sind nicht länger apolitisch, aber immer noch unparteiisch. In unseren Eltern­häusern haben wir mitbekommen, was es bedeutet, für Demokratie zu kämpfen. Was es heisst, aus der Heimat vertrieben zu werden. Denn unsere beiden Eltern wollten nie weg aus Kosovo. Aber sie hatten keine andere Wahl. Bei der albanischen Studierenden­vereinigung trafen wir auf Menschen, die genau wussten, wovon wir reden. Die mit den gleichen Ideen und Geschichten gross geworden sind und uns einfach verstanden haben, was nicht selbstverständlich ist. Unsere Aktion mit Du me votu! hat leider auch offenbart, wie undemokratisch der Wahlprozess in Kosovo läuft. Wir haben dort den Finger draufgehalten, wo es wehtut. Im Hinblick auf die Wahlen haben wir trotzdem shpresë, Hoffnung, sind aber auch nervös über das Resultat, weil wir nicht abschätzen können, wie die Sache ausgeht.»

Spielball ausländischer Interessen

Auf dem internationalen Parkett war Kurti trotz seiner Beliebtheit bei den Ausland­kosovarinnen lange als Persona non grata verrufen – als einer, der zu radikal auftrat. Thaçi galt bei den internationalen Partnern vor allem im Dialog mit Serbien als einsichtiger und kompromiss­bereiter. Und als USA-freundlicher.

Richard Grenell, US-amerikanischer Botschafter in Berlin und Sonder­gesandter für die Friedens­verhandlungen zwischen Kosovo und Serbien, der noch unter Trump im Amt war, war Kurtis Plan, Amerika weniger Einfluss auf die politischen Entscheide des Landes zu geben, ein Dorn im Auge.

Denn Kurti und die USA hatten komplett gegensätzliche Vorstellungen über die Beziehung zu Serbien.

Besonders hinsichtlich eines Abkommens, das Hashim Thaçi und der serbische Präsident Aleksandar Vučić im Jahr 2018 zusammen planten.
Dieses sah einen Gebietsaustausch zwischen Kosovo und Serbien vor. Davon versprach man sich, die Lösung des verfahrenen Konflikts zwischen den beiden Ländern voranzutreiben.

Die USA sicherten Thaçi Unterstützung zu und sahen gleichzeitig eine Chance für einen aussen­politischen Triumph, der im Hinblick auf die US-Wahlen gerade recht kam: endlich Frieden auf dem Balkan – dank Donald Trump.

Doch mit Albin Kurtis Wahl im Herbst 2019 stand diesem Plan plötzlich jemand im Weg. Der neue Premier­ minister und seine Partei stellten sich klar gegen den Gebiets­tausch mit Serbien, das die Unabhängigkeit Kosovos immer noch nicht anerkennt.

Als wenige Monate später das Misstrauens­votum gegen Kurti zur Diskussion stand, witterte Richard Grenell seine Chance und setzte Pristina unter Druck. Während sich die EU gegen die Absetzung Kurtis aussprach, hatten die USA entschieden: Kurti musste weg.

Als wäre das alles nicht kompliziert genug, wird es noch verworrener: Wenige Monate später war nämlich auch Präsident Hashim Thaçi plötzlich weg vom Fenster.

Er trat am 5. November 2020 von seinem Präsidentenamt zurück. Der Grund: Das Kosovo-Sondertribunal in Den Haag hatte Anklage gegen Thaçi erhoben, der im Kosovo-Krieg von 1998 bis 1999 Oberkommandant der paramilitärischen Organisation UÇK gewesen war. Es warf ihm Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit vor. Thaçi beteuerte seine Unschuld.

Kosovo stand also innerhalb eines Jahres zuerst ohne Premier und dann ohne Präsidenten da. Und das während einer Pandemie.

Erstmals ohne Beobachtung

Die Institutionen sind nach wie vor schwach und beeinflussbar, sogar das Verfassungs­gericht, wie Studien zeigen. Doch: «Das bricht den demokratischen Esprit der Menschen nicht», sagt Politik­wissenschaftlerin Landau.

Die Wahlen am 14. Februar sind die ersten, die ohne Beobachtung der OSZE, der Organisation für Sicherheit und Zusammen­arbeit in Europa, stattfinden werden. «Beunruhigend und nur schwer verständlich» findet Landau das. Eine Erklärung dafür hat sie nicht.

Dass die Diaspora sich in diesem Jahr so stark beteiligt, wundert sie hingegen nicht. «Diese Menschen haben den Kampf um Fortschritt und Unabhängigkeit genauso mitgetragen. Sie leiden auch am Status quo.» Viele sehen in Kurtis Partei den gewünschten Wandel. Aber auch Thaçis alte Garde ist immer noch beliebt. Das liegt am Befreiungs­kampf der UÇK, den die Menschen noch immer stark mit ihm in Verbindung bringen.

Aus der Diaspora: Endrit Sadiku, 25, Basel

«Ich bin Jugendarbeiter im Jugendzentrum Kleinhüningen. Für mich ist es ein grosser Vorteil, beide Nationalitäten im Herzen zu tragen: die Schweiz und Albanien. Ich verstehe dadurch beide Lebens­welten und merke, dass mir Jugendliche mit einem Migrations­hintergrund dadurch viel leichter vertrauen. Meine Eltern stammen nämlich aus Albanien und Kosovo. Ich wuchs in einem sehr politischen Zuhause auf. Es wurde viel über die kosovarische und die albanische Politik gesprochen, was mich sehr geprägt hat. Den Zugang zur Politik fand ich 2009, als in der Schweiz über die Ausschaffungs­initiative debattiert wurde. Da fühlte ich mich plötzlich ausgegrenzt und begann fortan, mich für politische Themen in der Schweiz zu interessieren. In Kosovo sehen viele die Schweiz als Vorbild an – doch in der Politik hört es auf. Für die bevor­stehenden Wahlen dort hoffe ich daher sehr, dass sie zur strukturellen Stabilität führen und dass die demokratische Tradition, wie wir sie hier in der Schweiz haben, dort auch zum Vorbild wird. Mein Vater ist für die dortigen Wahlen bereits registriert. Ich nicht, weil es mir nicht möglich war und es mir zu bürokratisch erschien. Aber mit dem Herzen bin ich dabei. Ich sympathisiere mit der Vetëvendosje, bin aber nicht im Detail informiert. Darum finde ich es schwierig, mich festzulegen. Ich interessiere mich dafür, befasse mich aber als SP-Mitglied vordergründig viel mehr mit der Schweizer Politik, weil sich mein Lebens­mittelpunkt hier befindet.»

An den Haaren herbeigezogen

Ob Albin Kurti überhaupt für die Neuwahlen antreten kann, war bis vor wenigen Tagen unklar. Denn das Verfassungs­gericht hat entschieden, dass Kandidaten, die in den letzten drei Jahren strafverfolgt wurden, nicht zur Wahl stehen dürfen.

In der Folge fehlt Kurti nun auf der Wahlliste. Er wurde 2018 verurteilt, weil er mit anderen Partei­mitgliedern im Jahr 2015 Tränengas ins Parlament geworfen hatte. Ganz abgeschrieben hat er die Wahl aber nicht: «Ein Schlupfloch für ihn ist, dass man laut Verfassung nicht Parlaments­abgeordneter sein muss, um in das Amt des Premiers gewählt zu werden», sagt Landau. Denn nicht die Bevölkerung wählt die Präsidentin oder den Premier­minister, sondern das Parlament.

Die Politologin Landau hat sich auch die Wahlplattform der Diaspora genau angeschaut. Die Vorwürfe an Du me votu! scheinen ihr an den Haaren herbeigezogen. «Ohne Juristin zu sein: Ich sehe nicht, was an der Plattform nicht rechtens sein soll.»

Anders sehen das die kosovarischen Behörden. Zumindest wenn man dem kosovarischen TV-Sender Klan Kosova Glauben schenkt. Gemäss dem Sender wird die Gruppe der Studierenden rund um Eleonit Smajli und Arianit Ramiqi von der Polizei gesucht. Sie seien Kriminelle.

«Davon wissen wir nichts, uns hat keine solche Nachricht erreicht», sagt Smajli. «Falls es aber so wäre, würden wir nach Kosovo fahren und uns stellen – um das kosovarische Demokratie­verständnis zu entlarven.»

Eine Gefahr für die nationale Sicherheit in Kosovo? Eleonit Smajli und Arianit Ramiqi.

Inzwischen ist die Wahlkommission KQZ selbst in die Negativ­schlagzeilen geraten. Sie soll den Registrierungs­prozess sabotieren. Bloss ein Bruchteil der registrierten Wählerinnen aus dem Ausland sei deshalb verifiziert. Das Formular und der Wahlzettel für die Diaspora wurden erst am 3. Februar auf der Website der Kommission hochgeladen. Dabei kommt es auf jeden Tag an: Damit die allenfalls ausschlag­gebenden Stimmen aus Zürich, Basel, Olten und Genf zählen, müssen dafür die Wahlunterlagen bis zum 12. Februar per Post im Büro der Wahl­kommission ankommen. Erst dann ist klar, ob Du me votu! (Ich will wählen) auch unë kam votu (ich habe gewählt) heisst.

Am Sonntag, eine Woche vor den Wahlen, heisst es in Genf aber etwas anderes. «Me hajna nuk ka shtet!» (mit Dieben gibt es keinen Staat) ruft Marigona Iseni und reckt die Faust in die Luft. Die Truppe um Eleonit Smajli und Arianit Ramiqi hatte zwei Tage zuvor zu einer bewilligten Demonstration aufgerufen. Nun stehen mehrere Dutzend Ausland­kosovaren vor dem Palais des Nations, um für ihr demokratisches Recht zu protestieren.

Unter ihnen sind viele junge Menschen und Familien mit kleinen Kindern. Sie schwingen die albanische und kosovarische Flagge, halten Schilder in die Luft. «Democracia nuk negociohet» (die Demokratie lässt sich nicht verhandeln) steht auf einem Schild. «Die Transparente haben wir gestern in der Garage eines Freundes gemacht und heute den Demonstrierenden verteilt», sagt Smajli, der mit Ramiqi schon am Freitag zur Vorbereitung angereist ist. Eine Studentin ist zum ersten Mal an einer Demonstration: «Ich hatte es einfach satt», sagt sie. «Es reicht jetzt, es muss sich etwas ändern in Kosovo. Darum bin ich heute hier, um für diese Veränderung einzustehen.»

Nach einer Stunde sind alle Reden gehalten. Auch die Genfer SP-Nationalrätin Laurence Fehlmann Rielle ist gekommen, um sich solidarisch zu zeigen. Smajli stellt sich zum Abschluss vor die Menge und ruft: «Deri në demokraci autentike!» Es ist ein Zitat des kosovarischen Friedens­aktivisten und Philosophen Ukshin Hoti: bis zur authentischen Demokratie.

1999, als der Krieg endete, 2008, als Kosovo seine Unabhängigkeit erklärte – das seien Neuanfänge für die jüngste Republik Europas gewesen, sagt Smajli dann vor bedeutend kleinerem Publikum. Nun sei es Zeit für den dritten Neuanfang: «Es ist Zeit für die dritte Republik.»

Zu diesem Text

Dieser Beitrag entstand in Kooperation mit dem Basler Onlinemedium «Bajour». Adelina Gashi ist dort Reporterin.