Am 12. April 1999 überquert Radomir Jovanović im Zug die Eisenbahnbrücke von Grdelica. Dann fallen die Bomben der Nato.

Der Zug

Seit die Nato 1999 Serbien bombardierte, hegt das Land Skepsis gegen den Westen. Dafür sind die Sympathien für Russland umso grösser. Stela Jovanović kann mit diesem Freund-Feind-Schema wenig anfangen – obwohl sie damals ihre grosse Liebe verlor.

Von Franziska Tschinderle (Text) und Ilir Tsouko (Bilder), 23.04.2022

Synthetische Stimme
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Stela Jovanović hört den Zug, wenn sie in ihrem Wohn­zimmer sitzt. Die Bahn­gleise verlaufen unweit von ihrer Wohnung, einige hundert Meter den Hügel hinunter. Mehrmals am Tag hört die 65-Jährige das Rattern auf den Schienen und den Signal­pfiff der Lokomotive. Sie sitzt in ihrer modernen Dachgeschoss­wohnung mit Blick auf Niš, die dritt­grösste Stadt Serbiens – Ölmalereien an den Wänden, Regale voller Bücher, eine Espresso­maschine – und sie zieht an ihrer E-Zigarette.

Stela Jovanović hat gute Laune, erzählt auf Englisch von einem Film­festival, das sie in der Slowakei organisiert, und stellt einen Teller mit Kuchen auf den Tisch. Sie scrollt durch ihr Facebook-Profil, um das Video ihres Enkels zu zeigen, der Schlagzeug in einer Rock­band spielt. Die ehemalige Lokal­journalistin ist seit fünf Monaten pensioniert und hat ein erfülltes Leben: Sie träumt von einem Haus in Griechenland, an ihrem Kühlschrank hängen Magnete von ihren Städte­trips in ganz Europa.

Zweimal am Tag rufen ihre erwachsenen Töchter an, die in Belgrad leben, und mehrmals pro Woche fährt sie mit dem Taxi zu ihrer alten Mutter, die von einer Pflegerin betreut wird. Über den Schicksals­tag in ihrem Leben, den 12. April 1999, fängt sie erst an zu reden, wenn man sie danach fragt.

Damals, vor 23 Jahren, stieg ihr Mann Radomir in den Schnellzug D 393, der die serbische Hauptstadt Belgrad mit Ristovac im Süden des Landes verbindet. Er war 45 Jahre alt, ein schlanker, fast zwei Meter grosser Mann mit dichtem, schwarzem Schnurrbart und Vater von zwei Töchtern im Teenager­alter. Es waren die orthodoxen Ostertage, das letzte Mal im ausgehenden 20. Jahrhundert.

Europa blickte mit Entsetzen nach Kosovo, die Provinz im Süden des sozialistischen Jugoslawiens, in der das Regime des serbischen Präsidenten und Autokraten Slobodan Milošević Massaker an ethnischen Albanern beging.

Nachdem verschiedene Waffen­stillstands­abkommen zwischen der albanischen Befreiungs­armee UÇK und der serbischen Seite gebrochen sowie Friedens­verhandlungen gescheitert waren, begann die Nato am 24. März 1999 mit Luftschlägen auf die Bundesrepublik Jugoslawien, die von Serbien und Montenegro gebildet wurde; Kosovo war damals noch nicht unabhängig und Teil von Serbien. Während der 78 Tage dauernden Bombardements gerieten mehr als 900 militärisch-infrastrukturelle Ziele ins Visier, darunter auch eine Eisenbahn­brücke in Grdelica, Südserbien, über die am 12. April 1999 der Zug mit der Nummer D 393 rollte.

«Dieser Moment hat mein ganzes Leben auf den Kopf gestellt», sagt Stela Jovanović.

«Wir wollten diesen Zug niemals zerstören oder seine Insassen töten», sagte der damalige Vize-Verteidigungs­minister der USA, John Hamre. «Wir wollten die Brücke zerstören und bedauern diesen Unfall.»

Wie viele Zivilistinnen damals auf der Brücke starben, ist bis heute umstritten. Human Rights Watch identifizierte 20 Tote, die jugoslawische Regierung ging von einer doppelt so hohen Zahl aus. Die Frage, wie viele Zivilisten der Nato zum Opfer fielen, ist in Serbien bis heute ein Politikum. Die Regierung spricht von bis zu 2500 Menschen, allerdings ohne Belege dafür zu liefern. «Und das, obwohl renommierte Institutionen wie das Humanitarian Law Center in Belgrad seit Jahren über detaillierte Daten­banken verfügen», schreibt dazu die Osteuropa-Historikerin Elisa Satjukow in ihrem 2020 erschienen Buch «Die andere Seite der Intervention».

Auf der Liste des Humanitarian Law Center sind die Namen von 453 Zivilistinnen vermerkt, die während der Luftschläge getötet wurden. Radomir Jovanović ist die Nummer 273.

Die Nato nannte Menschen wie ihn «Kollateral­schäden». «Wie kann man einen Menschen so bezeichnen?», fragt Stela Jovanović.

Teil 1: Können Bomben Frieden bringen?

Es gibt viele tragische Todesfälle, bei denen Menschen zur falschen Zeit am falschen Ort waren. Aber diese Geschichte steht für viel grössere Fragen, die bis heute die internationale Gemeinschaft spalten. War es legitim, Menschen Leid zuzufügen, um damit noch grösseres Leid zu verhindern – konkret die Massaker in Kosovo? Können Bomben Frieden bringen? Gibt es gerechte Kriege?

Die USA, bis heute die Schutz­macht der Kosovo-Albaner, sagt: Ja, die Bombardements waren legitim.

Russland, der traditionelle Verbündete Serbiens, sagt: Nein.

Der damalige US-Präsident Bill Clinton sprach von einer moralischen Verantwortung.

Russlands Präsident Boris Jelzin konterte: «Russland steht moralisch über den USA.»

Die Nato-Bombardements waren eine Zäsur in den Beziehungen zwischen Russland und den USA, die einander nach Ende des Kalten Krieges zögerlich die Hände entgegen­gestreckt hatten. «In der russischen Erinnerung war der Nato-Krieg ein Angriff auf Russland – weil er zeigte, dass Russland keine Rolle mehr spielte», schreibt die russisch-amerikanische Journalistin Masha Gessen dazu.

Die Luftschläge waren eine moralische Gewissens­frage, die den Westen in zwei Lager teilte und mit ihm Völker­rechtlerinnen, Schriftsteller, Politikerinnen und Regierungen. Die US-amerikanische Publizistin Susan Sontag sprach von einem «gerechten Krieg». Der Westen könne den «ethnischen Säuberungen» in Kosovo nicht mehr länger zusehen. Der Philosoph Noam Chomsky kritisierte den Einsatz als «Doppelmoral». Die Weltmacht USA verfolge nicht humanitäre, sondern territoriale Interessen.

In Kosovo sieht man die Bomben heute als Befreiung, in Serbien als illegalen Angriff auf einen souveränen Staat. In Moskau instrumentalisiert derweil Präsident Wladimir Putin die Luftschläge für seine eigenen Zwecke. Bevor der russische Präsident seinen Angriffs­krieg auf die Ukraine befehligte, hielt er eine lange, martialische Ansprache. Er nannte den Westen ein «Reich der Lügen», das in Jugoslawien selbst Völkerrecht gebrochen habe.

Putin nutzt die Luftschläge von 1999, um seine eigene Militär­invasion 23 Jahre später zu rechtfertigen. Die verdrehte Logik: Russland darf sich die Ukraine einverleiben, weil es sich die USA damals herausnahm, Kosovo von Serbien abzuspalten. Das offizielle Belgrad schweigt zu alledem.

Slawisch-orthodoxe Freundschaft: Abseits der Haltung in der Kosovo-Frage verbinden Serbien und Russland auch Religion und Sprache.

Serbien gehört heute zu den letzten Ländern Europas, die keine Sanktionen gegen Russland verhängt haben. Das liegt nicht nur an der Abhängigkeit vom russischen Gas, sondern auch an der pro­russischen Stimmung im Land. Laut einer Umfrage von 2021 sehen 54 Prozent der Serbinnen Russland als wichtigsten Verbündeten in der Welt. Die EU landet mit nur 11 Prozent auf Platz vier, deutlich hinter China. Das zeigt: Die Bomben haben nicht nur Brücken und Gebäude nieder­gerissen, sondern auch das Vertrauen grosser Teile der Bevölkerung in den Westen erschüttert.

Insbesondere mit dem amtierenden Präsidenten Aleksandar Vučić seien die Nato-Bombardements wieder ins Zentrum der serbischen Erinnerungs­kultur gerückt, schreibt Osteuropa-Historikerin Elisa Satjukow. Legten früher vor allem Lokal­politiker und Bürgermeister Kränze nieder, um der Opfer der Bombardements zu gedenken, so würden heute grosse staatliche Feiern organisiert. Serbisch-orthodoxe Priester rufen zum Gebet auf, hochrangige Minister sind anwesend und Schauspielerinnen inszenieren das Leben der Opfer als Theaterstück.

Der serbische Präsident Vučić nutzt die Erinnerung an die Bombardements auch, um Stimmung gegen den Westen zu machen. «Sie haben unsere Kinder getötet», sagte er vor einigen Jahren bei einer dieser Gedenkfeiern, «aber sie haben Serbien nicht getötet, weil niemand Serbien töten kann.»

In den Neunzigerjahren war Vučić Informations­minister von Slobodan Milošević – jenem Mann also, der massgeblich für die Jugoslawien­kriege verantwortlich war. Als die Bombardements losgingen, sprach der damals 29-jährige Vučić von der «Neonazi-Politik» der USA und ihrer Satelliten­staaten. Zwei Jahre später wurde Milošević an den Internationalen Strafgerichtshof für das ehemalige Jugoslawien in Den Haag ausgeliefert und der Verbrechen gegen die Menschlichkeit angeklagt. Er verstarb 2006 an einem Herzinfarkt, noch bevor ein Urteil gefällt werden konnte. Vučić, sein ehemaliges Propaganda-Sprachrohr, stieg in den folgenden Jahren Schritt für Schritt zum alles bestimmenden Politiker Serbiens auf.

Anfang April wurde Vučić mit fast 59 Prozent der Stimmen erneut zum Präsidenten gewählt. Doch sein Land, das seit zehn Jahren EU-Beitritts­kandidat ist, steckt in einem Dilemma. Brüssel fordert ein klares Bekenntnis zum Westen. Doch die Nato ist für viele in Serbien ein rotes Tuch. Wie kann man sich hinter jemanden stellen, der einen bombardiert hat?

Teil 2: Eine jugoslawische Liebe

Stela Jovanović kann mit diesem Freund-Feind-Schema wenig anfangen. Sie hat kein Verständnis für die ultra­rechten Organisationen, deren Anhänger in Belgrad zu Tausenden auf die Strasse gehen, mit Putin-Bannern und dem Z-Symbol, das für die Unterstützung des russischen Angriffs­kriegs in der Ukraine steht. «Das ist nicht mein Land», sagt sie.

Als Vučić vor einigen Jahren an der Eisenbahn­brücke in Grdelica einen Kranz niederlegte, blieb Jovanović der Veranstaltung fern. «Da marschierten jene Politiker auf, die für Radomirs Tod verantwortlich sind», sagt sie.

Heute bewundert Jovanović weder Russland noch verachtet sie die USA. «Wir Serben haben ein idealisiertes Bild von Russland», sagt sie, «aber Grossmächte stehen nie an deiner Seite, weil sie dich lieben.» Die Politik hänge ihr zum Hals heraus, sagt sie. Es ist ein ungewöhnlicher Satz für eine Frau, die ihr halbes Leben lang als Lokal­journalistin gearbeitet hat.

Stela Jovanović fuhr mehrmals an den Tatort, sie sah den geschmolzenen Zug, als er noch rauchte.
Heute hilft Stela bei der Erinnerung an Radomir der Blick in die Fotoalben: «Das war die schönste Zeit meines Lebens».

Doch eines weiss Jovanović mit Sicherheit: Das Land, in dem sie ihren Mann kennen­lernte, war für sie wunderschön. «In Jugoslawien gab es keine Grenzen. Wir fühlten uns überall zu Hause.» Ihr Vater, Absolvent einer Kunst­akademie, war Kroate, die Mutter Serbin, aber sie habe sich weder als das eine noch das andere gefühlt, sondern einfach als Jugoslawin. Umso schmerzhafter war es für sie, als sie in den Neunziger­jahren nicht nur ihren Mann verlor, sondern auch ihre Heimat, als Jugoslawien in blutigen Kriegen zerfiel.

Stela Jovanović wuchs in Niš in Südserbien auf, einer der ältesten Städte auf dem Balkan, wo bis heute eine mittelalterliche Festung steht. Die Stadt ist ein wichtiger Eisenbahn­knoten. Ihre Eltern lernten sich in einem Theater kennen: Er war Bühnenbildner, sie Schauspielerin.

«Meine Familie war die einzige in unserem Wohn­block, die in den Sechziger­jahren einen Fernseher hatte», erzählt sie, «und deswegen kamen oft viele Nachbars­kinder vorbei.» Radomir, ihr späterer Ehemann, war einer davon. «Schon damals habe ich mir vorgestellt, dass wir eines Tages heiraten würden.» Als Radomir in einen anderen Häuser­block zog, verloren sie sich aus den Augen, liefen einander aber wieder über den Weg, als sie 16 und er 19 Jahre alt war.

Sie fragte ihn: «Was machst du morgen? Ich will mit dir ausgehen.»

Er antwortete «Okay», obwohl er damals eine Freundin hatte.

Sechs Jahre später heiraten die beiden. «Nach der Hochzeit setzten wir uns ins Auto und fuhren los, nach Novi Sad an die Donau. An die kroatische Küste und bis nach Sarajevo», erzählt Jovanović. Zwei Jahre später, 1980, kam die erste Tochter zur Welt, 1983 die zweite. Ihr Mann begann als Maschinen­bau­ingenieur in einer grossen Fabrik in Niš zu arbeiten. In seiner Freizeit kaufte er gebrauchte Autos und schraubte daran herum, reparierte Armband­uhren und Foto­kameras.

Einmal im Jahr fuhr die junge Familie in den Camping­urlaub, häufig ins benachbarte Griechenland. Jovanović hat dicke Fotoalben, gefüllt mit Erinnerungen an jene Zeit: Radomir mit Fischerhut und Badehose. Radomir beim Grillen. Radomir, wie er auf einem Flachdach steht und seine Frau in den Armen hält. «Das war die schönste Zeit meines Lebens», sagt sie. Auf dem Weg nach Griechenland kamen sie an der Eisenbahn­brücke von Grdelica vorbei, nichtsahnend, was sich dort noch abspielen würde.

Teil 3: Die Vorgeschichte in Kosovo

Sie sei eine Anti-Nationalistin gewesen, erzählt Jovanović. Als 1980 der jugoslawische Präsident Tito verstarb, ein ehemaliger Partisanen­general, weinte sie. «Ich habe an die Idee Titos geglaubt», sagt sie, «aber sie war künstlich. Und nichts, das künstlich ist, hält für immer.»

Zehn Jahre nach Titos Tod versank Jugoslawien im Bürgerkrieg. Von 1991 bis 1999 starben 200’000 Menschen. Hinzu kamen mehrere Millionen Flüchtlinge und Vertriebene. Heute gibt es auf dem Gebiet des ehemaligen Jugoslawiens sieben Staaten, aus Sicht Belgrads allerdings nur sechs. Kosovo, der kleinste und letzte Staat, der 2008 einseitig seine Unabhängigkeit von Serbien erklärte, wird von Belgrad noch immer als Teil des eigenen Staatsgebietes gesehen.

«Die Krim ist Russland, Kosovo ist Serbien», ist ein Slogan, den man auf Anti-Nato-Protesten in Belgrad immer wieder hört. Allein im März fanden zwei Kundgebungen statt, auf denen sich Tausende Menschen mit Russland solidarisierten. Heute gibt es keine prorussische Demo in Serbien ohne Kosovo-Sprechchöre. Putin ist im Land nicht zuletzt deswegen beliebt, weil der Kreml die Unabhängigkeit Kosovos im Uno-Sicherheitsrat blockiert.

Eindrücke aus der Innenstadt von Niš.
Das «Z» als Symbol für Russlands Angriffskrieg auf die Ukraine: Vor der russischen Botschaft in Belgrad.

Fragt man Jovanović heute, ob sie wisse, was in Kosovo in den Neunziger­jahren vor sich ging, dann verneint sie. Die Informationen seien eingeschränkt gewesen, ihre Familie sei damit beschäftigt gewesen, über die Runden zu kommen. «In den Neunziger­jahren war die Inflation so hoch, dass man sich mit einem Monats­gehalt gerade einmal Brot und Zigaretten kaufen konnte», sagt sie. Bis heute wird in Serbien die Frage nach der Verantwortung für den Krieg in Kosovo nicht öffentlich gestellt. Die Bomben werden als isoliertes Ereignis dargestellt, ihre Vorgeschichte ausgespart.

Slobodan Milošević war nach Titos Tod aus den Reihen der Kommunistischen Partei zum Staatschef der Teilrepublik Serbien aufgestiegen. Er setzte den Nationalismus zur Festigung seiner Macht ein. Durch eine Verfassungs­änderung schränkte er die Autonomie Kosovos ein.

Dort wurde bald der serbische Lehrplan eingeführt und albanische Lehrinhalte verdrängt. Albanische Journalistinnen, Fabrikarbeiter und Lehrerinnen verloren ihre Jobs. Albanische Bücher verschwanden aus den öffentlichen Bibliotheken. «Serbien führte einen Kultur­kampf gegen einen Teil seiner Staats­bürger», schreibt dazu der Südosteuropa-Historiker Oliver Jens Schmitt. Am Ende verloren fast 90 Prozent der kosovarischen Albaner ihre Arbeit, schätzungsweise 115’000 Menschen. All das geschah beinahe unbeachtet von der europäischen Öffentlichkeit, wie Schmitt schreibt.

Die Kosovo-Albanerinnen reagierten zuerst durch friedlichen, gewaltfreien Widerstand. Sie errichteten Parallel­strukturen und wählten den Schriftsteller Ibrahim Rugova zu ihrem Präsidenten. So entstand eine Art Untergrundstaat, der sich durch eine 3-Prozent-Steuer aus der Diaspora finanzierte, inklusive einer Exilregierung unter der Leitung von Bujar Bukoshi mit Sitz in Genf.

Doch ab Mitte der Neunziger­jahre stand der pazifistische Kurs Rugovas immer mehr in der Kritik. Die UÇK bildete sich, die sogenannte Befreiungs­armee Kosovos, die sich aus Dorf­wehren rekrutierte und in Guerilla­taktik Anschläge auf serbische Sicherheits­kräfte verübte. Die Albaner in Kosovo fürchteten immer schlimmere Gräuel­taten an der Zivilbevölkerung.

Nachdem serbische Soldaten und Paramilitärs 1995 im bosnischen Srebrenica einen Völkermord begangen hatten, griff die internationale Gemeinschaft in Bosnien ein und verhandelte das Friedens­abkommen von Dayton. Doch die schweren Menschenrechts­verletzungen in Kosovo oder eine territoriale Neuordnung dort war kein Thema. Aufgrund der Enttäuschung darüber verübte die UÇK ab 1997 Anschläge und löste damit den jahrelangen friedlichen Kurs der Rugova-Regierung ab. Die serbische Seite reagierte hart: flächendeckende Vertreibungen, Exekutionen von Zivilisten, das Nieder­brennen von Häusern. Es wuchs die Angst, dass es in Kosovo zu einem Genozid kommen könnte.

Teil 4: Das Bombardement vom 12. April 1999

«Die Nato wird uns bombardieren», sagte Radomir Jovanović damals zu seiner Frau.

«Ich selbst habe es bis zum Schluss nicht geglaubt», sagt sie heute.

Es folgten Nächte im Luftschutz­bunker, die wieder­kehrenden Sirenen des Bomben­alarms. Aber so schrecklich der Ausnahme­zustand war – das Leben der Familie ging weiter. Die letzte Fotografie, die es von Radomir Jovanović gibt, zeigt ihn bei seiner Lieblings­tätigkeit: Er bastelt an einem alten BMW herum. Zu jener Zeit war der gelernte Elektro­ingenieur als Reservist in die Armee eingezogen worden. Am 12. April 1999 sollte er sich bei seiner Einheit zum Einsatz melden, in Vranje, im Südosten Serbiens. «Ich rief am Busbahnhof an, um nach dem Fahrplan zu fragen, aber niemand hob ab», erzählt Stela Jovanović. Also stieg ihr Mann in den Schnellzug D 393.

Gegen 11.40 Uhr überquerte er die Eisenbahn­brücke von Grdelica. Für die Nato war die Brücke ein militärstrategisch wichtiger Punkt. Wer sie zerstört, so das Kalkül, der unterbindet weitere Waffen­lieferungen nach Kosovo. Die raketen­gesteuerte Bombe wog 1300 Kilogramm und wurde von einem mehrere Kilometer entfernten Kampf­flugzeug der US-Luftwaffe abgeworfen.

Die Frage, warum der Pilot die Bombe genau in jenem Moment abfeuerte, als ein ziviler Personen­zug über die Brücke fuhr, und die Frage, warum die Nato den Einsatz daraufhin nicht stoppte, sondern eine zweite Bombe auf den brennenden Zug abwarf, ist bis heute umstritten. Laut einem Bericht der Menschenrechts­organisation Amnesty International hat die Nato keine «ausreichenden Vorkehrungen» getroffen, um zivile Opfer zu vermeiden. So hätte ein Flugzeug das Gebiet vor dem Angriff überfliegen können, um sicherzustellen, dass kein Zug auf der Strecke unterwegs ist.

Stela Jovanović erfuhr aus den Nachrichten vom Tod ihres Mannes: «Als ich die Bilder im Fernsehen sah, wusste ich sofort, dass es sein Zug war.»

Am nächsten Morgen hielt Wesley Clark, Oberbefehls­haber der Nato-Streitkräfte im Kosovo-Krieg, eine Presse­konferenz in Brüssel: «Das Flugzeug, von dem der Pilot die Raketen startete, war viele Meilen vom Boden entfernt», sagte er. «Er konnte seine Augen nicht auf die Brücke richten.»

«Vergiss, wenn es geht, den 12.4.1999 – den Zug D 393».
Gedenktafeln für die Todesopfer nach dem Bombenangriff auf die Brücke.

Clark spielte den Journalistinnen zwei Videos vor, die bis heute auf der Internetsite der Nato archiviert sind. Man sieht das Fadenkreuz, das leicht ruckelnd auf die Brücke zurast. Der Zug, so Clark, sei «in weniger als einer Sekunde» ins Bild gerast. Die «Frankfurter Rundschau» deckte ein Jahr später auf, dass die Videos nicht in Echtzeit, sondern mindestens in dreifacher Geschwindigkeit abgespielt worden waren. Die Nato räumte dies später ein und sprach von einem «unvorhersehbaren und bedauerlichen Hardwarefehler». Jovanović glaubt, dass die Nato bewusst gelogen hat: «Zur damaligen Zeit fuhr kein Zug in Serbien schneller als 60 Kilometer pro Stunde.»

Bereits wenige Tage später forderte Amnesty International eine Untersuchung des Vorfalls. Kurz darauf, am 14. Mai 1999, landete der Fall auf dem Schreibtisch der Schweizer Juristin Carla Del Ponte, bis 2007 Chef­anklägerin des Internationalen Straf­gerichtshofes für das ehemalige Jugoslawien in Den Haag. Noch während der laufenden Militär­operation entschied Del Ponte, ein Komitee einzurichten, um zu prüfen, ob Anschuldigungen zur Anklage gebracht werden sollten. Der Abschlussbericht war für die Opfer­familien niederschmetternd. Darin heisst es im letzten Satz: «Aufgrund der vorliegenden Informationen ist das Komitee der Meinung, dass der Angriff auf den Zug in Grdelica nicht untersucht werden soll.»

Jovanović fuhr mehrmals an den Tatort, sah den geschmolzenen Zug, als er noch rauchte und später, als die Waggons ausgekühlt waren. Die Überreste ihres Mannes wurden nie gefunden. Sie musste vor Gericht ziehen, um ihn offiziell für tot erklären zu lassen.

«Das hat ein Jahr gedauert», sagt sie.

Teil 5: Die Gemeinde hat andere Sorgen

In Grdelica wurde die Eisenbahn­brücke wieder aufgebaut. Der Zug fährt nur noch selten. Fischer schlendern mit ihren Angel­ruten über die Gleise zum anderen Ufer hinüber. Plastik­säcke haben sich im Gebüsch verfangen. Das einzige, was in der Gegend neu aussieht, ist die Gedenk­stätte mit den Plastik­blumen vor den Grabsteinen. Früher, zur Zeit Jugoslawiens, stand in Grdelica eine grosse Textil­fabrik. Mehr als 4000 Menschen arbeiteten dort, doppelt so viele wie die Stadt heute Einwohner zählt. Viele Menschen sind weggezogen, nicht zuletzt aufgrund der Luftanschläge und des Gerüchts, die Bomben seien mit krebs­erregendem Uran angereichert gewesen.

Wladimir Nikolić ist noch hier. Sein Haus liegt hundert Meter von der Brücke entfernt. Der 72-Jährige sitzt mit Jogging­hose und karierten Pantoffeln in seinem Garten, vor sich ein Glas selbst­gebrannten Raki, Serbiens berühmten Obst­brand. Jahrelang hat er auf dem Bau in der Schweiz gearbeitet und sich mit dem Lohn den Opel Corsa gekauft, der vor seinem Haus steht. Jetzt ist er pensioniert, stutzt und pflegt seine Obst­bäume, brennt Schnaps und baut Erdbeeren und Gemüse an. Das, was sich hier 1999 abgespielt habe, könne sich niemand vorstellen, sagt er.

«Zuerst war da diese Stille. Wie ein Vakuum. Dann folgte der Einschlag»: Wladimir Nikolić wohnt nahe der Brücke, er wird diese Nacht nie vergessen.
Nach dem Bombenangriff wollte Stela Jovanović ihren Mann suchen. Ein Bild war alles, was sie am Ort machen konnte. Stela Jovanović

«Zuerst war da diese Stille. Wie ein Vakuum. Dann folgte der Einschlag. Ein Zug­waggon wurde bis vor mein Haus geschleudert. Alles brannte. Schreckliche Dinge lagen im Gras herum: Beine, Hände, Leichen­teile. Ich weiss nicht, wie viele Menschen damals wirklich starben. Am Denkmal steht, dass es zwanzig waren. Aber ich bin mir da nicht so sicher. Viele wurden nie gefunden, weil alles verbrannt ist.»

Im Gemeinde­amt von Grdelica, ein violett gestrichenes, zweistöckiges Gebäude im Zentrum der Stadt, erhebt sich Dragan Marković von seinem Stuhl. Auch er hat die Bombardements erlebt, aber seine Gemeinde hat 23 Jahre später andere Sorgen. Die Jungen ziehen weg, die Investoren bleiben aus und die alte Textilfabrik, in der einst Tausende Arbeit fanden, bröckelt vor sich hin, ohne dass sie je privatisiert worden wäre. Das 92 Meter lange und 34 Meter breite Becken, in dem einst die Wolle für die Weiter­verarbeitung gewaschen wurde, hat die Gemeinde in ein Schwimmbad umgewandelt. Es ist ihr ganzer Stolz.

Der Gemeinde­mitarbeiter öffnet ein Video auf seinem Handy. Es ist ein animierter, mit Surfer-Musik unterlegter Werbespot, mit dem Grdelica Förder­gelder aus dem Ausland beantragen will, um das Schwimm­becken zu renovieren. Im Video sieht alles neu aus: der sattgrüne Rasen, der Coca-Cola-Automat, der Volleyball­platz, die Schwimm­bahnen und der Sprung­turm. Die Gemeinde braucht 50 Millionen Dinar, um das Projekt umzusetzen, was etwa 440’000 Franken entspricht. «Denken Sie, dass wir Förder­hilfe von der Europäischen Union bekommen können?», fragt Marković. Er klingt hoffnungsvoll.

Zur Autorin

Franziska Tschinderle ist freie Journalistin und lebt in Wien. Für die Republik interviewte sie zuletzt Kosovos neue Präsidentin Vjosa Osmani.