Diese komplexe Wirklichkeit
Namenlos gemachte Frauen, queere Lebenswelten, der Mensch im Zeitalter der Klimakrise: Drei bemerkenswerte Neuerscheinungen der Schweizer Literatur verhandeln grosse Themen der Gegenwart.
Von Daniel Graf (Text) und Flavio Leone (Bild), 21.09.2022
1: Wie Schuppen von aller Augen (Martina Clavadetscher)
Kennen Sie Walburga Neuzil? Cecilia Gallerani? Valentine Godé-Darel aus Vevey?
Ziemlich wahrscheinlich ist, dass Sie zumindest Bilder von diesen Frauen kennen, denn sie wurden von den berühmtesten Malern der Kunstgeschichte porträtiert und sind seit Jahrzehnten oder Jahrhunderten in Museen, Katalogen und unzähligen Reproduktionen zu sehen.
Millionen kennen ihre Gesichter und Körper; ihren Namen und ihre Geschichte: fast niemand. Und dass einige von ihnen nicht nur Modell oder Muse, sondern selbst künstlerisch tätig waren? Wissen gerade mal die happy few.
Als Martina Clavadetscher, Gewinnerin des Schweizer Buchpreises 2021, im Rahmen einer Auftragsarbeit über Egon Schieles «Auf dem Rücken liegende Frau» schrieb, gab sie nicht dem berühmten Maler, sondern seinem einstigen Modell eine literarische Stimme:
Wenn eine Frau auf dem Rücken liegt, braucht sie
keinen Namen mehr.
Und ausgerechnet darin war ich gut.
Aus dem historischen Abstand von über hundert Jahren macht Clavadetscher in einer fiktionalen Erzählung die «Liegende» zur Sprechenden. Und sie gibt ihr ein paar Schlusszeilen mit, in denen sich die ganze männerlastige Schieflage der kunsthistorischen Überlieferung und die Vereinnahmungslogik des Geniekults verdichten:
Da liegt mein Alles – auf meinem Rücken.
ICH bin das. WALDBURGA NEUZIL!
Aber darunter steht sein Name.
«Vor aller Augen» heisst das neue Buch von Martina Clavadetscher, und seine Grundidee ist derart schlagend, dass man sich fragt, wieso es genau das in der Gegenwartsliteratur nicht schon längst gibt. Nicht nur Walburga Neuzil (bei Clavadetscher: «Waldburga») erweckt die Autorin darin literarisch zum Leben, sondern 19 Frauen, die für bekannte und weltberühmte Gemälde von der Renaissance bis ins 20. Jahrhundert das reale Vorbild waren – und die heute weitestgehend «vergessen» sind, wie es so unschön heisst.
Denn «vergessen», darauf hat die Autorin Nicole Seifert im Kontext der Literatur aufmerksam gemacht, ist meist nur ein Euphemismus dafür, dass Namen von Frauen getilgt, ihre Lebensgeschichten als irrelevant erachtet, ihre Werke ignoriert worden sind.
Ihnen gibt Martina Clavadetscher nun ihren Namen und ihre Geschichte zurück. Und nicht zuletzt: Sie verleiht ihnen eine Stimme. So sind 19 literarische Ich-Erzählungen entstanden: fiktionale Werke, aber geschrieben auf Grundlage umfangreicher Recherchen in Briefwechseln, Tagebüchern, Fachliteratur. Wie in einem Ausstellungskatalog versammelt «Vor aller Augen» die Bilder und stellt ihnen jeweils einen Text gegenüber – doch sprechen hier nicht die Kunsthistoriker, sondern die Porträtierten.
Und so trifft man in Clavadetschers Galerie etwa auf Margherita Luti, Raffaels heimliche Lebensliebe, die er als «La Fornarina» («die kleine Bäckerin») mit einem hauchdünnen, symbolischen Ehering porträtierte, den schon die Zeitgenossen nicht sehen wollten. (Danach deckte ihn im Laufe der Jahrhunderte auch noch eine Patina zu, bis ihn eine Bildreinigung wieder ans Tageslicht brachte.)
Oder Cecilia Gallerani, die Mailänder Dichterin, die die Nachwelt nur als Leonardo da Vincis «Dame mit dem Hermelin» kennt.
Dagny Juel, Edvard Munchs «Madonna», deren literarisches Werk vor kurzem auch für deutschsprachige Leserinnen wiederentdeckt wurde.
Maria Vermeer, die nicht nur die Tochter von Jan Vermeer und womöglich Vorbild für das «Mädchen mit dem Perlenohrring» war, sondern selbst eine begnadete Malerin, deren Name hinter dem des Vaters zurückstehen musste.
Valentine Godé-Darel, die sterbenskranke Geliebte von Ferdinand Hodler, die dieser, übrigens mit Namensnennung im Bildtitel, noch auf dem Krankenbett porträtiert hat und die Martina Clavadetscher bitter rekapitulieren lässt:
Mich hast du längst ausgelassen. Es ist der Prozess, der dich interessiert. Die Verwandlung. Der Verfall. Alles andere ist dir zu feinstofflich. Mein wahres Ich kannst du nicht malen.
Clavadetschers 19 Erzählungen machen Kontinuitäten sichtbar und sind doch nirgendwo nur eine Abfolge von Variationen. Viel zu unterschiedlich sind schon die Lebensgeschichten als solche. Clavadetscher gelingt es aber auch, jeder von ihnen eine individuelle Erzählstimme und eine eigene Atmosphäre zu kreieren.
Mit dem Selbstporträt von Angelika Kauffmann verändert sich auch die Grundkonstellation: Hier ist die Malende eine Frau und die Gemalte auch die Malerin – und zwar eine, die gegen gesellschaftliche Widrigkeiten schon zu Lebzeiten für ihre Kunst verehrt wurde und bis heute zum festen Kanon gehört.
Und die identitätspolitischen Kategorien verschieben sich einmal mehr, wenn Clavadetscher Madeleine sprechen lässt, die porträtierte woman of color aus einem Gemälde von Marie-Guillemine Benoist, das im Frankreich des Jahres 1800 entstand, heute im Louvre hängt und früher das N-Wort im Titel trug.
Das Thema dieser Erzählung ist weniger der männliche Blick als vielmehr der white gaze, die Perspektive der Weissen, und die willentliche Blindheit eines angeblich progressiv-aufgeklärten Bürgertums für den eigenen Machtmissbrauch gegenüber den Kolonisierten. «Du bist ein Meisterwerk», sagt die Malerin bei Clavadetscher, als sie Madeleine, ihre Haushälterin, porträtiert. Und Clavadetscher lässt Madeleine entgegnen:
Nein,
dachte ich derweil,
ich bin die entblösste Brust der stillenden Mütter
zwischen dem Zuckerrohr, ich bin die, die wie
eine Wildkatze unter den Marktständen lauert,
bin die, die sich nicht bewegen darf, ausser ich
nicke, ich bin die rauen Hände, die vernarbten
Rücken, ich bin die Schmetterlingsinsel, ich bin
der Kampf um die Freiheit mit Macheten und
Messern, ich bin die Rückkehr aufs Feld.
Spätestens von hier aus rückt noch eine andere, schreibethische Problemstellung in den Blick. Ist das Erfinden einer Stimme, die nicht die eigene ist, eine illegitime Grenzüberschreitung?
Martina Clavadetscher wirft die Frage selbst in einem Nachwort über die «wunderbare Anmassung der Fiktion» auf: «Es ist durchaus dreist, die Perspektive einer Frauenfigur einzunehmen, die ich aus persönlicher Erfahrung möglicherweise nicht haben kann: ein Dienstmädchen aus dem 17. Jahrhundert, ein Waisenkind, eine italienische Adelige, Afroamerikanerinnen, Frauen aus Guadeloupe, französische Frauen, Aristokratinnen, Frauen aus Tahiti, Florenz oder Harlem, Tänzerinnen, Malerinnen, Pianistinnen, Prostituierte, (...)» – die Liste ist hier nicht zu Ende. Und Clavadetscher weiss, dass die Frage an den Kern ihres Metiers rührt: «Literatur ist immer Behauptung. Literatur ist lustvolle Grenzüberschreitung. Sie erzählt die Geschichten anderer.»
Auf die Frage «Darf man das?» – mit guten Gründen eine ethische Leitfrage unserer Zeit – liesse sich also mit Martina Clavadetscher antworten: Ja, aber.
Wenn sich historische Ungerechtigkeiten über Jahrhunderte fortsetzen, läuft auch ein Einspruch dagegen Gefahr, die Kontinuitäten partiell fortzusetzen, wenn der Protest nicht problembewusst genug ist und mit einer kritischen Reflexion der eigenen Sprechposition einhergeht. Oder abstrakter: Die drängenden Fragen der Ästhetik sind immer auch Fragen der Ethik.
Clavadetschers feministisches Projekt gerät auch deswegen so überzeugend, weil sie für die vielfältigen und häufig verschränkten Formen von Diskriminierung und Machtstrukturen ein Sensorium hat. Weil sie den Figuren und ihrer Geschichte mit grossem Respekt begegnet. Und weil der Blick auf das historisch Repräsentative in diesen Erzählungen mit dem Bemühen um das Individuelle einer Lebensgeschichte verknüpft und in einen je neuen, spezifischen Ton übersetzt ist.
Natürlich: Nicht jede der 19 Erzählungen ist gleich stark. Vereinzelt misslingt auch einer Könnerin wie Clavadetscher ein Dialog, gerät eine Paris-Schilderung zu klischeehaft oder verrutscht eine Metapher («Da schlummerte ein Sprengsatz in mir, und ich wusste, dass Stach diese Waffe entfesselt hatte»). Insgesamt aber führt Clavadetscher mit grosser erzählerischer Kraft die groben und die feinen Mechanismen der Misogynie vor Augen und stellt ihnen ebenso eindrucksvoll die unterschiedlichsten Formen der Rebellion entgegen.
Die beiden Damen aus Gustave Courbets «Le Sommeil» lässt Clavadetscher übrigens in Versen sprechen:
(...) wir hören euch
Herzschlag und Atem ihr
kriecht über Lippen
schleicht über Wangen
euer Spielfeld ist unsere Haut.
Wie sie heissen? Was ihre Geschichte ist?
Die Antwort: «Vor aller Augen», Seite 123 ff. Sie führt auch zum Ursprung der Welt.
2: Queering the Familienroman (Kim de l’Horizon)
Um Ursprünge, um Herkunft geht es auch bei Kim de l’Horizon. Nur eben ein wenig anders als im klassischen Familienroman.
Brief an die Grossmutter:
... ich tigere vor den Gyms auf und ab, die Grindr-App ist meine bleiche Fackel in der Nacht der Agglomeration, sie weist mir den Weg zu den Männern, die ich suche, die ich brauche, die ich mich brauchen lasse, von denen ich mir hinter dem Fahrradhäuschen den Rock hochschieben lasse und die ich sich in mich hineinschieben lasse, schnell und gefühllos, ich habe ja genug Gefühle, ich brauche nicht noch mehr davon, ich brauche endlich mal einen harten cut von ihnen.
Wenn Kim, das Ich dieses furiosen Debüts, sich in einem endlosen Schreiben an die verstorbene «Grossmeer» wendet (die so heisst, weil die Berner Familie seit jeher ihre Mundartwörter auch aus dem Französischen entlehnt), dann ist es, als stünde in jedem Moment beider Leben auf dem Spiel. Und das von «Meer» und «Peer» gleich mit.
In diesem von queerer Lebenswirklichkeit unterspülten Familienroman verflüssigen sich die festgeglaubten Identitäten. Gerade deshalb geht es in jedem Moment ums Ganze. «Blutbuch» heisst dieser Roman nicht umsonst.
Abgezweigt ist das Titelwort von der Blutbuche aus dem Familiengarten, die mit ihrem freien Wachstum für Kim schon in Kinderjahren ein Gegenbild zum Stammbaum bildet. Und die ganze hybride, barock überladene Bildlichkeit des Buches, in dem alles zum Symbol gerinnt, steckt schon in diesem Titelwort: das Feste und das Flüssige, das Starre und das Bewegliche, das Ineinander von Natur und Kultur und die menschliche Konstruktion vom angeblich «Natürlichen».
Es ist ein Buch der Verzweigungen und Vernarbungen, der Einkerbungen in Körper und Seele. Und es ist typisch für seine über weite Assoziationsbögen gespannte Metaphorik, dass das Thema der Körpernegativität, das den Band ebenfalls durchzieht, seinen Ausgangspunkt ausgerechnet an den «seitlichen Schwellungen» von Grossmutters Füssen nimmt, «die sie seufzend Hallux nannte»:
Ich hatte immer Angst, dass dort ein weiterer Zeh aus der Haut schlüpfen will. Ich lernte an Grossmeers Füssen, dass Körperteile Wesen sind, die gegen einen arbeiten, die nicht dasselbe sind wie mensch selbst, die ein anderes Geschlecht haben, eine andere Spezies sein können.
Weite Bögen durchmessen die Sätze dieses Buches auch rhythmisch. Man muss es sich nicht vor Augen führen, sondern zu Gehör bringen, wie fein de l’Horizon zwischen den einzelnen Satzgliedern moduliert: von einem hintersinnig-ironischen Ton in melancholische Einfärbungen hinein, auf das Satzende und eine vermeintliche Ankunft zu, die schon eine kommende neue Heimatlosigkeit erahnen lässt.
(...) ich bin einmal volljährig geworden und in die grösste Stadt meines Landes gezogen, und damals gab es ja nur zwei Geschlechter, also meinen Körper gab es damals noch gar nicht, und so stürzte ich mich eben neonfarbenen Schuhes in die Schwulenkultur rein, wo mein Körper – dachte ich – am ehesten ins Dasein kommen könnte.
Es geht durch fünf Kapitel wie durch fünf grosse, vielfach verwinkelte Erinnerungslabore. Mit allen verfügbaren Mitteln der Sprache werden nicht nur frühere Ich-Versionen, sondern vergangene und allzu gegenwärtige Atmosphären beschworen:
das Grundgefühl von Angst und Bedrohung, das das Kind sich im «Verschwindungszauber» üben lässt;
der frühe Entscheidungszwang: «Bub oder Meitschi?» (Das Kind «schaut die anderen Kinder an. Die meisten haben sich schon entschieden.»);
die kindliche Scham vor dem Anderssein; Jahre später die Aufstiegsscham des einstigen Arbeiterkindes;
die Erfahrung nackter, transphober Gewalt.
Das literarisch Radikale von de l’Horizons «Blutbuch» aber besteht in seinen Bruchstellen. Darin, dass dieser Text im Extremfall auch gegen die eigene Erzählstimme arbeitet.
Die biografische und erzähltechnische Suchbewegung kulminiert in dem permanent auf sprachliche Extremspannung getrimmten Mittelteil des Buches. Hier findet auch Kims non-binäre Selbstidentifikation ihren unmissverständlichsten Ausdruck:
Und ich war ja auch tatsächlich nie schwul, weil Schwulsein geht ja nur, wenn mensch daran glaubt, dass es zwei Geschlechter gibt und dass mensch auf dasselbe Geschlecht steht; und dieses Schauermärchen von bloss zwei Geschlechtern, von zwei unschmelzbaren Gletschern, die genau das Gegenteil voneinander seien, das erzähle ich nicht weiter.
Bei dieser Selbstverortung aber bleibt es nicht. Vielmehr bricht Kim hier einen neuen, heftigen Familienstreit vom Zaun: mit einem Teil der einstigen Wahlverwandtschaft – und mit dem eigenen, noch gar nicht so alten Ich. In der Gay-Community von Kims urbaner Szene seien doch in Wirklichkeit nur die «Träume von einer Übermännlichkeit» zelebriert worden, «die es drüben, im Zentrum der Heterogesellschaft Ende der Nullerjahre, noch nicht gab». Und dann:
Der hochkuratierte Muskelkörper war lange Zeit Schwuchtelsache und kroch erst um 2010 aus dem Gayporn ins Zentrum. Ich war Teil dieser Subkultur, die keine Subversion war, die keine Frauen und nichts Weibliches duldete.
Das muss man erst einmal sacken lassen.
Die Erzählstimme formuliert hier eine Fundamentalkritik an virilen Männlichkeitskonzepten und an misogynen Strukturen, die sie auch in Teilen der Schwulenszene am Werk sieht. Sie vollzieht dabei nicht zuletzt auch eine Selbstanklage. Aber diese schonungslose, in ihren Grundgedanken luzide Männlichkeitskritik kommt eben im Breitbeiner-Sound daher. Sie wird in einer testosteronstrotzenden Halbstarkensprache vorgebracht, die gar nicht oft genug «Arsch» und «Schwanz» sagen kann und sich derart in eine seitenlange verbale Selbsteskalation begibt, dass sie sich nur noch durch den Kontext von der Sprache des Ressentiments unterscheidet. «… ich wollte so eine zu Tode ästhetisierte Dolce-Gabbana-Tom-of-Finland-Schwuchtel sein» – geht das noch als reclaiming durch?
Spätestens hier wird wichtig, dass dieser Familien- und Bildungsroman immer auch (und vielleicht vor allem) ein Künstlerroman ist – und Kapitel 3 der Punkt, an dem dieses schreibende, nach einem literarischen Ausdruck suchende Ich gewissermassen die Pubertät durchläuft. Es ist der Moment, in dem Kim auf dem Weg zu einem gereiften künstlerischen Selbstverständnis in die eigenen – auch sprachästhetischen – Abgründe blickt und die eigenen Affinitäten zu einem grenzverletzenden Kraftmeiersprech erkennt, der mit dem Amoralischen flirtet.
Schuldbewusste Faszination («Und ich weiss, (...) es ist eine zynische, aufgekratzte Erzählstimme») ist hier untrennbar verknüpft mit Scham, die als der eigentliche Motor der Tirade von oben erkennbar wird. Und zum Künstlerroman wird der Text auch dadurch, dass er diese Momente der (schmachvollen) Selbsterkenntnis schonungslos ausstellt: als Durchgangsstationen einer künstlerischen Selbstverständigung.
Das allein wäre schon Diskussionsstoff genug zu diesem bereits preisgekrönten Debüt, das nun auch als einziger Schweizer Titel auf der Shortlist zum Deutschen Buchpreis steht.
Aber an «Blutbuch» lässt sich stellvertretend auch ein grundsätzliches Problem der aktuellen Ich-Literatur zeigen: die Neigung zum weltanschaulichen Besinnungsaufsatz.
Die autofiktionale Prosa der Gegenwart bezieht ihre besondere Kraft aus einem kunstvoll inszenierten Authentizitätsversprechen, in dem ein scheinbar unmittelbar der Realität entnommenes Geschehen reflexiv überformt wird. Die reale Autorin steht dabei nicht nur für die Glaubwürdigkeit der literarisch sublimierten Erfahrung ein; die urpersönliche Ich-Erzählung repräsentiert auch eine erfahrungsgesättigte Position in einem aktuellen Debattenumfeld.
Der autofiktionale Roman ist immer auch personalisierte Diskursliteratur und übersetzt widerstreitende Sichtweisen in Figurenkonstellationen. Meist speisen die Ich-Erzähler-Stimmen dann auch eine Fülle von Material in Form von Theorietexten und Zitaten in die eigenen Erkundungen mit ein.
Heikel wird es für das Erzählen deshalb immer dann, wenn hinter dem erzählenden Ich die anderen Figuren ganz verschwinden und die Selbstverständigung der Erzählfigur im Grunde nur noch Referate fixer Positionen sind. Dann wird aus dem Erzählen ein Dozieren – und im schlimmsten Fall ein Katechismus.
Es gibt Passagen im «Blutbuch», wo eine solche Verengung des Horizonts auf ein Weltanschauungscredo droht. Etwa als seitenlang ein längst vergessener Blutbuchenforscher als Papiertiger herhalten muss, um mit grosser Verve erledigt werden zu können. Erzählerisch leistet das nichts – eher verläuft sich die Erzählinstanz in den Labyrinthen der eigenen Recherchen und selbstreflexiven Endlosschleifen.
Doch es gehört zu den Stärken dieses Romans, dass er auch aus den metafiktionalen Sackgassen wieder herausfindet. Weil das Ich sich wieder den anderen Figuren zuwendet und sich damit selbst aus der endlosen Selbstspiegelung befreit. Noch einmal geht es tief in die Familiengeschichte – und die Erzählung von «Grossmeer» weitet sich zu einem berührenden Demenzroman.
In dem auf Englisch formulierten Schlussteil steht dann eines der ehrlichsten und tiefgründigsten Bekenntnisse der gegenwärtigen Autofiktionsliteratur. Warum das autobiografische Schreiben über die eigenen familiären und persönlichen Traumata? «It’s the most efficient way for me to climb up the ladder.» Und dann: «Am I horrible? I guess.»
Auch und gerade die Schriftstellerei ist ein gigantischer Aufmerksamkeits- und Distinktionswettbewerb. Der Wille, die Erfolgsleiter emporzusteigen, schliesst das Schreiben aus grosser innerer Dringlichkeit nicht aus.
3: Welt ohne Mensch, oder: Der Pilz spricht (Benjamin von Wyl)
Ein knappes Jahr ist es her, dass Bernd Ulrich in der «Zeit» fragte, warum zur Hölle die zeitgenössische Literatur so wenig von der Klimakatastrophe handle (und andere sich fragten, wo Ulrich seine Leseraugen hatte). Diesen Herbst nun sind die Klimaromane in den Programmen der deutschsprachigen und internationalen Literatur derart präsent, dass auch Ulrich sie kaum übersehen wird.
Für all diese Bücher stellen sich nun immer dringlicher die Grundsatzfragen heutiger climate fiction: Wie soll man von der Klimakrise erzählen, wenn die Dauerpräsenz des Themas längst Abwehrverhalten, Ignoranz und Weltflucht auslöst? Wenn Abertausende Texte und Appelle auch bisher kaum etwas am selbstzerstörerischen Weg der Menschheit geändert haben? Was hat die Literatur beizutragen, wenn ihre Utopien unglaubwürdig scheinen und ihr altes Erfolgsmodell, die Apokalypse, längst Gewohnheitseffekte auslöst? Nicht zuletzt: Wie muss erzählt werden, um in dieser Ausgangslage von medialer Dauerpräsenz und fataler Routine noch so etwas wie Wirkung zu erzielen?
Der Basler Schriftsteller und Journalist Benjamin von Wyl hat mit seinem neuen, dritten und bislang stärksten Roman für die literarische Antwort auf solche Fragen schon einmal ein entscheidendes Plus: Er überrascht.
Bei von Wyl spricht kein Erzähler-Ich, sondern ein Wir. Und dieses Wir ist: ein Pilz.
Der Mensch, so lautet eine der Pointen dieser gegenwartsnahen Zukunftsvision, hat seinen Krone-der-Schöpfung-Posten längst verloren.
Bevor allerdings das Missverständnis aufkommt: «In einer einzigen Welt» ist im Grunde gar kein Klimaroman. Extremwetterkatastrophen, ja nur schon das Wort Klima, tauchen darin gar nicht auf. Es ist aber ein Ökoroman im engen Sinn des Wortes: ein Text über das Verhältnis von Mensch und Umwelt. Und dass der Mensch in dieser Disziplin eher mies abschneidet, denkt nicht nur der Pilz.
Benjamin von Wyls Grundfrage ist dieselbe, die derzeit Denker wie Dipesh Chakrabarty, Bruno Latour oder Timothy Morton umtreibt: Kann der spätkapitalistische Mensch noch ein Verhältnis solidarischer Verbundenheit zur Natur aufbauen oder bleibt diese Relation eine der Ausbeutung und Zerstörung? Oder philosophischer: Kann der Mensch sich noch als Teil eines Wir denken, das über den Menschen hinausreicht?
Der Pilz bei Benjamin von Wyl, dieses Riesenmyzel und ominöse Erzähler-Wir, hat da eine ziemlich klare Position: «Einzelige» oder «Soloexistenzen» nennt die Erzählstimme die Menschen, weil sie in ihrem Hyperindividualismus zu einer echten Vernetzung mit der Natur und miteinander doch gar nicht in der Lage seien:
Wir erleben die Soloexistenzen immer wieder so: ergriffen von der Natur, aber nicht bereit, sich einzulassen. Mit einer Ahnung davon, dass die Bäume, die Chitinproteinbeine, die Pilzmembranen, die Bärlauchblüten miteinander verbunden sind, aber ohne Idee, wie sie selbst in dieses Netz eingehen könnten. Den Gedanken, Teil von allem zu sein, kennen die Soloexistenzen natürlich alle, aber nur als Fabel. Lieber besinnen sie sich aufs Individumm.
«Individumm»? Von Wyls Pilzensemble wird vielleicht nicht Kalauerkönig, ist aber längst auf dem Weg zum neuen Herrscher der Welt, weil die riesige Symbiose aus Sporen und vernetzten Zellen den «Soloexistenzen» bereits den Rang abläuft.
Und die Menschen? Müssen jetzt auf die härtestmögliche Weise lernen.
Weil sie selbst sich mit der Natur nicht vernetzt haben, werden sie nun vernetzt, will heissen: in die Pilzkultur eingespeist. Das Wir, das hier spricht, hat bereits begonnen, das menschliche Bewusstsein zu hacken und für die eigene evolutionäre Aufrüstung zu nutzen – «Matrix» trifft auf «Die geheimnisvolle Welt der Pilze».
Und so spricht das unsichtbare, aber im wahrsten Sinne weltumspannende Erzähler-Wir des Romans aus einer süffisanten, ironisch-herablassenden Haltung über die Menschen und liest ihnen die Leviten zum Thema Gemeinschaft, Symbiose, Wir-Existenz.
Es ist die vielleicht schönste Pointe dieses Buches: Der olympische Erzähler aus dem klassischen Roman, der aus einer Position der Überlegenheit spricht und mit gigantischem Wissensvorsprung auf seine Figuren herabblickt, der Erzähler also, der spätestens mit der Postmoderne in den Verdacht der Lächerlichkeit gerückt und im Gegenwartsroman quasi nicht mehr zu finden ist – er kehrt nun als arroganter Sporenchor zurück und verkündet den Menschen die ultimative narzisstische Kränkung.
Nicht mehr Herr im eigenen Haus, das war noch zu Zeiten Freuds das Problem. Nun sind sie nicht mehr Herrinnen auf dem eigenen Planeten – und haben das noch nicht mal mitgekriegt.
Die beiden menschlichen Hauptfiguren des Buches haben dann auch in der Tat herzlich wenig König-der-Schöpfung-Haftes an sich.
Da ist Nora, die Influencerin, die ihren vier Millionen Followern entsagt und scheinbar einer naiven Aussteigersehnsucht frönt. In Wirklichkeit macht sie bereits gemeinsame Sache mit den Pilzen, ohne zu merken, wer hier Drehbuch führt. Und da ist Andreu, mit dem Nora noch eine Rechnung offen hat, weil er schon seit Monaten «followen» mit «stalken» verwechselt, und der im Grunde in allem das deprimierende Gegenbild zu seinem Fast-Namensvetter Atréju aus Michael Endes «Unendlicher Geschichte» ist.
Das Faszinosum des Romans geht aber ohnehin nicht von den menschlichen Akteurinnen aus, sondern von der suggestiven Kraft der Erzählerstimme, die Benjamin von Wyl in der Schweizer Literaturgeschichte vielleicht schon jetzt einen Platz für eine der originellsten Erzählfiguren sichert.
Schade nur, dass der grandiose Einfall am Ende nur teilweise trägt – und dem Autor zwei grössere erzähltechnische Schwierigkeiten einbrockt.
Zum einen: Wenn es zum Reiz dieses fiktionalen Spiels gehört, dass die Pilze hier an der Weltherrschaft arbeiten, dann sollte besser nicht allzu deutlich werden, dass in einem Roman in Wirklichkeit der Autor immer noch Alleinherrscher ist. Schwächer wird es deshalb immer dann, wenn man den Autor seinen Pilzen förmlich einflüstern sieht, was sie an aktueller Gesellschaftskritik und an Gegenwartsanspielungen auf keinen Fall vergessen dürfen: die (leider eher breitpinselige) Kritik am Globalen Norden und an «Datenfresserfirmen» zum Beispiel. Oder reichlich Pandemiekontext, der mehr die Entstehungszeit des Romans verrät, als dass es für die Erzählung zwingend wäre. Von Wyl, up to date in x aktuellen Debatten, will stellenweise etwas mehr Gegenwart hineinpacken, als für den Roman gut ist. Und vielleicht führt manchmal auch das politische Bekenntnis des realen Autors zu sehr den Pilzen das Wort.
Zum anderen: Wenn show, don’t tell noch gilt, also die alte Erzählregel Nummer 1, wonach das Entscheidende nicht benannt, sondern in Szenen und Bildern gezeigt werden soll, dann hat der Autor ein Telling-Problem in seine Grundstruktur eingebaut.
Weil das Pilz-Wir zwar die menschlichen Handlungen beobachtet, kommentiert und steuert, aber nicht in eine direkte Interaktion mit den Menschen tritt, stehen von Wyl keine klassischen Szenen zur Verfügung, aus denen der zentrale Akteur, der Pilz, zu charakterisieren wäre. Die Macht und die Beschaffenheit der Pilze lassen sich nur anhand ihrer Wirkung auf die Menschen fassen – doch hat von Wyl seinen Pilz so eitel und geschwätzig gemacht, dass er permanent alles erklärt und benennt. Das Faszinosum dieser anfangs erratischen, dann schon bald überdeutlich konturierten Erzählinstanz wäre noch ungleich grösser geworden, hätte der Autor konsequenter auf Lücken, Rätsel, Leerstellen gesetzt, die erst von der Leserin zu (er)schliessen sind – oder offenbleiben. So ist dieser Pilz in seinem Drang auf die Bühne der Selbstdarstellung vielleicht etwas zu menschenhaft geraten.
Dennoch: Die Kraft dieses Romans liegt im provokanten Belehrungssound der Pilze und im Kontrast zwischen ihrem allverschmelzenden Wir-Verständnis und den leeren, substanzlos gewordenen Wir-Begriffen der Menschen, wie sie Nora in ihrem Bullshit-Sprech hochzuhalten versucht.
Literarisch die drängenden Fragen der Gegenwart zu bearbeiten, bedeutet immer auch, sich im vollen Risiko des Scheiterns an diesen Fragen abzuarbeiten – und das Problem dadurch oft erst klarer sichtbar zu machen.
Das letzte Wort haben die Pilze:
Alle Versprechen nach einem höheren Sinn, der über dem Einzeligen stehen soll, entpuppten sich als Erzählungen, die einfach ein anderes zum Zentrum von vielen machten. Es fehlt einzeligen Menschen an Verknüpfungen, es fehlte ihnen an gemeinsamem Fühlen, an Erspüren, wie sie mit anderen wechselwirken.
Martina Clavadetscher: «Vor aller Augen». Unionsverlag, Zürich 2022. 240 Seiten, ca. 32 Franken.
Kim de l’Horizon: «Blutbuch». Roman. Dumont, Köln 2022. 336 Seiten, ca. 34 Franken.
Benjamin von Wyl: «In einer einzigen Welt». Roman. lectorbooks, Zürich 2022. 208 Seiten, ca. 30 Franken.