Repräsentantinnen der Schweizer Gegenwarts­literatur: Benjamin von Wyl, Kim de l’Horizon und Martina Clavadetscher.

Diese komplexe Wirklichkeit

Namenlos gemachte Frauen, queere Lebens­welten, der Mensch im Zeitalter der Klima­krise: Drei bemerkenswerte Neu­erscheinungen der Schweizer Literatur verhandeln grosse Themen der Gegenwart.

Von Daniel Graf (Text) und Flavio Leone (Bild), 21.09.2022

Synthetische Stimme
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1: Wie Schuppen von aller Augen (Martina Clavadetscher)

Kennen Sie Walburga Neuzil? Cecilia Gallerani? Valentine Godé-Darel aus Vevey?

Ziemlich wahrscheinlich ist, dass Sie zumindest Bilder von diesen Frauen kennen, denn sie wurden von den berühmtesten Malern der Kunst­geschichte porträtiert und sind seit Jahrzehnten oder Jahr­hunderten in Museen, Katalogen und unzähligen Reproduktionen zu sehen.

Millionen kennen ihre Gesichter und Körper; ihren Namen und ihre Geschichte: fast niemand. Und dass einige von ihnen nicht nur Modell oder Muse, sondern selbst künstlerisch tätig waren? Wissen gerade mal die happy few.

Als Martina Clavadetscher, Gewinnerin des Schweizer Buch­preises 2021, im Rahmen einer Auftrags­arbeit über Egon Schieles «Auf dem Rücken liegende Frau» schrieb, gab sie nicht dem berühmten Maler, sondern seinem einstigen Modell eine literarische Stimme:

Wenn eine Frau auf dem Rücken liegt, braucht sie
keinen Namen mehr.
Und ausgerechnet darin war ich gut.

Aus: Martina Clavadetscher, «Vor aller Augen».

Aus dem historischen Abstand von über hundert Jahren macht Clava­detscher in einer fiktionalen Erzählung die «Liegende» zur Sprechenden. Und sie gibt ihr ein paar Schluss­zeilen mit, in denen sich die ganze männer­lastige Schief­lage der kunst­historischen Überlieferung und die Vereinnahmungs­logik des Genie­kults verdichten:

Da liegt mein Alles – auf meinem Rücken.
ICH bin das. WALDBURGA NEUZIL!
Aber darunter steht sein Name.

«Vor aller Augen» heisst das neue Buch von Martina Clavadetscher, und seine Grund­idee ist derart schlagend, dass man sich fragt, wieso es genau das in der Gegenwarts­literatur nicht schon längst gibt. Nicht nur Walburga Neuzil (bei Clavadetscher: «Waldburga») erweckt die Autorin darin literarisch zum Leben, sondern 19 Frauen, die für bekannte und weltberühmte Gemälde von der Renaissance bis ins 20. Jahrhundert das reale Vorbild waren – und die heute weitest­gehend «vergessen» sind, wie es so unschön heisst.

Denn «vergessen», darauf hat die Autorin Nicole Seifert im Kontext der Literatur aufmerksam gemacht, ist meist nur ein Euphemismus dafür, dass Namen von Frauen getilgt, ihre Lebens­geschichten als irrelevant erachtet, ihre Werke ignoriert worden sind.

Ihnen gibt Martina Clavadetscher nun ihren Namen und ihre Geschichte zurück. Und nicht zuletzt: Sie verleiht ihnen eine Stimme. So sind 19 literarische Ich-Erzählungen entstanden: fiktionale Werke, aber geschrieben auf Grund­lage umfangreicher Recherchen in Brief­wechseln, Tage­büchern, Fach­literatur. Wie in einem Ausstellungs­katalog versammelt «Vor aller Augen» die Bilder und stellt ihnen jeweils einen Text gegenüber – doch sprechen hier nicht die Kunst­historiker, sondern die Porträtierten.

Und so trifft man in Clavadetschers Galerie etwa auf Margherita Luti, Raffaels heimliche Lebens­liebe, die er als «La Fornarina» («die kleine Bäckerin») mit einem hauch­dünnen, symbolischen Ehering porträtierte, den schon die Zeit­genossen nicht sehen wollten. (Danach deckte ihn im Laufe der Jahr­hunderte auch noch eine Patina zu, bis ihn eine Bild­reinigung wieder ans Tages­licht brachte.)

  • Oder Cecilia Gallerani, die Mailänder Dichterin, die die Nachwelt nur als Leonardo da Vincis «Dame mit dem Hermelin» kennt.

  • Dagny Juel, Edvard Munchs «Madonna», deren literarisches Werk vor kurzem auch für deutsch­sprachige Leserinnen wieder­entdeckt wurde.

  • Maria Vermeer, die nicht nur die Tochter von Jan Vermeer und womöglich Vorbild für das «Mädchen mit dem Perlen­ohrring» war, sondern selbst eine begnadete Malerin, deren Name hinter dem des Vaters zurück­stehen musste.

  • Valentine Godé-Darel, die sterbens­kranke Geliebte von Ferdinand Hodler, die dieser, übrigens mit Namens­nennung im Bildtitel, noch auf dem Kranken­bett porträtiert hat und die Martina Clavadetscher bitter rekapitulieren lässt:

Mich hast du längst ausgelassen. Es ist der Prozess, der dich interessiert. Die Verwandlung. Der Verfall. Alles andere ist dir zu feinstofflich. Mein wahres Ich kannst du nicht malen.

Clavadetschers 19 Erzählungen machen Kontinuitäten sichtbar und sind doch nirgendwo nur eine Abfolge von Variationen. Viel zu unterschiedlich sind schon die Lebens­geschichten als solche. Clavadetscher gelingt es aber auch, jeder von ihnen eine individuelle Erzähl­stimme und eine eigene Atmosphäre zu kreieren.

Mit dem Selbst­porträt von Angelika Kauffmann verändert sich auch die Grund­konstellation: Hier ist die Malende eine Frau und die Gemalte auch die Malerin – und zwar eine, die gegen gesellschaftliche Widrig­keiten schon zu Leb­zeiten für ihre Kunst verehrt wurde und bis heute zum festen Kanon gehört.

Und die identitäts­politischen Kategorien verschieben sich einmal mehr, wenn Clavadetscher Madeleine sprechen lässt, die porträtierte woman of color aus einem Gemälde von Marie-Guillemine Benoist, das im Frankreich des Jahres 1800 entstand, heute im Louvre hängt und früher das N-Wort im Titel trug.

Das Thema dieser Erzählung ist weniger der männliche Blick als vielmehr der white gaze, die Perspektive der Weissen, und die willentliche Blind­heit eines angeblich progressiv-aufgeklärten Bürgertums für den eigenen Macht­missbrauch gegenüber den Kolonisierten. «Du bist ein Meister­werk», sagt die Malerin bei Clavadetscher, als sie Madeleine, ihre Haushälterin, porträtiert. Und Clavadetscher lässt Madeleine entgegnen:

Nein,
dachte ich derweil,
ich bin die entblösste Brust der stillenden Mütter
zwischen dem Zuckerrohr, ich bin die, die wie
eine Wildkatze unter den Markt­ständen lauert,
bin die, die sich nicht bewegen darf, ausser ich
nicke, ich bin die rauen Hände, die vernarbten
Rücken, ich bin die Schmetterlings­insel, ich bin
der Kampf um die Freiheit mit Macheten und
Messern, ich bin die Rückkehr aufs Feld.

Spätestens von hier aus rückt noch eine andere, schreib­ethische Problem­stellung in den Blick. Ist das Erfinden einer Stimme, die nicht die eigene ist, eine illegitime Grenz­überschreitung?

Martina Clavadetscher wirft die Frage selbst in einem Nach­wort über die «wunderbare Anmassung der Fiktion» auf: «Es ist durchaus dreist, die Perspektive einer Frauen­figur einzunehmen, die ich aus persönlicher Erfahrung möglicher­weise nicht haben kann: ein Dienst­mädchen aus dem 17. Jahrhundert, ein Waisen­kind, eine italienische Adelige, Afro­amerikanerinnen, Frauen aus Guadeloupe, französische Frauen, Aristokratinnen, Frauen aus Tahiti, Florenz oder Harlem, Tänzerinnen, Malerinnen, Pianistinnen, Prostituierte, (...)» – die Liste ist hier nicht zu Ende. Und Clavadetscher weiss, dass die Frage an den Kern ihres Metiers rührt: «Literatur ist immer Behauptung. Literatur ist lustvolle Grenz­überschreitung. Sie erzählt die Geschichten anderer.»

Auf die Frage «Darf man das?» – mit guten Gründen eine ethische Leit­frage unserer Zeit – liesse sich also mit Martina Clavadetscher antworten: Ja, aber.

Wenn sich historische Ungerechtig­keiten über Jahrhunderte fortsetzen, läuft auch ein Einspruch dagegen Gefahr, die Kontinuitäten partiell fortzusetzen, wenn der Protest nicht problem­bewusst genug ist und mit einer kritischen Reflexion der eigenen Sprech­position einhergeht. Oder abstrakter: Die drängenden Fragen der Ästhetik sind immer auch Fragen der Ethik.

Clavadetschers feministisches Projekt gerät auch deswegen so überzeugend, weil sie für die vielfältigen und häufig verschränkten Formen von Diskriminierung und Macht­strukturen ein Sensorium hat. Weil sie den Figuren und ihrer Geschichte mit grossem Respekt begegnet. Und weil der Blick auf das historisch Repräsentative in diesen Erzählungen mit dem Bemühen um das Individuelle einer Lebens­geschichte verknüpft und in einen je neuen, spezifischen Ton übersetzt ist.

Natürlich: Nicht jede der 19 Erzählungen ist gleich stark. Vereinzelt misslingt auch einer Könnerin wie Clavadetscher ein Dialog, gerät eine Paris-Schilderung zu klischee­haft oder verrutscht eine Metapher («Da schlummerte ein Sprengsatz in mir, und ich wusste, dass Stach diese Waffe entfesselt hatte»). Insgesamt aber führt Clavadetscher mit grosser erzählerischer Kraft die groben und die feinen Mechanismen der Misogynie vor Augen und stellt ihnen ebenso eindrucksvoll die unter­schiedlichsten Formen der Rebellion entgegen.

Die beiden Damen aus Gustave Courbets «Le Sommeil» lässt Clavadetscher übrigens in Versen sprechen:

(...) wir hören euch
Herzschlag und Atem ihr
kriecht über Lippen
schleicht über Wangen
euer Spielfeld ist unsere Haut.

Wie sie heissen? Was ihre Geschichte ist?

Die Antwort: «Vor aller Augen», Seite 123 ff. Sie führt auch zum Ursprung der Welt.

2: Queering the Familien­roman (Kim de l’Horizon)

Um Ursprünge, um Herkunft geht es auch bei Kim de l’Horizon. Nur eben ein wenig anders als im klassischen Familien­roman.

Brief an die Grossmutter:

... ich tigere vor den Gyms auf und ab, die Grindr-App ist meine bleiche Fackel in der Nacht der Agglomeration, sie weist mir den Weg zu den Männern, die ich suche, die ich brauche, die ich mich brauchen lasse, von denen ich mir hinter dem Fahrrad­häuschen den Rock hochschieben lasse und die ich sich in mich hinein­schieben lasse, schnell und gefühllos, ich habe ja genug Gefühle, ich brauche nicht noch mehr davon, ich brauche endlich mal einen harten cut von ihnen.

Wenn Kim, das Ich dieses furiosen Debüts, sich in einem endlosen Schreiben an die verstorbene «Grossmeer» wendet (die so heisst, weil die Berner Familie seit jeher ihre Mundart­wörter auch aus dem Französischen entlehnt), dann ist es, als stünde in jedem Moment beider Leben auf dem Spiel. Und das von «Meer» und «Peer» gleich mit.

In diesem von queerer Lebens­wirklichkeit unterspülten Familien­roman verflüssigen sich die festgeglaubten Identitäten. Gerade deshalb geht es in jedem Moment ums Ganze. «Blutbuch» heisst dieser Roman nicht umsonst.

Abgezweigt ist das Titel­wort von der Blutbuche aus dem Familien­garten, die mit ihrem freien Wachstum für Kim schon in Kinder­jahren ein Gegenbild zum Stamm­baum bildet. Und die ganze hybride, barock überladene Bildlichkeit des Buches, in dem alles zum Symbol gerinnt, steckt schon in diesem Titelwort: das Feste und das Flüssige, das Starre und das Bewegliche, das Ineinander von Natur und Kultur und die menschliche Konstruktion vom angeblich «Natürlichen».

Es ist ein Buch der Verzweigungen und Vernarbungen, der Einkerbungen in Körper und Seele. Und es ist typisch für seine über weite Assoziations­bögen gespannte Metaphorik, dass das Thema der Körper­negativität, das den Band ebenfalls durchzieht, seinen Ausgangs­punkt ausgerechnet an den «seitlichen Schwellungen» von Grossmutters Füssen nimmt, «die sie seufzend Hallux nannte»:

Ich hatte immer Angst, dass dort ein weiterer Zeh aus der Haut schlüpfen will. Ich lernte an Gross­meers Füssen, dass Körper­teile Wesen sind, die gegen einen arbeiten, die nicht dasselbe sind wie mensch selbst, die ein anderes Geschlecht haben, eine andere Spezies sein können.

Weite Bögen durchmessen die Sätze dieses Buches auch rhythmisch. Man muss es sich nicht vor Augen führen, sondern zu Gehör bringen, wie fein de l’Horizon zwischen den einzelnen Satz­gliedern moduliert: von einem hintersinnig-ironischen Ton in melancholische Einfärbungen hinein, auf das Satz­ende und eine vermeintliche Ankunft zu, die schon eine kommende neue Heimat­losigkeit erahnen lässt.

(...) ich bin einmal volljährig geworden und in die grösste Stadt meines Landes gezogen, und damals gab es ja nur zwei Geschlechter, also meinen Körper gab es damals noch gar nicht, und so stürzte ich mich eben neonfarbenen Schuhes in die Schwulen­kultur rein, wo mein Körper – dachte ich – am ehesten ins Dasein kommen könnte.

Es geht durch fünf Kapitel wie durch fünf grosse, vielfach verwinkelte Erinnerungs­labore. Mit allen verfügbaren Mitteln der Sprache werden nicht nur frühere Ich-Versionen, sondern vergangene und allzu gegenwärtige Atmosphären beschworen:

  • das Grund­gefühl von Angst und Bedrohung, das das Kind sich im «Verschwindungs­zauber» üben lässt;

  • der frühe Entscheidungs­zwang: «Bub oder Meitschi?» (Das Kind «schaut die anderen Kinder an. Die meisten haben sich schon entschieden.»);

  • die kindliche Scham vor dem Anders­sein; Jahre später die Aufstiegs­scham des einstigen Arbeiter­kindes;

  • die Erfahrung nackter, transphober Gewalt.

Das literarisch Radikale von de l’Horizons «Blutbuch» aber besteht in seinen Bruch­stellen. Darin, dass dieser Text im Extrem­fall auch gegen die eigene Erzähl­stimme arbeitet.

Die biografische und erzähl­technische Such­bewegung kulminiert in dem permanent auf sprachliche Extrem­spannung getrimmten Mittel­teil des Buches. Hier findet auch Kims non-binäre Selbst­identifikation ihren unmissverständlichsten Ausdruck:

Und ich war ja auch tatsächlich nie schwul, weil Schwulsein geht ja nur, wenn mensch daran glaubt, dass es zwei Geschlechter gibt und dass mensch auf dasselbe Geschlecht steht; und dieses Schauer­märchen von bloss zwei Geschlechtern, von zwei unschmelzbaren Gletschern, die genau das Gegenteil voneinander seien, das erzähle ich nicht weiter.

Bei dieser Selbst­verortung aber bleibt es nicht. Vielmehr bricht Kim hier einen neuen, heftigen Familien­streit vom Zaun: mit einem Teil der einstigen Wahl­verwandtschaft – und mit dem eigenen, noch gar nicht so alten Ich. In der Gay-Community von Kims urbaner Szene seien doch in Wirklichkeit nur die «Träume von einer Über­männlichkeit» zelebriert worden, «die es drüben, im Zentrum der Hetero­gesellschaft Ende der Nuller­jahre, noch nicht gab». Und dann:

Der hochkuratierte Muskel­körper war lange Zeit Schwuchtel­sache und kroch erst um 2010 aus dem Gayporn ins Zentrum. Ich war Teil dieser Subkultur, die keine Subversion war, die keine Frauen und nichts Weibliches duldete.

Das muss man erst einmal sacken lassen.

Die Erzähl­stimme formuliert hier eine Fundamental­kritik an virilen Männlichkeits­konzepten und an misogynen Strukturen, die sie auch in Teilen der Schwulen­szene am Werk sieht. Sie vollzieht dabei nicht zuletzt auch eine Selbst­anklage. Aber diese schonungslose, in ihren Grund­gedanken luzide Männlichkeits­kritik kommt eben im Breitbeiner-Sound daher. Sie wird in einer testosteron­strotzenden Halbstarken­sprache vorgebracht, die gar nicht oft genug «Arsch» und «Schwanz» sagen kann und sich derart in eine seitenlange verbale Selbst­eskalation begibt, dass sie sich nur noch durch den Kontext von der Sprache des Ressentiments unterscheidet. «… ich wollte so eine zu Tode ästhetisierte Dolce-Gabbana-Tom-of-Finland-Schwuchtel sein» – geht das noch als reclaiming durch?

Spätestens hier wird wichtig, dass dieser Familien- und Bildungs­roman immer auch (und vielleicht vor allem) ein Künstler­roman ist – und Kapitel 3 der Punkt, an dem dieses schreibende, nach einem literarischen Ausdruck suchende Ich gewisser­massen die Pubertät durchläuft. Es ist der Moment, in dem Kim auf dem Weg zu einem gereiften künstlerischen Selbst­verständnis in die eigenen – auch sprach­ästhetischen – Abgründe blickt und die eigenen Affinitäten zu einem grenz­verletzenden Kraftmeier­sprech erkennt, der mit dem Amoralischen flirtet.

Schuld­bewusste Faszination («Und ich weiss, (...) es ist eine zynische, aufgekratzte Erzähl­stimme») ist hier untrennbar verknüpft mit Scham, die als der eigentliche Motor der Tirade von oben erkennbar wird. Und zum Künstler­roman wird der Text auch dadurch, dass er diese Momente der (schmachvollen) Selbst­erkenntnis schonungslos ausstellt: als Durchgangs­stationen einer künstlerischen Selbst­verständigung.

Das allein wäre schon Diskussions­stoff genug zu diesem bereits preisgekrönten Debüt, das nun auch als einziger Schweizer Titel auf der Shortlist zum Deutschen Buchpreis steht.

Aber an «Blutbuch» lässt sich stellvertretend auch ein grundsätzliches Problem der aktuellen Ich-Literatur zeigen: die Neigung zum weltanschaulichen Besinnungs­aufsatz.

Die auto­fiktionale Prosa der Gegenwart bezieht ihre besondere Kraft aus einem kunstvoll inszenierten Authentizitäts­versprechen, in dem ein scheinbar unmittelbar der Realität entnommenes Geschehen reflexiv überformt wird. Die reale Autorin steht dabei nicht nur für die Glaubwürdigkeit der literarisch sublimierten Erfahrung ein; die urpersönliche Ich-Erzählung repräsentiert auch eine erfahrungs­gesättigte Position in einem aktuellen Debatten­umfeld.

Der autofiktionale Roman ist immer auch personalisierte Diskurs­literatur und übersetzt widerstreitende Sichtweisen in Figuren­konstellationen. Meist speisen die Ich-Erzähler-Stimmen dann auch eine Fülle von Material in Form von Theorie­texten und Zitaten in die eigenen Erkundungen mit ein.

Heikel wird es für das Erzählen deshalb immer dann, wenn hinter dem erzählenden Ich die anderen Figuren ganz verschwinden und die Selbst­verständigung der Erzähl­figur im Grunde nur noch Referate fixer Positionen sind. Dann wird aus dem Erzählen ein Dozieren – und im schlimmsten Fall ein Katechismus.

Es gibt Passagen im «Blutbuch», wo eine solche Verengung des Horizonts auf ein Welt­anschauungs­credo droht. Etwa als seiten­lang ein längst vergessener Blutbuchen­forscher als Papiertiger herhalten muss, um mit grosser Verve erledigt werden zu können. Erzählerisch leistet das nichts – eher verläuft sich die Erzähl­instanz in den Labyrinthen der eigenen Recherchen und selbstreflexiven Endlos­schleifen.

Doch es gehört zu den Stärken dieses Romans, dass er auch aus den meta­fiktionalen Sack­gassen wieder herausfindet. Weil das Ich sich wieder den anderen Figuren zuwendet und sich damit selbst aus der endlosen Selbst­spiegelung befreit. Noch einmal geht es tief in die Familien­geschichte – und die Erzählung von «Grossmeer» weitet sich zu einem berührenden Demenz­roman.

In dem auf Englisch formulierten Schluss­teil steht dann eines der ehrlichsten und tiefgründigsten Bekenntnisse der gegenwärtigen Autofiktions­literatur. Warum das auto­biografische Schreiben über die eigenen familiären und persönlichen Traumata? «It’s the most efficient way for me to climb up the ladder.» Und dann: «Am I horrible? I guess.»

Auch und gerade die Schrift­stellerei ist ein gigantischer Aufmerksamkeits- und Distinktions­wettbewerb. Der Wille, die Erfolgs­leiter empor­zusteigen, schliesst das Schreiben aus grosser innerer Dringlichkeit nicht aus.

3: Welt ohne Mensch, oder: Der Pilz spricht (Benjamin von Wyl)

Ein knappes Jahr ist es her, dass Bernd Ulrich in der «Zeit» fragte, warum zur Hölle die zeitgenössische Literatur so wenig von der Klima­katastrophe handle (und andere sich fragten, wo Ulrich seine Leser­augen hatte). Diesen Herbst nun sind die Klima­romane in den Programmen der deutsch­sprachigen und internationalen Literatur derart präsent, dass auch Ulrich sie kaum übersehen wird.

Für all diese Bücher stellen sich nun immer dringlicher die Grundsatz­fragen heutiger climate fiction: Wie soll man von der Klima­krise erzählen, wenn die Dauer­präsenz des Themas längst Abwehr­verhalten, Ignoranz und Welt­flucht auslöst? Wenn Aber­tausende Texte und Appelle auch bisher kaum etwas am selbst­zerstörerischen Weg der Mensch­heit geändert haben? Was hat die Literatur beizutragen, wenn ihre Utopien unglaubwürdig scheinen und ihr altes Erfolgs­modell, die Apokalypse, längst Gewohnheits­effekte auslöst? Nicht zuletzt: Wie muss erzählt werden, um in dieser Ausgangs­lage von medialer Dauer­präsenz und fataler Routine noch so etwas wie Wirkung zu erzielen?

Der Basler Schrift­steller und Journalist Benjamin von Wyl hat mit seinem neuen, dritten und bislang stärksten Roman für die literarische Antwort auf solche Fragen schon einmal ein entscheidendes Plus: Er überrascht.

Bei von Wyl spricht kein Erzähler-Ich, sondern ein Wir. Und dieses Wir ist: ein Pilz.

Der Mensch, so lautet eine der Pointen dieser gegenwarts­nahen Zukunfts­vision, hat seinen Krone-der-Schöpfung-Posten längst verloren.

Bevor allerdings das Missverständnis aufkommt: «In einer einzigen Welt» ist im Grunde gar kein Klima­roman. Extremwetter­katastrophen, ja nur schon das Wort Klima, tauchen darin gar nicht auf. Es ist aber ein Öko­roman im engen Sinn des Wortes: ein Text über das Verhältnis von Mensch und Umwelt. Und dass der Mensch in dieser Disziplin eher mies abschneidet, denkt nicht nur der Pilz.

Benjamin von Wyls Grund­frage ist dieselbe, die derzeit Denker wie Dipesh Chakrabarty, Bruno Latour oder Timothy Morton umtreibt: Kann der spät­kapitalistische Mensch noch ein Verhältnis solidarischer Verbundenheit zur Natur aufbauen oder bleibt diese Relation eine der Ausbeutung und Zerstörung? Oder philosophischer: Kann der Mensch sich noch als Teil eines Wir denken, das über den Menschen hinaus­reicht?

Der Pilz bei Benjamin von Wyl, dieses Riesen­myzel und ominöse Erzähler-Wir, hat da eine ziemlich klare Position: «Einzelige» oder «Solo­existenzen» nennt die Erzähl­stimme die Menschen, weil sie in ihrem Hyper­individualismus zu einer echten Vernetzung mit der Natur und miteinander doch gar nicht in der Lage seien:

Wir erleben die Solo­existenzen immer wieder so: ergriffen von der Natur, aber nicht bereit, sich einzulassen. Mit einer Ahnung davon, dass die Bäume, die Chitin­protein­beine, die Pilzmembranen, die Bärlauch­blüten miteinander verbunden sind, aber ohne Idee, wie sie selbst in dieses Netz eingehen könnten. Den Gedanken, Teil von allem zu sein, kennen die Solo­existenzen natürlich alle, aber nur als Fabel. Lieber besinnen sie sich aufs Individumm.

«Individumm»? Von Wyls Pilz­ensemble wird vielleicht nicht Kalauer­könig, ist aber längst auf dem Weg zum neuen Herrscher der Welt, weil die riesige Symbiose aus Sporen und vernetzten Zellen den «Solo­existenzen» bereits den Rang abläuft.

Und die Menschen? Müssen jetzt auf die härtest­mögliche Weise lernen.

Weil sie selbst sich mit der Natur nicht vernetzt haben, werden sie nun vernetzt, will heissen: in die Pilz­kultur eingespeist. Das Wir, das hier spricht, hat bereits begonnen, das menschliche Bewusst­sein zu hacken und für die eigene evolutionäre Aufrüstung zu nutzen – «Matrix» trifft auf «Die geheimnisvolle Welt der Pilze».

Und so spricht das unsichtbare, aber im wahrsten Sinne weltumspannende Erzähler-Wir des Romans aus einer süffisanten, ironisch-herablassenden Haltung über die Menschen und liest ihnen die Leviten zum Thema Gemeinschaft, Symbiose, Wir-Existenz.

Es ist die vielleicht schönste Pointe dieses Buches: Der olympische Erzähler aus dem klassischen Roman, der aus einer Position der Überlegenheit spricht und mit gigantischem Wissens­vorsprung auf seine Figuren herabblickt, der Erzähler also, der spätestens mit der Post­moderne in den Verdacht der Lächerlichkeit gerückt und im Gegenwarts­roman quasi nicht mehr zu finden ist – er kehrt nun als arroganter Sporen­chor zurück und verkündet den Menschen die ultimative narzisstische Kränkung.

Nicht mehr Herr im eigenen Haus, das war noch zu Zeiten Freuds das Problem. Nun sind sie nicht mehr Herrinnen auf dem eigenen Planeten – und haben das noch nicht mal mitgekriegt.

Die beiden menschlichen Haupt­figuren des Buches haben dann auch in der Tat herzlich wenig König-der-Schöpfung-Haftes an sich.

Da ist Nora, die Influencerin, die ihren vier Millionen Followern entsagt und scheinbar einer naiven Aussteiger­sehnsucht frönt. In Wirklichkeit macht sie bereits gemeinsame Sache mit den Pilzen, ohne zu merken, wer hier Drehbuch führt. Und da ist Andreu, mit dem Nora noch eine Rechnung offen hat, weil er schon seit Monaten «followen» mit «stalken» verwechselt, und der im Grunde in allem das deprimierende Gegen­bild zu seinem Fast-Namens­vetter Atréju aus Michael Endes «Unendlicher Geschichte» ist.

Das Faszinosum des Romans geht aber ohnehin nicht von den menschlichen Akteurinnen aus, sondern von der suggestiven Kraft der Erzähler­stimme, die Benjamin von Wyl in der Schweizer Literatur­geschichte vielleicht schon jetzt einen Platz für eine der originellsten Erzähl­figuren sichert.

Schade nur, dass der grandiose Einfall am Ende nur teilweise trägt – und dem Autor zwei grössere erzähl­technische Schwierig­keiten einbrockt.

Zum einen: Wenn es zum Reiz dieses fiktionalen Spiels gehört, dass die Pilze hier an der Welt­herrschaft arbeiten, dann sollte besser nicht allzu deutlich werden, dass in einem Roman in Wirklichkeit der Autor immer noch Allein­herrscher ist. Schwächer wird es deshalb immer dann, wenn man den Autor seinen Pilzen förmlich einflüstern sieht, was sie an aktueller Gesellschafts­kritik und an Gegenwarts­anspielungen auf keinen Fall vergessen dürfen: die (leider eher breitpinselige) Kritik am Globalen Norden und an «Datenfresser­firmen» zum Beispiel. Oder reichlich Pandemie­kontext, der mehr die Entstehungs­zeit des Romans verrät, als dass es für die Erzählung zwingend wäre. Von Wyl, up to date in x aktuellen Debatten, will stellen­weise etwas mehr Gegenwart hinein­packen, als für den Roman gut ist. Und vielleicht führt manchmal auch das politische Bekenntnis des realen Autors zu sehr den Pilzen das Wort.

Zum anderen: Wenn show, don’t tell noch gilt, also die alte Erzähl­regel Nummer 1, wonach das Entscheidende nicht benannt, sondern in Szenen und Bildern gezeigt werden soll, dann hat der Autor ein Telling-Problem in seine Grund­struktur eingebaut.

Weil das Pilz-Wir zwar die menschlichen Handlungen beobachtet, kommentiert und steuert, aber nicht in eine direkte Inter­aktion mit den Menschen tritt, stehen von Wyl keine klassischen Szenen zur Verfügung, aus denen der zentrale Akteur, der Pilz, zu charakterisieren wäre. Die Macht und die Beschaffenheit der Pilze lassen sich nur anhand ihrer Wirkung auf die Menschen fassen – doch hat von Wyl seinen Pilz so eitel und geschwätzig gemacht, dass er permanent alles erklärt und benennt. Das Faszinosum dieser anfangs erratischen, dann schon bald überdeutlich konturierten Erzähl­instanz wäre noch ungleich grösser geworden, hätte der Autor konsequenter auf Lücken, Rätsel, Leerstellen gesetzt, die erst von der Leserin zu (er)schliessen sind – oder offen­bleiben. So ist dieser Pilz in seinem Drang auf die Bühne der Selbst­darstellung vielleicht etwas zu menschenhaft geraten.

Dennoch: Die Kraft dieses Romans liegt im provokanten Belehrungs­sound der Pilze und im Kontrast zwischen ihrem allverschmelzenden Wir-Verständnis und den leeren, substanzlos gewordenen Wir-Begriffen der Menschen, wie sie Nora in ihrem Bullshit-Sprech hoch­zuhalten versucht.

Literarisch die drängenden Fragen der Gegen­wart zu bearbeiten, bedeutet immer auch, sich im vollen Risiko des Scheiterns an diesen Fragen abzuarbeiten – und das Problem dadurch oft erst klarer sichtbar zu machen.

Das letzte Wort haben die Pilze:

Alle Versprechen nach einem höheren Sinn, der über dem Einzeligen stehen soll, entpuppten sich als Erzählungen, die einfach ein anderes zum Zentrum von vielen machten. Es fehlt einzeligen Menschen an Verknüpfungen, es fehlte ihnen an gemeinsamem Fühlen, an Erspüren, wie sie mit anderen wechselwirken.

Zu den Büchern

Martina Clavadetscher: «Vor aller Augen». Unionsverlag, Zürich 2022. 240 Seiten, ca. 32 Franken.

Kim de l’Horizon: «Blutbuch». Roman. Dumont, Köln 2022. 336 Seiten, ca. 34 Franken.

Benjamin von Wyl: «In einer einzigen Welt». Roman. lectorbooks, Zürich 2022. 208 Seiten, ca. 30 Franken.