Apokalypse und Empathie
Und es gibt sie doch, die Klimakrise in der Literatur: Drei aktuelle Romane erzählen von den Ängsten und Hoffnungen der Gegenwart angesichts der Zukunft.
Von Christine Lötscher, 22.01.2022
Warum gibt es fast keine Romane, die von der ökologischen Katastrophe handeln, die uns widerfährt und die wir sind, die sich bislang ungebremst entfaltet und so oder so das Leben der Menschen zutiefst verändern wird, nein: schon lange verändert?
Unter dem Titel «Warum, zur Hölle?» prangerte Bernd Ulrich, stellvertretender Chefredakteur der «Zeit» und Klimaexperte, vor einigen Wochen das fehlende Interesse der Gegenwartsliteratur an der Klimakrise an. Anstatt sich immer und immer wieder mit der Vergangenheit zu beschäftigen, sollten sich Autorinnen mit so viel imaginativer Energie wie Eva Menasse doch der prekären Gegenwart mit ihren Zukunftsaussichten annehmen.
Ulrich warf die Frage auf, ob «die immer neue Beschäftigung mit der verdrängten Vergangenheit – unbeabsichtigt – der Verdrängung von Zukünftigem dienen» sollte. Zu viel Zukunft sollte es dann aber doch nicht sein, denn den gesamten Bereich der Climate-Fiction, wie die Literatur der Klimakrise seit einiger Zeit genannt wird, wollte er explizit ausklammern: Romane nämlich, so Ulrich, in deren Zentrum explizit die globale Erwärmung, das Schmelzen von Gletschern und Polkappen oder das Schwinden der Artenvielfalt stünden, erzählten von einer katastrophischen Zukunft, nicht aber davon, wie diese die Gegenwart beeinflusse. Deshalb sei die aktuelle Klimakrise immer noch eine Leerstelle in der Literatur.
Nun ja. Bernd Ulrichs Artikel löste jedenfalls nicht gerade die heisseste Debatte aus, aber einigen Widerspruch.
Die meisten Entgegnungen betonten, dass Autoren bitteschön schreiben dürften, worüber sie wollen, dass Literatur keine pädagogische Institution sei und dass die Klimakrise so sicher und flächendeckend in der Literatur Einzug halten werde wie der in den Neunzigerjahren in Deutschland ebenso dringend geforderte Wenderoman, der Mauerfall und Wiedervereinigung verarbeiten sollte. Literatur, konterte Adam Soboczynski, Feuilletonchef der «Zeit», funktioniere nun einmal nicht so eindimensional.
Die beiden wichtigsten Argumente gegen Ulrichs Diagnose bekamen weniger Raum in der Debatte – vermutlich weil sie recht offensichtlich sind.
Zum einen: Die Romane, die direkt und unmissverständlich von der Unruhe und Verstörung in einer prekären, bedrohten Gegenwart erzählen, sind längst da. Jenny Offill beispielsweise fängt in ihrem Roman «Wetter» die flirrende Paranoia ein, die sich im Spannungsfeld von Klimaerwärmung, Rechtspopulismus und Hass im Netz entfaltet: Plötzlich scheint alles mit allem zusammenzuhängen, und gleichzeitig verschwindet das Gefühl für eine gemeinsam geteilte Wirklichkeit.
Zum anderen: Wenn sich literarische Katastrophenszenarien mit «der Zukunft» befassen, dann geschieht das immer als Projektionsfläche für gegenwärtige Konflikte.
Die Werke bieten ein Instrumentarium, um den schwer fassbaren, latenten Prozess des Klimawandels überhaupt sichtbar und erzählbar zu machen. Sie sind Laboratorien der Gegenwartsanalyse, wie die Literaturwissenschaftlerin Eva Horn in ihrem gerade in Pandemiezeiten wieder sehr lesenswerten Buch «Zukunft als Katastrophe» schreibt. Auch wenn die Katastrophe bereits stattgefunden hat und die Infrastrukturen zusammengebrochen sind, geht es stets um die Gegenwart. Zur Klimakatastrophe hält Horn fest:
Gerade dass es kein Ereignis mehr gibt, ist die Katastrophe. Die Kontinuität selbst, die Tatsache, dass sich die Gegenwart immer weiter in die Zukunft hinein entrollt, dass sie sich fortsetzt und bestenfalls unaufhaltsam steigert – gerade das ist das Schreckliche.
Auf beide Punkte hat vor allem die Literatur- und Kulturwissenschaftlerin Solvejg Nitzke in einer Antwort auf Ulrichs Beitrag hingewiesen. Sie nennt einen kleinen Kanon von Romanen, die genau das tun, was Ulrich einfordert, und die alle schon mindestens zehn Jahre alt sind: Ian McEwans «Solar» (2010), Ilija Trojanows «EisTau» (2011), Barbara Kingsolvers «Flight Behaviour» (2012) und Jonathan Franzens «Freedom» (2010): «Diese vier Romane konfrontieren Individuen mit bereits sichtbaren und absehbaren Folgen, die ökologische Krisen auf ihr persönliches Leben [haben,] und zeigen Wege, darauf zu reagieren.»
Die Literatur der unmittelbaren Gegenwart spinnt diesen Faden weiter. Sie stellt aber nicht die Sorgen von Klimaforscherinnen ins Zentrum; Experten für die Krise, oder genauer, fürs Weiterleben, sind in Zeiten von Fridays for Future vielmehr Kinder und Jugendliche.
Drei Beispiele – zwei davon aus den USA, eins aus der Schweiz – zeigen, dass es ganz unterschiedliche Strategien gibt, um von Möglichkeiten des Lebens unter prekären Umständen zu erzählen.
Inspiriert von Greta Thunberg: Richard Powers
Wie radikal die Katastrophe bereits in einer äusserlich intakten Gesellschaft mit bestens funktionierender Infrastruktur Einzug halten kann, zeigt Richard Powers in einem erschütternden Roman, der kürzlich in der Übersetzung von Manfred Allié und Gabriele Kempf-Allié auf Deutsch erschienen ist.
«Erstaunen» erzählt davon, wie das Artensterben und die Sorge um die Zukunft des Lebens eine Familie mit der Gewalt einer antiken Tragödie heimsucht. Die Trauer um die bei einem Verkehrsunfall ums Leben gekommene Ehefrau und Mutter ist für Vater und Sohn nicht zu trennen von dem Schmerz, den der Junge angesichts der Vernichtung ganzer Tier- und Pflanzenarten empfindet. Die Welt rundherum versteht nicht, was sich da abspielt, und eine nach der anderen versagen die Institutionen: Schule, Jugendamt, schliesslich Polizei und Justiz machen alles nur noch schlimmer.
Der Ausgangspunkt für dieses Buch sei, wie Powers in Interviews erzählt, die Faszination für Greta Thunberg und ihren leidenschaftlichen Kampf für die Rettung des Klimas gewesen.
Powers erzählt von Theo, einem alleinerziehenden Vater im permanenten Krisenmanagement. Er trauert um seine verstorbene Frau, muss seinem Sohn Robin gerecht werden, der Züge eines Asperger-Syndroms aufweist, und versucht seinen Job einigermassen auf die Reihe zu kriegen.
Anders als für die meisten Erwachsenen ist der Klimawandel für Robin nichts Abstraktes. Das Artensterben ist das, was ihn emotional am meisten beschäftigt, ihn wütend macht und ihn zwingt, etwas zu tun. Wie kann man zur Schule gehen, während die letzten Opossums verschwinden? Also beginnt Robin ein Projekt: Jede vom Aussterben bedrohte Tierart will er zeichnen, um die Bilder zugunsten von Umweltorganisationen zu verkaufen.
Powers’ Roman gehört zu den Büchern, die wehtun beim Lesen. Robins Wut ist gerade deshalb schwer zu ertragen, weil sie Fragen provoziert, die an die Grundlagen des menschlichen Selbstverständnisses rühren. Wie konnte es passieren, fragt man sich, dass unser Leben auf der Ausbeutung und Vernichtung nichtmenschlichen Lebens basiert?
Der eigenwillige Sog des Romans entfaltet sich langsam, fast beiläufig. Der Vater, den Richard Powers zum Ich-Erzähler des Romans gemacht hat, ist nicht nur Science-Fiction-Fan, sondern ein Astrobiologe, der das Leben auf Exoplaneten erforscht. Dazu braucht es Geduld und Fantasie. Erst durch seinen Sohn Robin erkennt Theo die politischen Dimensionen seiner eigenen Arbeit:
Nach unseren Massstäben würde die Entdeckung neuer Erden die kollektive Weisheit der Menschheit und ihr Einfühlungsvermögen mehren. Für die Leute des Präsidenten waren Weisheit und Empathie kollektivistische Verschwörungen, die Amerika um seinen Wohlstand bringen wollten.
Theo versucht alles, um Robin das Leben erträglicher zu machen. Zwischendurch schöpft er Hoffnung aus einer Neurofeedback-Therapie, dem Forschungsprojekt eines Kollegen. Bis dieses von der Regierung gestoppt wird.
Bei aller Kritik an einer wissenschaftsfeindlichen Politik, die sich fatal auf das Bildungswesen und auf Diversität auswirkt: Das Zauberwort des Romans ist Empathie – und zwar in einem sehr weiten Sinne. Es geht bei Powers um die Fähigkeit, die Welt durch die Augen anderer zu sehen, mit oder ohne wissenschaftliche Methoden. Und dies bedeutet zunächst einmal, diese anderen überhaupt wahrzunehmen, die uns im Alltag immer und überall begleiten, all die Würmer, Insekten und Vögel.
Im Gegensatz zu seiner verstorbenen Frau und zu Robin ist Theo kein Hobbyornithologe und hält das stundenlange Warten auf eine Bewegung in einer Hecke nicht aus. Doch Robins Sensorium für das Leben rund um ihn herum verändert auch seine Art, das menschliche In-der-Welt-Sein zu beschreiben:
Ein grösseres Kerbtier am Erdboden schlug mir seine Mandibeln in die Wade. Robin steckte die Finger in die Erde und hob mit seiner kleinen Hand zehntausend Bakterienarten auf, gepackt in dreissig Meilen Pilzfäden. Er liess die Handvoll Erde wieder zu Boden rieseln, stand auf und legte sich neben mich ins Gras. Meinen Arm nahm er als Kopfkissen. Lange Zeit schauten wir einfach nur hinauf zu den Sternen – zu all denen, die wir sahen, und der Hälfte der unsichtbaren.
Powers versetzt seine Leser mit seiner poetischen, langsamen und präzisen Sprache in einen Zustand der Anteilnahme, des titelgebenden Erstaunens. Es gelingt ihm, einen Klimaroman ohne Projektion in die Zukunft und ohne apokalyptisches Ereignis zu erzählen, weil er, geschickt und virtuos, eine andere Projektionsfläche wählt: das unschuldige Kind. So kann er mitten aus dem Chaos der Gegenwart heraus erzählen. Und das Kind zum Anwalt der nichtmenschlichen Natur machen – eine Denkfigur, in der sich der menschliche Umgang mit möglichen Zukünften artikuliert.
Robins besondere Sensibilität für die Verflochtenheit alles Lebendigen, egal ob Mensch, Tier oder Pflanze, wird zu einem utopischen Gegenentwurf zur Erwachsenenwelt, in der der instrumentelle Zugriff auf die Natur dominiert.
Eine verwandte Bewegung, angetrieben von Neugier und Leidenschaft für das Leben, gibt es auch in einem tristen, dunklen Endzeitszenario: Ähnlich wie Robin in einer bedrohten Welt seine Wahrnehmung für die Schönheit und Vielfalt alles Lebendigen trainiert, entdecken zwei jugendliche Protagonisten im Debütroman der Zürcher Astrophysikerin Simone Weinmann, «Die Erinnerung an unbekannte Städte», die Dinge, die aus der untergegangenen Zivilisation übrig geblieben sind: Bücher, tote Handys, Konservendosen. Und sie entlocken ihnen ihre Geschichten, um sie weiterzuerzählen.
Heisskalte Lektüre: Simone Weinmann
Das Schreiben über den Klimawandel und über das Verhältnis von Mensch und Natur hat sich in den letzten Jahren stark ausdifferenziert. Mindestens drei Grundmodi lassen sich unterscheiden. Da ist das dokumentarische, autoethnografische Nature Writing. Daneben Romane wie die von Richard Powers oder Jenny Offill, die die Verstörung durch die Klimakrise im Alltag greifbar machen. Und schliesslich hat die Dystopie nichts an Dringlichkeit eingebüsst: Die Gegenwart zugespitzt und verdichtet in die Zukunft zu projizieren, scheint noch immer ein attraktiver Weg zu sein, die latenten Dramen von heute erzählbar zu machen.
Ein solcher Text ist auch der Roman von Simone Weinmann.
Durchaus klassisch hat Weinmann ihre Geschichte inmitten einer erkalteten Welt situiert. Warum es zur Verdunkelung der Sonne kam, erfährt man nur nebenbei – eine Hightech-Massnahme gegen die globale Erwärmung –, es spielt auch keine Rolle mehr. Denn im Zentrum des Romans stehen zwei Jugendliche, die noch nicht geboren waren, als die gesamte Infrastruktur zusammenbrach und der grösste Teil der Menschheit erfror. Nathanael und Vanessa sitzen fest in einer Welt ohne Strom und fliessendes Wasser, ohne Internet und Transportwesen. Wer das Dorf verlassen will, muss zu Fuss gehen – doch draussen ist es gefährlich. In der postapokalyptischen Gesellschaft gibt es keine Solidarität, jeder nimmt sich, was er kann. Ein geschützter Raum entsteht im Dorf einzig in Form einer Sekte, die jede Neugier und vor allem jede Begegnung mit dem Wissen aus der alten Welt unterbindet.
In kurzen Kapiteln wechselt Weinmann die Perspektive und erzählt abwechselnd aus der Sicht von Nathanael, Vanessa und ihrem Lehrer Ludwig. Den beiden Jugendlichen wird es zu eng, also hauen sie ab. Ludwig folgt ihnen – offiziell, um sie zurückzuholen, in Wahrheit aber eher, weil er den Sektenmief nicht mehr aushält. Und die Vorwürfe, die er sich selbst macht:
Von fern spürte Ludwig wieder den alten Zorn, von dem er geglaubt hatte, ihn längst überwunden zu haben. Den Zorn auf alles, was schiefgegangen war. Er war arglos durch sein Leben gegangen, Ziele vor Augen, die damals alle für leicht erreichbar hielten, seine Lehrer, seine Eltern. (…) Doch bevor er damit überhaupt hatte anfangen können, war der Himmel schwarz geworden.
Simone Weinmann tastet sich den Gedanken und Gesprächen der Figuren entlang, beschreibt ihre Handlungen und ihre Interaktionen mit den Dingen, die übrig geblieben sind. So entsteht Raum für ein unruhiges Sirren zwischen den Zeilen. Darin artikuliert sich die radikale, ja brutale Unbestimmtheit, die ein Leben in den Ruinen mit sich bringt, und die deprimierende Last, die auf den Jugendlichen liegt, die neu anfangen sollten.
Der Traum vom Reset-Button, der, einmal gedrückt, die Menschheit an einen Neuanfang führen könnte, wird gehörig dekonstruiert in diesem Roman. Er endet zwar buchstäblich mit einem Licht am Ende des Tunnels, doch auch dieses Licht könnte bald nur noch eine Erinnerung sein. Das Ziel bleibt unbestimmt, unbekannt. «Erinnerung an unbekannte Städte» ist eine melancholische Reflexion über die Zerstörungswut, die bereits in der Gegenwart grassiert. Der gescheiterte Versuch, die Atmosphäre künstlich abzukühlen, ist nur die letzte Dummheit in einer langen Reihe.
Das Faszinierende und angenehm Irritierende an postapokalyptischen Settings, wie Weinmann es entfaltet, ist, dass es bei aller Wiederholung der genretypischen Elemente, die spätestens mit Cormac McCarthys «The Road» (2006) ikonisch geworden sind, immer neue Variationen bietet. Vor allem aber erlauben Szenarien aus der nahen Zukunft eine gewisse Distanz gegenüber den hochbrandenden Emotionen bei klimapolitischen Fragen. Die Mischung aus kühler Laborsituation und maximaler, die Leserinnen fast körperlich angreifender Spannung in der Schilderung des Überlebenskampfes der Figuren sorgt für einen produktiven Widerspruch: Man ist emotional involviert und dennoch ist da auch das intellektuelle Begreifen. Ein heisskaltes Leseerlebnis, bei dem immer auch die Bedingungen und Möglichkeiten der Literatur selbst verhandelt werden.
Und wo Weinmann einen melancholischen Grundton wählt, wendet ein anderer Autor denselben Grundgedanken Richtung Satire.
Kammerspiel der Katastrophe: Rumaan Alam
Dass die Welt, vollgestopft mit Gadgets und Konsumartikeln, schon heute so unendlich leer ist, scheint die Ausgangsdiagnose für den US-Autor Rumaan Alam und seinen Thriller «Inmitten der Nacht» zu sein. Für Alams Kammerspiel reicht ein Hauch Apokalypse: Eine vierköpfige Familie aus Brooklyn macht Urlaub auf Long Island. Das gemietete Haus mitten im Nirgendwo bietet genau den Luxus, den das Ehepaar Amanda und Clay eigentlich für standesgemäss hält, den sich die beiden aber gerade mal für eine Woche leisten können. Weisswein und Knabberzeug am Pool folgt auf Einkaufsexzesse im nahen Supermarkt, am Abend gibt es betrunkenen Sex.
Plötzlich, mitten in der Nacht, steht ein älteres, schwarzes Ehepaar vor der Tür und verlangt Einlass. Das Haus gehöre ihnen, sagen George und Ruth, die wegen eines noch unklaren Vorfalls (Stromausfall, ein Wirbelsturm) Unterschlupf suchen – in ihrem Haus, das sie Amanda und Clay vermietet hatten. Lustvoll lässt Rumaan Alam Amanda und Clay herumlavieren zwischen Eigeninteresse und dem Wunsch, auf keinen Fall rassistisch rüberzukommen.
Die vier Erwachsenen raufen sich zusammen, kochen, essen, räumen auf und versuchen immer wieder einmal, etwas in Erfahrung zu bringen über die Situation. Allerdings vergeblich.
Alam erzählt wie mit wackligen Kameras, die so nah an den einzelnen Figuren dran sind, dass jeder Überblick unmöglich scheint. Dazwischen platziert der Erzähler Einsprengsel mit Informationen über die aktuelle Lage, lauter Dinge, die Amanda und Clay, George und Ruth nicht wissen können.
So entsteht ein Kammerspiel, in dem die Ängste und die blinden Flecken der Figuren das Steuer übernehmen.
Die ganze Handlungsmacht ist wie weggeblasen, sobald die Handydisplays schwarz bleiben, Fernsehen und Internet tot sind und Konsum nicht mehr möglich. Die Figuren sind sich ihrer Bequemlichkeit durchaus bewusst, wissen aber auch ganz sicher, dass sie keine andere Option haben, als an ihren Routinen und Floskeln festzuhalten. So entstehen Momente, die zugleich komisch und verstörend sind. Etwa wenn Amanda, die gebetsmühlenartig sagt, ihre Kinder seien das Wichtigste in ihrem Leben, ihre pubertierende Tochter Rose plötzlich als Monster sieht:
Zum Essen setzten sie sich auf das Holzdeck. Alle waren nachlässig bekleidet, die Szene war ein Durcheinander aus grellbunten Handtüchern und ketchupverschmierten Papierservietten. Hamburger so gross wie Hockeypucks auf fluffigem Brot. Besonders Rose erlag dem säuerlichen Charme der Essigchips, an ihrem fettglänzenden Kinn klebten Krümel. Amanda freute sich darüber, dass Rose manchmal wieder ein kleines Mädchen war. Doch ihr Verstand war das eine, der Körper etwas anderes. Es musste an den Hormonen in der Milch, in der Nahrungskette, im Trinkwasser oder in der Luft liegen, wer wusste das schon.
Rose, das Krümelmonster, ist aber die Einzige in diesem Roman, die irgendwann entdeckt, dass es tatsächlich Alternativen zu Chips, Handy und Fernsehen gibt. Sie folgt, ganz in der Tradition von Alice im Wunderland, ihrer Neugier und verlässt Haus, Pool und Garten für eine Erkundungstour.
Gerade weil niemand weiss, welche (Umwelt-)Katastrophe über die USA, vielleicht über die ganze Welt gekommen ist, wirkt Alams Ferienhaussetting wie ein Mikroskop, unter dem die Gründe für die Handlungslähmung gegenüber der Klimakrise aufleuchten: Jeder und jede glaubt, so sehr mit dem eigenen Überleben beschäftigt zu sein – allein die Imagepflege durch Produkte und passende Sätze im passenden Moment fressen die ganze Energie auf –, dass der Gedanke an gemeinsames, solidarisches Handeln eine leere Worthülse bleiben muss.
Alle drei Romane arbeiten mit unterschiedlichen literarischen Traditionen und Genres, und alle diagnostizieren eine massive, lähmende, kollektive Überforderung. Genügend Energie für beherztes Handeln bringen nur Kinder und Jugendliche auf – und vielleicht noch die Erwachsenen, die sich für sie verantwortlich fühlen und bereit sind, Neugier und Empathie von ihnen zu lernen, anstatt sich alternativen Fakten und Mythen anzuschliessen. Es scheint, als würde die klimatische Schieflage sich direkt auf den geistigen Zustand der (erwachsenen) Figuren auswirken und ihnen die Lust aufs Weiterleben nehmen.
Und doch lassen die drei Romane ihre Leser angeregt und auf eine lebendige Art aufgewühlt zurück. Weil die Texte unterschiedliche Verfahren entwickeln, um genau hinzuschauen und Möglichkeiten für kleine Abenteuer zu entdecken, die im medialen Alltag der Klimadebatte und der Pandemieberichterstattung verschwinden. In diesem genauen Blick steckt nicht nur etwas sehr Lustvolles, sondern auch eine Form von Handlungsmacht.
Ob sich die Welt ändert, wenn wir unsere Verwandtschaft mit Opossums und Füchsen, mit Bakterien und Pilzfäden erkennen? Einen Versuch ist es auf jeden Fall wert.
Richard Powers: «Erstaunen». Aus dem amerikanischen Englisch von Manfred Allié und Gabriele Kempf-Allié. Frankfurt am Main, S. Fischer 2021. 320 Seiten, ca. 34 Franken.
Simone Weinmann: «Die Erinnerung an unbekannte Städte». München, Kunstmann 2021. 272 Seiten, ca. 34 Franken.
Rumaan Alam: «Inmitten der Nacht». Aus dem amerikanischen Englisch von Eva Bonné. München, btb 2021. 320 Seiten, ca. 31 Franken.
Christine Lötscher ist Professorin für Populäre Literaturen und Medien am Institut für Sozialanthropologie und Empirische Kulturwissenschaft der Universität Zürich sowie Literaturkritikerin. Aktuell beschäftigt sie sich unter anderem mit dem Verhältnis von Mensch und Natur in der Literatur sowie mit Coming-of-Age-Erzählungen. 2020 erschien ihr Buch «Die Alice-Maschine. Figurationen der Unruhe in der Populärkultur» im Metzler-Verlag.