Endzeitstimmung: «Mutation V» von Francesca Gabbiani. Francesca Gabbiani/Kunsthaus Zürich

Apokalypse und Empathie

Und es gibt sie doch, die Klimakrise in der Literatur: Drei aktuelle Romane erzählen von den Ängsten und Hoffnungen der Gegenwart angesichts der Zukunft.

Von Christine Lötscher, 22.01.2022

Warum gibt es fast keine Romane, die von der ökologischen Katastrophe handeln, die uns widerfährt und die wir sind, die sich bislang ungebremst entfaltet und so oder so das Leben der Menschen zutiefst verändern wird, nein: schon lange verändert?

Bernd Ulrich.

Unter dem Titel «Warum, zur Hölle?» prangerte Bernd Ulrich, stell­vertretender Chef­redakteur der «Zeit» und Klima­experte, vor einigen Wochen das fehlende Interesse der Gegenwarts­literatur an der Klima­krise an. Anstatt sich immer und immer wieder mit der Vergangenheit zu beschäftigen, sollten sich Autorinnen mit so viel imaginativer Energie wie Eva Menasse doch der prekären Gegenwart mit ihren Zukunftsaussichten annehmen.

Ulrich warf die Frage auf, ob «die immer neue Beschäftigung mit der verdrängten Vergangenheit – unbeabsichtigt – der Verdrängung von Zukünftigem dienen» sollte. Zu viel Zukunft sollte es dann aber doch nicht sein, denn den gesamten Bereich der Climate-Fiction, wie die Literatur der Klima­krise seit einiger Zeit genannt wird, wollte er explizit ausklammern: Romane nämlich, so Ulrich, in deren Zentrum explizit die globale Erwärmung, das Schmelzen von Gletschern und Polkappen oder das Schwinden der Arten­vielfalt stünden, erzählten von einer katastrophischen Zukunft, nicht aber davon, wie diese die Gegenwart beeinflusse. Deshalb sei die aktuelle Klimakrise immer noch eine Leerstelle in der Literatur.

Nun ja. Bernd Ulrichs Artikel löste jedenfalls nicht gerade die heisseste Debatte aus, aber einigen Widerspruch.

Die meisten Entgegnungen betonten, dass Autoren bitteschön schreiben dürften, worüber sie wollen, dass Literatur keine pädagogische Institution sei und dass die Klima­krise so sicher und flächen­deckend in der Literatur Einzug halten werde wie der in den Neunziger­jahren in Deutschland ebenso dringend geforderte Wende­roman, der Mauerfall und Wieder­vereinigung verarbeiten sollte. Literatur, konterte Adam Soboczynski, Feuilleton­chef der «Zeit», funktioniere nun einmal nicht so eindimensional.

Die beiden wichtigsten Argumente gegen Ulrichs Diagnose bekamen weniger Raum in der Debatte – vermutlich weil sie recht offensichtlich sind.

Zum einen: Die Romane, die direkt und unmissverständlich von der Unruhe und Verstörung in einer prekären, bedrohten Gegenwart erzählen, sind längst da. Jenny Offill beispiels­weise fängt in ihrem Roman «Wetter» die flirrende Paranoia ein, die sich im Spannungs­feld von Klima­erwärmung, Rechts­populismus und Hass im Netz entfaltet: Plötzlich scheint alles mit allem zusammen­zuhängen, und gleichzeitig verschwindet das Gefühl für eine gemeinsam geteilte Wirklichkeit.

Zum anderen: Wenn sich literarische Katastrophen­szenarien mit «der Zukunft» befassen, dann geschieht das immer als Projektions­fläche für gegenwärtige Konflikte.

Die Werke bieten ein Instrumentarium, um den schwer fassbaren, latenten Prozess des Klima­wandels überhaupt sichtbar und erzählbar zu machen. Sie sind Laboratorien der Gegenwarts­analyse, wie die Literatur­wissenschaftlerin Eva Horn in ihrem gerade in Pandemie­zeiten wieder sehr lesens­werten Buch «Zukunft als Katastrophe» schreibt. Auch wenn die Katastrophe bereits stattgefunden hat und die Infrastrukturen zusammen­gebrochen sind, geht es stets um die Gegenwart. Zur Klima­katastrophe hält Horn fest:

Gerade dass es kein Ereignis mehr gibt, ist die Katastrophe. Die Kontinuität selbst, die Tatsache, dass sich die Gegenwart immer weiter in die Zukunft hinein entrollt, dass sie sich fortsetzt und bestenfalls unaufhaltsam steigert – gerade das ist das Schreckliche.

Aus: «Zukunft als Katastrophe» von Eva Horn.

Auf beide Punkte hat vor allem die Literatur- und Kultur­wissenschaftlerin Solvejg Nitzke in einer Antwort auf Ulrichs Beitrag hingewiesen. Sie nennt einen kleinen Kanon von Romanen, die genau das tun, was Ulrich einfordert, und die alle schon mindestens zehn Jahre alt sind: Ian McEwans «Solar» (2010), Ilija Trojanows «EisTau» (2011), Barbara Kingsolvers «Flight Behaviour» (2012) und Jonathan Franzens «Freedom» (2010): «Diese vier Romane konfrontieren Individuen mit bereits sichtbaren und absehbaren Folgen, die ökologische Krisen auf ihr persönliches Leben [haben,] und zeigen Wege, darauf zu reagieren.»

Die Literatur der unmittelbaren Gegenwart spinnt diesen Faden weiter. Sie stellt aber nicht die Sorgen von Klima­forscherinnen ins Zentrum; Experten für die Krise, oder genauer, fürs Weiter­leben, sind in Zeiten von Fridays for Future vielmehr Kinder und Jugendliche.

Drei Beispiele – zwei davon aus den USA, eins aus der Schweiz – zeigen, dass es ganz unterschiedliche Strategien gibt, um von Möglichkeiten des Lebens unter prekären Umständen zu erzählen.

Inspiriert von Greta Thunberg: Richard Powers

Wie radikal die Katastrophe bereits in einer äusserlich intakten Gesellschaft mit bestens funktionierender Infrastruktur Einzug halten kann, zeigt Richard Powers in einem erschütternden Roman, der kürzlich in der Übersetzung von Manfred Allié und Gabriele Kempf-Allié auf Deutsch erschienen ist.

«Erstaunen» erzählt davon, wie das Arten­sterben und die Sorge um die Zukunft des Lebens eine Familie mit der Gewalt einer antiken Tragödie heimsucht. Die Trauer um die bei einem Verkehrs­unfall ums Leben gekommene Ehefrau und Mutter ist für Vater und Sohn nicht zu trennen von dem Schmerz, den der Junge angesichts der Vernichtung ganzer Tier- und Pflanzen­arten empfindet. Die Welt rundherum versteht nicht, was sich da abspielt, und eine nach der anderen versagen die Institutionen: Schule, Jugendamt, schliesslich Polizei und Justiz machen alles nur noch schlimmer.

Der Ausgangs­punkt für dieses Buch sei, wie Powers in Interviews erzählt, die Faszination für Greta Thunberg und ihren leidenschaftlichen Kampf für die Rettung des Klimas gewesen.

Powers erzählt von Theo, einem allein­erziehenden Vater im permanenten Krisen­management. Er trauert um seine verstorbene Frau, muss seinem Sohn Robin gerecht werden, der Züge eines Asperger-Syndroms aufweist, und versucht seinen Job einiger­massen auf die Reihe zu kriegen.

Anders als für die meisten Erwachsenen ist der Klima­wandel für Robin nichts Abstraktes. Das Arten­sterben ist das, was ihn emotional am meisten beschäftigt, ihn wütend macht und ihn zwingt, etwas zu tun. Wie kann man zur Schule gehen, während die letzten Opossums verschwinden? Also beginnt Robin ein Projekt: Jede vom Aussterben bedrohte Tierart will er zeichnen, um die Bilder zugunsten von Umwelt­organisationen zu verkaufen.

Powers’ Roman gehört zu den Büchern, die weh­tun beim Lesen. Robins Wut ist gerade deshalb schwer zu ertragen, weil sie Fragen provoziert, die an die Grundlagen des menschlichen Selbst­verständnisses rühren. Wie konnte es passieren, fragt man sich, dass unser Leben auf der Ausbeutung und Vernichtung nichtmenschlichen Lebens basiert?

Der eigenwillige Sog des Romans entfaltet sich langsam, fast beiläufig. Der Vater, den Richard Powers zum Ich-Erzähler des Romans gemacht hat, ist nicht nur Science-Fiction-Fan, sondern ein Astro­biologe, der das Leben auf Exoplaneten erforscht. Dazu braucht es Geduld und Fantasie. Erst durch seinen Sohn Robin erkennt Theo die politischen Dimensionen seiner eigenen Arbeit:

Nach unseren Mass­stäben würde die Entdeckung neuer Erden die kollektive Weisheit der Menschheit und ihr Einfühlungs­vermögen mehren. Für die Leute des Präsidenten waren Weisheit und Empathie kollektivistische Verschwörungen, die Amerika um seinen Wohlstand bringen wollten.

Aus: «Erstaunen» von Richard Powers.

Theo versucht alles, um Robin das Leben erträglicher zu machen. Zwischen­durch schöpft er Hoffnung aus einer Neuro­feedback-Therapie, dem Forschungs­projekt eines Kollegen. Bis dieses von der Regierung gestoppt wird.

Bei aller Kritik an einer wissenschafts­feindlichen Politik, die sich fatal auf das Bildungs­wesen und auf Diversität auswirkt: Das Zauber­wort des Romans ist Empathie – und zwar in einem sehr weiten Sinne. Es geht bei Powers um die Fähigkeit, die Welt durch die Augen anderer zu sehen, mit oder ohne wissenschaftliche Methoden. Und dies bedeutet zunächst einmal, diese anderen überhaupt wahrzunehmen, die uns im Alltag immer und überall begleiten, all die Würmer, Insekten und Vögel.

Im Gegensatz zu seiner verstorbenen Frau und zu Robin ist Theo kein Hobby­ornithologe und hält das stunden­lange Warten auf eine Bewegung in einer Hecke nicht aus. Doch Robins Sensorium für das Leben rund um ihn herum verändert auch seine Art, das menschliche In-der-Welt-Sein zu beschreiben:

Ein grösseres Kerbtier am Erdboden schlug mir seine Mandibeln in die Wade. Robin steckte die Finger in die Erde und hob mit seiner kleinen Hand zehn­tausend Bakterien­arten auf, gepackt in dreissig Meilen Pilzfäden. Er liess die Handvoll Erde wieder zu Boden rieseln, stand auf und legte sich neben mich ins Gras. Meinen Arm nahm er als Kopf­kissen. Lange Zeit schauten wir einfach nur hinauf zu den Sternen – zu all denen, die wir sahen, und der Hälfte der unsichtbaren.

Powers versetzt seine Leser mit seiner poetischen, langsamen und präzisen Sprache in einen Zustand der Anteil­nahme, des titel­gebenden Erstaunens. Es gelingt ihm, einen Klima­roman ohne Projektion in die Zukunft und ohne apokalyptisches Ereignis zu erzählen, weil er, geschickt und virtuos, eine andere Projektions­fläche wählt: das unschuldige Kind. So kann er mitten aus dem Chaos der Gegenwart heraus erzählen. Und das Kind zum Anwalt der nichtmenschlichen Natur machen – eine Denkfigur, in der sich der menschliche Umgang mit möglichen Zukünften artikuliert.

Robins besondere Sensibilität für die Verflochtenheit alles Lebendigen, egal ob Mensch, Tier oder Pflanze, wird zu einem utopischen Gegenentwurf zur Erwachsenen­welt, in der der instrumentelle Zugriff auf die Natur dominiert.

Eine verwandte Bewegung, angetrieben von Neugier und Leidenschaft für das Leben, gibt es auch in einem tristen, dunklen Endzeit­szenario: Ähnlich wie Robin in einer bedrohten Welt seine Wahrnehmung für die Schönheit und Vielfalt alles Lebendigen trainiert, entdecken zwei jugendliche Protagonisten im Debüt­roman der Zürcher Astro­physikerin Simone Weinmann, «Die Erinnerung an unbekannte Städte», die Dinge, die aus der untergegangenen Zivilisation übrig geblieben sind: Bücher, tote Handys, Konserven­dosen. Und sie entlocken ihnen ihre Geschichten, um sie weiterzuerzählen.

Heisskalte Lektüre: Simone Weinmann

Das Schreiben über den Klima­wandel und über das Verhältnis von Mensch und Natur hat sich in den letzten Jahren stark ausdifferenziert. Mindestens drei Grund­modi lassen sich unterscheiden. Da ist das dokumentarische, auto­ethnografische Nature Writing. Daneben Romane wie die von Richard Powers oder Jenny Offill, die die Verstörung durch die Klima­krise im Alltag greifbar machen. Und schliesslich hat die Dystopie nichts an Dringlichkeit eingebüsst: Die Gegenwart zugespitzt und verdichtet in die Zukunft zu projizieren, scheint noch immer ein attraktiver Weg zu sein, die latenten Dramen von heute erzählbar zu machen.

Ein solcher Text ist auch der Roman von Simone Weinmann.

Durchaus klassisch hat Weinmann ihre Geschichte inmitten einer erkalteten Welt situiert. Warum es zur Verdunkelung der Sonne kam, erfährt man nur nebenbei – eine Hightech-Massnahme gegen die globale Erwärmung –, es spielt auch keine Rolle mehr. Denn im Zentrum des Romans stehen zwei Jugendliche, die noch nicht geboren waren, als die gesamte Infrastruktur zusammen­brach und der grösste Teil der Menschheit erfror. Nathanael und Vanessa sitzen fest in einer Welt ohne Strom und fliessendes Wasser, ohne Internet und Transport­wesen. Wer das Dorf verlassen will, muss zu Fuss gehen – doch draussen ist es gefährlich. In der post­apokalyptischen Gesellschaft gibt es keine Solidarität, jeder nimmt sich, was er kann. Ein geschützter Raum entsteht im Dorf einzig in Form einer Sekte, die jede Neugier und vor allem jede Begegnung mit dem Wissen aus der alten Welt unterbindet.

In kurzen Kapiteln wechselt Weinmann die Perspektive und erzählt abwechselnd aus der Sicht von Nathanael, Vanessa und ihrem Lehrer Ludwig. Den beiden Jugendlichen wird es zu eng, also hauen sie ab. Ludwig folgt ihnen – offiziell, um sie zurück­zuholen, in Wahrheit aber eher, weil er den Sekten­mief nicht mehr aushält. Und die Vorwürfe, die er sich selbst macht:

Von fern spürte Ludwig wieder den alten Zorn, von dem er geglaubt hatte, ihn längst überwunden zu haben. Den Zorn auf alles, was schief­gegangen war. Er war arglos durch sein Leben gegangen, Ziele vor Augen, die damals alle für leicht erreichbar hielten, seine Lehrer, seine Eltern. (…) Doch bevor er damit überhaupt hatte anfangen können, war der Himmel schwarz geworden.

Aus: «Die Erinnerung an unbekannte Städte» von Simone Weinmann.

Simone Weinmann tastet sich den Gedanken und Gesprächen der Figuren entlang, beschreibt ihre Handlungen und ihre Inter­aktionen mit den Dingen, die übrig geblieben sind. So entsteht Raum für ein unruhiges Sirren zwischen den Zeilen. Darin artikuliert sich die radikale, ja brutale Unbestimmtheit, die ein Leben in den Ruinen mit sich bringt, und die deprimierende Last, die auf den Jugendlichen liegt, die neu anfangen sollten.

Der Traum vom Reset-Button, der, einmal gedrückt, die Menschheit an einen Neuanfang führen könnte, wird gehörig dekonstruiert in diesem Roman. Er endet zwar buchstäblich mit einem Licht am Ende des Tunnels, doch auch dieses Licht könnte bald nur noch eine Erinnerung sein. Das Ziel bleibt unbestimmt, unbekannt. «Erinnerung an unbekannte Städte» ist eine melancholische Reflexion über die Zerstörungs­wut, die bereits in der Gegenwart grassiert. Der gescheiterte Versuch, die Atmosphäre künstlich abzukühlen, ist nur die letzte Dummheit in einer langen Reihe.

Das Faszinierende und angenehm Irritierende an post­apokalyptischen Settings, wie Weinmann es entfaltet, ist, dass es bei aller Wieder­holung der genre­typischen Elemente, die spätestens mit Cormac McCarthys «The Road» (2006) ikonisch geworden sind, immer neue Variationen bietet. Vor allem aber erlauben Szenarien aus der nahen Zukunft eine gewisse Distanz gegenüber den hochbrandenden Emotionen bei klima­politischen Fragen. Die Mischung aus kühler Labor­situation und maximaler, die Leserinnen fast körperlich angreifender Spannung in der Schilderung des Überlebens­kampfes der Figuren sorgt für einen produktiven Widerspruch: Man ist emotional involviert und dennoch ist da auch das intellektuelle Begreifen. Ein heisskaltes Lese­erlebnis, bei dem immer auch die Bedingungen und Möglichkeiten der Literatur selbst verhandelt werden.

Und wo Weinmann einen melancholischen Grundton wählt, wendet ein anderer Autor denselben Grund­gedanken Richtung Satire.

Kammerspiel der Katastrophe: Rumaan Alam

Dass die Welt, vollgestopft mit Gadgets und Konsum­artikeln, schon heute so unendlich leer ist, scheint die Ausgangs­diagnose für den US-Autor Rumaan Alam und seinen Thriller «Inmitten der Nacht» zu sein. Für Alams Kammer­spiel reicht ein Hauch Apokalypse: Eine vierköpfige Familie aus Brooklyn macht Urlaub auf Long Island. Das gemietete Haus mitten im Nirgendwo bietet genau den Luxus, den das Ehepaar Amanda und Clay eigentlich für standes­gemäss hält, den sich die beiden aber gerade mal für eine Woche leisten können. Weisswein und Knabber­zeug am Pool folgt auf Einkaufs­exzesse im nahen Super­markt, am Abend gibt es betrunkenen Sex.

Plötzlich, mitten in der Nacht, steht ein älteres, schwarzes Ehepaar vor der Tür und verlangt Einlass. Das Haus gehöre ihnen, sagen George und Ruth, die wegen eines noch unklaren Vorfalls (Strom­ausfall, ein Wirbel­sturm) Unterschlupf suchen – in ihrem Haus, das sie Amanda und Clay vermietet hatten. Lustvoll lässt Rumaan Alam Amanda und Clay herum­lavieren zwischen Eigen­interesse und dem Wunsch, auf keinen Fall rassistisch rüberzukommen.

Die vier Erwachsenen raufen sich zusammen, kochen, essen, räumen auf und versuchen immer wieder einmal, etwas in Erfahrung zu bringen über die Situation. Allerdings vergeblich.

Alam erzählt wie mit wackligen Kameras, die so nah an den einzelnen Figuren dran sind, dass jeder Überblick unmöglich scheint. Dazwischen platziert der Erzähler Einsprengsel mit Informationen über die aktuelle Lage, lauter Dinge, die Amanda und Clay, George und Ruth nicht wissen können.

So entsteht ein Kammer­spiel, in dem die Ängste und die blinden Flecken der Figuren das Steuer übernehmen.

Die ganze Handlungs­macht ist wie weggeblasen, sobald die Handy­displays schwarz bleiben, Fernsehen und Internet tot sind und Konsum nicht mehr möglich. Die Figuren sind sich ihrer Bequemlichkeit durchaus bewusst, wissen aber auch ganz sicher, dass sie keine andere Option haben, als an ihren Routinen und Floskeln festzuhalten. So entstehen Momente, die zugleich komisch und verstörend sind. Etwa wenn Amanda, die gebets­mühlen­artig sagt, ihre Kinder seien das Wichtigste in ihrem Leben, ihre pubertierende Tochter Rose plötzlich als Monster sieht:

Zum Essen setzten sie sich auf das Holzdeck. Alle waren nachlässig bekleidet, die Szene war ein Durcheinander aus grellbunten Hand­tüchern und ketchup­verschmierten Papier­servietten. Hamburger so gross wie Hockey­pucks auf fluffigem Brot. Besonders Rose erlag dem säuerlichen Charme der Essig­chips, an ihrem fett­glänzenden Kinn klebten Krümel. Amanda freute sich darüber, dass Rose manchmal wieder ein kleines Mädchen war. Doch ihr Verstand war das eine, der Körper etwas anderes. Es musste an den Hormonen in der Milch, in der Nahrungs­kette, im Trink­wasser oder in der Luft liegen, wer wusste das schon.

Aus: «Inmitten der Nacht» von Rumaan Alam.

Rose, das Krümel­monster, ist aber die Einzige in diesem Roman, die irgendwann entdeckt, dass es tatsächlich Alternativen zu Chips, Handy und Fernsehen gibt. Sie folgt, ganz in der Tradition von Alice im Wunder­land, ihrer Neugier und verlässt Haus, Pool und Garten für eine Erkundungstour.

Gerade weil niemand weiss, welche (Umwelt-)Katastrophe über die USA, vielleicht über die ganze Welt gekommen ist, wirkt Alams Ferienhaus­setting wie ein Mikroskop, unter dem die Gründe für die Handlungs­lähmung gegenüber der Klima­krise aufleuchten: Jeder und jede glaubt, so sehr mit dem eigenen Überleben beschäftigt zu sein – allein die Image­pflege durch Produkte und passende Sätze im passenden Moment fressen die ganze Energie auf –, dass der Gedanke an gemeinsames, solidarisches Handeln eine leere Worthülse bleiben muss.

Alle drei Romane arbeiten mit unterschiedlichen literarischen Traditionen und Genres, und alle diagnostizieren eine massive, lähmende, kollektive Überforderung. Genügend Energie für beherztes Handeln bringen nur Kinder und Jugendliche auf – und vielleicht noch die Erwachsenen, die sich für sie verantwortlich fühlen und bereit sind, Neugier und Empathie von ihnen zu lernen, anstatt sich alternativen Fakten und Mythen anzuschliessen. Es scheint, als würde die klimatische Schieflage sich direkt auf den geistigen Zustand der (erwachsenen) Figuren auswirken und ihnen die Lust aufs Weiterleben nehmen.

Und doch lassen die drei Romane ihre Leser angeregt und auf eine lebendige Art aufgewühlt zurück. Weil die Texte unterschiedliche Verfahren entwickeln, um genau hinzuschauen und Möglichkeiten für kleine Abenteuer zu entdecken, die im medialen Alltag der Klima­debatte und der Pandemie­bericht­erstattung verschwinden. In diesem genauen Blick steckt nicht nur etwas sehr Lustvolles, sondern auch eine Form von Handlungsmacht.

Ob sich die Welt ändert, wenn wir unsere Verwandtschaft mit Opossums und Füchsen, mit Bakterien und Pilzfäden erkennen? Einen Versuch ist es auf jeden Fall wert.

Zu den Büchern

Richard Powers: «Erstaunen». Aus dem amerikanischen Englisch von Manfred Allié und Gabriele Kempf-Allié. Frankfurt am Main, S. Fischer 2021. 320 Seiten, ca. 34 Franken.

Simone Weinmann: «Die Erinnerung an unbekannte Städte». München, Kunstmann 2021. 272 Seiten, ca. 34 Franken.

Rumaan Alam: «Inmitten der Nacht». Aus dem amerikanischen Englisch von Eva Bonné. München, btb 2021. 320 Seiten, ca. 31 Franken.

Zur Autorin

Christine Lötscher ist Professorin für Populäre Literaturen und Medien am Institut für Sozial­anthropologie und Empirische Kultur­wissenschaft der Universität Zürich sowie Literatur­kritikerin. Aktuell beschäftigt sie sich unter anderem mit dem Verhältnis von Mensch und Natur in der Literatur sowie mit Coming-of-Age-Erzählungen. 2020 erschien ihr Buch «Die Alice-Maschine. Figurationen der Unruhe in der Populär­kultur» im Metzler-Verlag.