Nach dem Untergang der Welt
Was bedeutet die Klimakrise für unser Denken? Können wir sie überhaupt denken? Auf der Suche nach Antworten beim schillernden Philosophen Timothy Morton.
Ein Essay von Daniel Binswanger, 08.02.2020
Unser Weltbild wird geprägt von Büchern, die wir lesen, Medien, die wir konsumieren – dem bestehenden Wissen, soweit es für uns zugänglich ist. Wichtig ist aber nicht nur artikuliertes Wissen, sondern auch die konkrete Alltagserfahrung: Wahrnehmungen, Gewohnheiten, Gespräche. Zum Beispiel ein Schwatz über das Wetter, vielleicht mit einem Unbekannten an der Bushaltestelle.
Gibt es eine fundamentalere Form der Alltagskommunikation als Gespräche über das Wetter? Wir führen sie mit Fremden, weil man nichts falsch machen kann. Mit ständigen Begleitern, weil es immer wieder ändert. Mit anstrengenden Bekannten, weil es das vielleicht einzige Thema darstellt, das wir mit ihnen teilen. Das Wetter ist so etwas wie die diffuse Grundierung, der zuverlässige Hintergrund, der unhinterfragte Horizont von allem, was wir täglich tun.
Leider aber gibt es ein Problem: Dieser Hintergrund ist längst nicht mehr zuverlässig. Und unhinterfragt schon gar nicht.
Was, wenn der Unbekannte an der Bushaltestelle zu mir «Heiss heute!» sagt? Meint er die Hitze? Oder spielt er auf die Klimaerwärmung an? Lebt er vielleicht so hinter dem Mond, dass er an Klimaerwärmung in diesem Zusammenhang gar nicht denkt? Redet er tatsächlich über die Welt, so wie sie ist, oder testet er mich? Lässt er Empörung anklingen – oder redet er ganz einfach über das Wetter?
Die grosse Transformation
Der Klimawandel ist zu einem Hyperpolitikum geworden. Nicht nur deshalb, weil er die Agenda bestimmt, weil eine internationale Konferenz die nächste jagt, weil die Schlagzeilen über Temperaturkurven, Emissionsentwicklungen und Hitzerekorde nicht mehr abreissen. Und auch nicht «nur» deshalb, weil die Katastrophenszenarien sich konkretisieren. Der Klimawandel ändert etwas Fundamentales an unserem Weltverhältnis: Ein alles umfassendes Naturphänomen erscheint nicht mehr wie eine unverbrüchliche Gegebenheit und unverfügbare Rahmenbedingung unseres Lebens. Das exakte Gegenteil trifft zu: Es wird von uns produziert.
Menschliche Gesellschaften haben über die Jahrtausende gelernt, sich mit einer Natur zu arrangieren, die als zerstörerische Macht über sie hereinbrach – mit Fluten, Bränden, Vulkanausbrüchen –, die sie aber auch zu domestizieren, fruchtbar zu machen, schliesslich auszubeuten vermochten. Natur wurde als Urgewalt gefürchtet und mit religiösem Zauber beschworen – oder als unbefleckte Idylle idealisiert und ästhetisch gefeiert.
Doch wie auch immer man das Verhältnis dachte: Die Sphären waren getrennt. Auf der einen Seite die menschliche Zivilisation, auf der anderen Seite die natürliche Biosphäre. Diese Grenzziehung ist heute mehr als fragwürdig geworden. Das zeigen nicht nur Klimatabellen und wissenschaftliche Studien, sondern Veränderungen, die unseren Alltagshorizont verschieben.
Ökologie ist eine epochale Herausforderung für unsere philosophische Weltsicht. Älteste Dualismen – von Zivilisation und Natur, von Menschen und Tier, von Geist und Biologie – kommen auf unheimliche Weise ins Rutschen. Haben wir überhaupt die Mittel, um das, was diesem Globus gerade widerfährt, weltanschaulich auf den Begriff zu bringen? Fällt es der Menschheit deshalb so fürchterlich schwer, auf die Klimakrise mit Entschlossenheit zu reagieren, weil ihr überliefertes Realitätsverständnis zu den neuen Verhältnissen nicht mehr richtig passen will? Weil wir die verzweifelten Gefangenen bleiben von überkommenen Reflexen?
Es gibt eine ganze Reihe neuer «Ökophilosophien» und insbesondere natürlich ökologischer Ethiken, die sich der Klimagerechtigkeit, dem Artenschwund und der Umweltverantwortung widmen. Aber was hier eigentlich auf dem Spiel steht, ist nicht nur die Frage von Gut und Böse. Es geht nicht nur um Umweltethik, politische Strategien und Anleitungen zum eigenen guten Gewissen – selbst wenn diese Fragen schwer genug zu beantworten und an Dringlichkeit kaum zu überbieten sind. Die Umweltkrise berührt auch unsere allgemeine Weltanschauung, nicht nur unsere Moralvorstellungen, sondern unser gesamtes Verständnis der Realität.
Der Prophet des Anthropozän
Eine der wohl profundesten und jedenfalls faszinierendsten heutigen Öko-Philosophien ist diejenige von Timothy Morton – auch wenn er in einem fast schon karikaturalen Sinn ein «Zeitgeistphilosoph» ist. Der 1968 in London geborene Morton ist der Sohn zweier Konzertviolinisten und Linksaktivisten. Er promovierte in Oxford über den Vegetarismus von Mary und Percy Shelley, machte nach eigenem Bekunden während seines Studiums gründliche LSD-Experimente und schrieb einen Song für ein psychedelisches Trip-Hop-Album, das es auf Platz 4 der englischen Charts schaffte. Er ist befreundet mit Björk, mit der er eine ausführliche, zu Teilen publizierte Korrespondenz führt. Seit Jahren ist er ein wichtiger Kollaborationspartner für den Kunststar Olafur Eliasson (für die aktuelle Eliasson-Ausstellung im Kunsthaus Zürich, «Symbiotic Seeing», steuerte er einen Katalogbeitrag bei). Der Kurator Hans Ulrich Obrist zählt seine Bücher zu den «überragendsten Werken» unserer Zeit, der «Guardian» nennt Morton den «Philosophenpropheten des Anthropozäns». Und auch in rein akademischen Rankings figuriert er ganz weit vorn als einer der einflussreichsten Philosophen der Gegenwart.
Im deutschen Sprachraum war sein Name bis anhin weniger präsent. Das mag auch daran liegen, dass bis vor kurzem nur ein Werk von Morton übersetzt war, «Ökologie ohne Natur», das im Original schon 2007 erschien, auf Deutsch aber erst 2016 herauskam. Jetzt allerdings hat Matthes & Seitz auch «Ökologisch sein» herausgebracht, einen Text, der auf Englisch 2018 publiziert wurde. Eine wichtige Rezeptionslücke beginnt sich zu schliessen.
Was hat es auf sich mit dem Anthropozän, als dessen Prophet Timothy Morton betrachtet wird? Den Begriff geprägt hat nicht er selber, aber wenn man heute kaum mehr einen Ausstellungskatalog aufschlagen kann, ohne dass er als Grundkategorie der Kunst- und Weltauslegung auftaucht, ist das zu guten Teilen sein Verdienst. Anthropozän ist ohne Zweifel das intellektuelle Schlagwort unserer Epoche. Warum schiebt es sich ins Zentrum der theoretischen Diskurse? Und vor allem: Was trifft es von unserem Lebensgefühl?
Zunächst ist das Anthropozän eine Begriffsinnovation der Geologie, das heisst, um genauer zu sein, der Erdzeitaltergeschichte beziehungsweise der Geochronologie. Der Atmosphärenforscher und Nobelpreisträger Paul Crutzen und der Biologe Eugene Stoermer haben ihn im Jahr 2000 lanciert, Crutzen hat ihm zwei Jahre später in einem berühmten Artikel für «Nature» seine gültige Gestalt gegeben. Er will besagen, dass das Holozän, also die Erdalterepoche, die um 10’000 vor Christus die letzte Eiszeit beendete, die Agrarrevolution ermöglichte, zivilisationsgeschichtlich zu den ersten Hochkulturen hinführte und nach konventioneller Lesart bis heute andauert, in jüngster Zeit an ihr Ende gekommen ist. Die menschlichen Eingriffe in die Biosphäre des Planeten sind so massiv geworden, dass sie ein neues Erdzeitalter einläuten.
Zum Beispiel tauchen in den Erdablagerungen, die sich seit den 1950er-Jahren gebildet haben, Plutoniumisotope auf, die durch Atombombentests erzeugt worden sind. Eine rein menschengemachte Veränderung der Geologie wird aufgrund der rund 25’000 Jahre dauernden Halbwertszeit dieser Isotope über einen gewaltigen Zeitraum bestehen bleiben. Noch viel wichtiger: Der sprunghafte Anstieg des Kohlendioxids in der Atmosphäre führt zu Veränderungen des Klimas, die sich ebenfalls im Erdzeitaltermassstab, das heisst über Tausende von Jahren, bemerkbar machen werden. Das menschliche Handeln manifestiert sich in Dimensionen, die nichts mehr zu tun haben mit Zivilisationsgeschichte. Wir greifen ein in die Zeithorizonte der Geologie. Ins Erdzeitalter.
Morton beschreibt das Anthropozän deshalb als «einen traumatischen Verlust unseres Koordinatensystems». Können wir in solch planetarischen Zeitdimensionen die Dinge überhaupt vernünftig einordnen, einen vernünftigen Begriff von den Folgen unseres Handelns entwickeln, unsere Verantwortung ermessen? Es ist schwieriger, als man glauben könnte.
Das Anthropozän wirft eine Reihe von philosophischen Fragen auf. Zunächst unterläuft es die Unterscheidung von Zivilisation und Natur. Klimaerwärmung bedeutet: Eines der wichtigsten und den ganzen Globus umfassenden Naturphänomene ist menschengemacht. Die Natur ist nicht mehr jenes Gegenüber, das wir schützen, pflegen, respektieren sollen – oder was immer uns das ökologische Gewissen aufträgt. Die ökologische Ikone der Siebzigerjahre war der blaue Planet – das Raumschiff Erde, das bergend, verletzlich und mit quasireligiöser Aura die Menschheit durch den Weltraum trägt. Heute macht dieses Bild nicht mehr richtig Sinn. Wir sind auf diesem Raumschiff viel mehr als Passagiere, wir sind die Heizer, wir stehen auf der Brücke. Die Natur sind wir – mit der unangenehmen Folge, dass dieses wir, der Mensch, der eingewoben ist in seine Biosphäre, ebenfalls einen ungewissen Status bekommt.
Ökologie ohne Natur
Das erste wichtige Buch von Morton hiess folgerichtig «Ökologie ohne Natur». Es gibt kein «Zurück zur Natur» mehr, wie es etwa Rousseau zu Beginn der Moderne als Rezept der allgemeinen Menschheitsbeglückung noch fordern konnte. Die Vorstellung, dass wir die Natur ganz einfach schonen müssen, dass wir sie aus gebotener Distanz mit kontemplativer Ruhe nur zu betrachten brauchen, dass sie ein intaktes Refugium der Wahrheit, der Harmonie, der «Natürlichkeit» bildet – diese Vorstellung ist sinnlos geworden.
Im Gegenteil, die Kultivierung dieser Haltung ist sogar schädlich: «Zu den Vorstellungen, die eine Politik, Ethik, Philosophie und Kunst der Ökologie wirklich verhindern, gehört die Natur selbst», schreibt Morton. Natur ist eine klebrige Kategorie. Sie ist umfassend und absolut, wie vormals nur der Gottesbegriff. Zugleich aber erscheint sie unbegrenzt wandelbar. Sie lässt sich auf beliebige Weise mit Wertevorstellungen aufladen, was sich darin zeigt, dass «unnatürlich» immer disqualifizierend und eine der tödlichsten Waffen im ideologischen Arsenal der Moderne ist. «Natur schwankt zwischen dem Göttlichen und dem Materiellen», sagt Morton. «Wenn aber Natur nur ein anderes Wort für eine höchste Autorität ist, warum sie nicht einfach Gott nennen?» Und wenn Ökologie etwas anderes sein soll als eine innerweltliche Religion, die uns von einem verlorenen Eden erzählt und mit der kommenden Apokalypse droht, wie sollen wir den Menschen und die Umwelt dann denken?
Mit dem Anthropozän verliert der Mensch seinen Platz im Zentrum der Welt. Die Natur sind zu einem ungewissen und unbeherrschbaren Teil wir selber – auch wenn das unheimlich erscheinen mag. Oder wie Morton in «Dark Ecology» (2016) schreibt, seinem bisher wohl wichtigsten Buch: «Ich selber bin der Verbrecher. Und ich entdecke das dank der wissenschaftlichen Forensik. Es ist wie in einem klassischen Film Noir: Ich bin der Detektiv und der Verbrecher. Ich bin eine Person. Aber ich bin auch Teil von etwas, das nun eine geophysische Macht im planetarischen Massstab ist.» Wir sind aus romantischen Träumen aufgewacht: Plötzlich gehen die Scheinwerfer an – und wir stehen da mit der Tatwaffe in der Hand.
Ausbruch aus Mesopotamien
Wann beginnt das Anthropozän? Es gibt dazu verschiedene Hypothesen. Am weitesten verbreitet ist die Antwort: 1945. Nach dem Zweiten Weltkrieg gehen in den industrialisierten Ländern die CO2-Emissionen steil nach oben. Der Konsum, der Verkehr, die Produktion explodieren: Die Grundlagen für die Klimaerwärmung werden gelegt. Es ist der dramatische Emissionswendepunkt, der abgebildet wird im sogenannten Hockeyschläger-Diagramm (hockey stick graph), die Al Gore mit dem Dokumentarfilm «An Inconvenient Truth» popularisiert hat.
Andere Theoretiker datieren den Beginn des Anthropozäns auf das Ende des 18. Jahrhunderts, weil mit der Erfindung der Dampfmaschine die Voraussetzungen für Mechanisierung und Industrialisierung geschaffen werden, das Übel gewissermassen also hier seine Wurzeln hat.
Morton jedoch vertritt einen viel radikaleren Ansatz: Gemäss seiner Periodisierung begann das Anthropozän bereits mit dem Holozän selber, will sagen mit der Agrarrevolution vor 12’000 Jahren. Die Klimakatastrophe hat demnach ihre eigentlichen Wurzeln im alten Mesopotamien. Es ist die vermutlich am häufigsten wiederkehrende Lieblingsformel des Philosophen: «wir Mesopotamier».
Das erscheint auf den ersten Blick wie eine ziemlich exzentrische Ansage. Doch Morton entwickelt eine originelle anthropologische These, indem er zwei getrennte Denkansätze kombiniert: die Evolutionsbiologie von Jared Diamond und eine von heideggerscher Niedergangsmystik angehauchte Geschichtsphilosophie.
Diamond ist Ende der Neunzigerjahre zu enormem Einfluss gekommen, indem er die Verlustrechnung der Agrar- oder, wie man auch sagt, neolithischen Revolution aufgemacht hat. Gut 10’000 vor Christus ist der Homo sapiens sesshaft geworden und vom Jäger und Sammler zum Ackerbauern und Züchter geworden. Er erhöhte damit seine Ernährungs- und Überlebenssicherheit, legte die Grundlagen für grössere Siedlungen und Sozialverbände, schuf die Voraussetzungen für die Entstehung erster Hochkulturen.
Aber er bezahlte für diese Errungenschaften nachweislich einen hohen Preis: Die Ernährung des neolithischen Bauern war wesentlich unausgewogener als die der Jäger und Sammler. Die durchschnittliche Körpergrösse ging zurück, die durchschnittliche Lebenserwartung sank. Zudem entwickelten sich erst mit der Sesshaftigkeit auch differenzierte soziale Hierarchien. Die voragrarisch-nomadischen Sozialverbände waren egalitärer und freier. Die Agrarrevolution macht die Menschheit zwar überlebens- und entwicklungsfähiger, aber sie etablierte autoritäre Machtstrukturen und entriss den Homo sapiens seinem natürlichen Habitat.
Morton analysiert nun diese Entwicklung mit dem Instrumentarium der philosophischen Anthropologie: Was bedeutet es für den Weltbezug des Menschen, dass er seiner Überlebensfähigkeit alle anderen Aspirationen unterzuordnen beginnt und ein ganzes kulturelles System entwickelt, das Morton «Agrilogistik» nennt?
Das Kernmoment dieser Umwälzung ist gemäss Morton die Spaltung der Welt in Natur und Zivilisation. Der Mensch zieht Mauern hoch um seine Siedlungen. Sein mächtigster Lebensantrieb wird die Angst. Fast noch wichtiger: Er errichtet eine neue Hierarchie der Lebewesen. Indem er gewisse Tierarten domestiziert und zur Nutztierhaltung übergeht, führt er eine unüberwindbare Abgrenzung ein zwischen den verschiedenen Gattungen – nicht nur zwischen den Wildtieren der Natur und den Zuchttieren seiner Agrarwirtschaft, sondern auch zwischen sich selber als biologischer Spezies und allen anderen Säugetieren: «Die Spaltung von Natur und Kultur, auf der wir immer noch bestehen, ist eigentlich das Resultat der Spaltung zwischen Natur und Agrikultur.»
Es ist letztlich ein 12’000 Jahre altes Mindset, das durch die Klimakrise in Frage gestellt wird. Oder das ist jedenfalls, was geschehen müsste: «Ein Ziel von dark ecology ist es, den agrilogistischen Raum zum Sprechen zu bringen und so eine Vorstellung zu ermöglichen, wie wir Programme, die eine andere Sprache sprechen, produzieren können.» Wir müssen wieder lernen, auf gewissermassen vorneolithische Weise mit den anderen Lebewesen dieses Planeten zu koexistieren. Und das erfordert eine Transformation unserer archaischsten kulturgeschichtlichen Instinkte.
Übermenschliche Zeiträume
Hier kommt Mortons geschichtsphilosophisches Programm nun definitiv an eine Grenze. Wir sollen unser Menschenbild bestimmen lassen von erdgeschichtlichen Periodisierungen? Letztlich ist Realität nie etwas anderes als ein Skalierungseffekt: Aus der Sicht eines Kindes mag die Spanne eines Menschenlebens so lang sein, dass es beinahe im Gefühl der Unsterblichkeit lebt. In der Perspektive der Geologie hingegen ist es nicht einmal ein Wimpernschlag. «Wir leben simultan in mehr Zeitgrössenordnungen, als wir verarbeiten können», schreibt Morton. Und das bringt den traditionellen Anthropozentrismus in arge Bedrängnis.
Es ist die sehr lange, die geologische Sicht, die Mortons Philosophie bestimmt. Das stellt eine geistige Wende dar, deren Tragweite kaum überschätzt werden kann. Auch in diesem Punkt erweist er sich mehr als begnadeter Kompilator denn als origineller Erfinder. Morton ordnet sich mit diesem Aspekt seines Werkes in den «spekulativen Realismus» ein, eine Philosophieschule, die kurz nach der Jahrtausendwende entstand und in kurzer Zeit sehr einflussreich geworden ist.
Gewissermassen das Gründungsdokument des spekulativen Realismus ist «Nach der Endlichkeit», das 2006 publizierte, heute in der akademischen Welt intensiv diskutierte Werk des französischen Philosophen Quentin Meillassoux. Es besteht im Wesentlichen in einer Kritik einiger fundamentaler Grundsätze der Philosophie von Kant. Kant hat postuliert, dass die objektiven Naturgesetze nicht auf der Verfasstheit der Wirklichkeit selber beruhen, sondern ihre Basis in den notwendigen Funktionsgrundlagen des menschlichen Verstandes und der menschlichen Vernunft haben. Deshalb wird Philosophie zur «Kritik der Vernunft».
Die Realität, so, wie sie wirklich ist, also jenseits der menschlichen Wahrnehmung, können wir gemäss Kant hingegen gar nicht kennen. Immerhin ist es aber eine Gewissheit, dass es sie gibt. Kant ist kein Skeptiker, es gibt da draussen eine Wirklichkeit in einem ausgezeichneten Sinn, nur können wir über dieses «X», das so genannte «Ding an sich», sehr wenig sagen. Gemäss Meillassoux bleibt die moderne Philosophie seit Kant in einem fatalen «Korrelationismus» stecken: Die Welt da draussen ist uns nur zugänglich, sofern sie uns gegeben ist. Wir können sie nur als «Korrelat» unseres Geistes oder unserer Sprache erfassen. Davon, was da draussen wirklich ist, sollen wir hingegen keine Ahnung haben.
Gegen diesen Ansatz bringt nun Meillassoux die Erdgeschichte in Stellung. Es kann nicht sein, so argumentiert er, dass es objektive Erfahrung nur «für uns» gibt, wenn wir wissen, dass die Erde schon vor Millionen von Jahren existierte, lange bevor überhaupt irgendein menschlicher Beobachter sie bevölkert hat. «Was ist vor 4,56 Milliarden Jahren geschehen? Hat die Entstehung des Planeten Erde damals stattgefunden? Ja oder nein?» So führt Meillassoux seine Kant-Kritik ein. Auch für ihn stolpert unser auf den Menschen zentriertes Weltbild über die Zeitdimension der Geologie.
Meillassoux interessiert sich zwar für Metaphysik und nicht für Ökologie. Ihm geht es um die «letzten Dinge», den Beweis, dass wir zur Realität als Absolutum, zur Realität jenseits ihrer Spiegelung im menschlichen Geist einen Zugang haben. Aber Morton nimmt seinen Impuls nicht zufällig auf.
Die ökologische Krise und die Dämmerung der mesopotamischen Agrilogistik stellen dieselbe Forderung: Wir müssen erneut das «Draussen» denken. Es reicht nicht mehr, die Welt so aufzufassen, wie sie «für uns» verfügbar, nutzbar und zugänglich ist. Das anthropozentrische Weltbild kommt mit der Klimakrise an eine definitive Grenze. Denn die Mauern, welche die Natur von der Zivilisation und den Menschen von seiner Biosphäre trennen, sind schon lange eingerissen. Wir teilen diesen Globus mit anderen Gattungen, mit denen uns viel mehr verbindet, als wir wahrhaben wollen – und für deren Massenausrottung wir verantwortlich sind. Wir bekommen es mit Dringlichkeiten zu tun, die von zu weit herkommen und zu weit in die Zukunft reichen, als dass wir sie in einer traditionellen, auf den Menschen zentrierten Optik erfassen könnten.
Hyperobjekte
Aber wie sähe die richtige Optik aus? Was wäre die Weltsicht der von Morton angestrebten «dunklen Ökologie»? Das Konzept, das der Philosoph hier ins Zentrum rückt, ist das Hyperobjekt. Die Klimaerwärmung, so sagt er, ist ein Hyperobjekt, also «ein Ding, das riesig und, wie man sagt, weit verteilt über Raum und Zeit ist – das über viele Jahrzehnte oder Jahrhunderte (oder auch Jahrtausende) stattfindet und das sich rund um den Globus ereignet».
Ein Hyperobjekt ist ein Phänomen, das keinerlei anschauliche Präsenz hat, weil seine Dimensionen unseren Erfahrungshorizont notwendigerweise sprengen. Wir können nicht darauf zeigen. Es ist ein Gegenstand, der sich durch eine manifeste Ungreifbarkeit auszeichnet – und dadurch eine Qualität deutlich werden lässt, die im Grunde nicht nur die «weit verteilten», sondern alle Objekte auszeichnet.
Wie können wir überhaupt die Dinge, aus denen sich unsere Wirklichkeit zusammensetzt, erfassen? Wir mögen sie zwar quantitativ, statistisch präzise beschreiben, aber als konkrete Phänomene bleiben sie ungreifbar. «Wir leben in einem modernen, wissenschaftlichen Zeitalter, das bestimmt wird vom radikalen Graben zwischen Daten und Dingen», sagt Morton. Daten – und seien es Big Data – sind immer interpretationsbedürftig und kontextspezifisch. Gegenstände hingegen stellen eine Mannigfaltigkeit dar, können unter einer potenziell unendlichen Zahl von Gesichtspunkten betrachtet werden, stehen in potenziell unendlichen Beziehungen zu anderen Objekten. Und dieser «radikale Graben zwischen Daten und Dingen» wird desto grösser, je mehr Daten über diese Welt wir haben. Er ist verantwortlich für die «geisterhafte Fremdheit, die unser Dasein heimsucht». Und er ist nicht ganz einfach auszuhalten.
Das Unheimliche dieser Fremdheit ist es nach Morton, das aufbricht in den Kontroversen zwischen Klimaleugnern und Umweltaktivisten. Was die Klimaleugner nicht ertragen können, ist nicht die Drohung der Apokalypse, sondern der schillernde Status des Hyperobjekts – weshalb sie einfach behaupten, es existiere nicht. «Klimaleugnen ist im Grunde eine verschobene Ablehnung des modernen Denkens», sagt Morton.
Die Umweltaktivisten hingegen türmen Daten auf, sichern sich mit möglichst vielen Statistiken ab, verwandeln jede Diskussion, wie Morton maliziös bemerkt, in eine einzige «Daten-Müllhalde». Auch sie versuchen den Graben zwischen Daten und Dingen zuzuschütten. Dabei käme es darauf an, mit dem, was wir wissen, den richtigen Umgang zu finden, unser anthropozentrisches Referenzsystem zu überwinden, sich zu öffnen für das Draussen, für das Gewebe der planetarischen Biosphäre.
Solidarität nach dem Ende der Welt
Ökologisches Denken muss seinen Frieden damit machen, dass unsere Welt voller Gräben und Lücken ist. Das ist die metaphysische Lehre, die durch die Klimakatastrophe unabweisbar wird. Oder, wie Morton es sagen würde: Wir haben keine Welt mehr.
«The End of the World Has Already Happened»: Das ist der Titel einer BBC-Serie von Morton, die diesen Januar ausgestrahlt wurde. Natürlich stellt er nicht die Behauptung auf, dass die Apokalypse stattgefunden habe. Gemeint ist zum einen, dass wir tatsächlich nicht mehr vor, sondern mitten in der Katastrophe stehen. Diese Aussage mag man (mit sehr viel Optimismus) relativieren, wenn man sie auf die Klimaerwärmung bezieht. Sie scheint jedoch kaum mehr bestreitbar im Hinblick auf das aktuelle Massenaussterben der Tier- und Pflanzenarten (das sechste der Evolutionsgeschichte), das bereits weit fortgeschritten ist.
Zum anderen soll das «Ende der Welt» besagen, dass «Welt» als Totalität unserer Erfahrungen und der uns gegebenen Gegenstände nicht mehr denkbar ist. «Das Ganze ist das Unwahre», sagte schon Theodor W. Adorno (der in Mortons frühen Schriften sehr präsent ist). Die Vorstellung der Totalität ist gewissermassen implodiert, eingebrochen im Graben zwischen Ding und Phänomen, zerschellt an der Ungreifbarkeit des Hyperobjekts, sagt Morton: «Es sieht so aus, als hätten wir eine Grenze überschritten, welche das Denken (auch das atheistische Denken) im Rahmen der religiösen Dogmen des Neolithikums einschloss. Die Vorstellung von riesigen, alles umfassenden, tyrannischen Wesenheiten, die grösser sind als wir winzigen, bedeutungslosen Fliegen, die sie benutzen zu ihrer Belustigung, kommt an ein Ende.»
Dem genuin ökologischen Denken geht es um die Umwelt insgesamt – aber es kann nicht mehr aufs Ganze gehen. Sonst tut es nichts anderes, als dass es eine quasireligiöse Naturvorstellung fortschreibt, «mesopotamische» Kategorien aufrechterhält. So, wie es keine unschuldigen Gespräche über das Wetter mehr gibt, keinen gesicherten Horizont unserer Welterfahrung, so gibt es auch keine ganzheitliche Welt. Ökologie ist das exakte Gegenteil von Ganzheitlichkeit.
Aber welches genuine Verhältnis unterhalten wir zu unserer Umwelt nach dem «Untergang der Welt»? «Wir haben die Totalität verloren, aber wir haben Intimität gewonnen», sagt Morton. Mit diesem Bonmot beschreibt er den Kern seines ökologischen Weltverhältnisses. Es geht darum, dass die Menschen sich öffnen können, sich in ein Verhältnis setzen zu allen Gattungswesen in ihrer Biosphäre – was von pseudoreligiösen Kategorisierungen verunmöglicht wird. Das Ganze ist vielleicht nicht das Unwahre, aber jedenfalls das Armselige.
Morton macht diesen Gedanken zum Grundprinzip seiner Philosophie: Das Ganze ist niemals mehr, sondern immer weniger als die Summe seiner Teile. Es ist niemals eine transzendente, umfassende Realität, sondern es ist abstrakter, ärmer als die konkrete Komponente.
Was bedeutet das konkret? Das zentrale Thema von Morton ist das grosse Artensterben und die Herausforderung, wie die Menschengattung mit den anderen Arten in der Biosphäre umgehen soll. Die Vorstellung der deep ecology, dass alle Tiergattungen inklusive Menschen auf derselben Stufe stehen sollen, weist er zwar als absurd zurück. Aber die alles entscheidende Frage bleibt, wie der Mensch mit den anderen Gattungen symbiotisch koexistieren kann. Es ist für Morton das Schlüsselproblem, nicht nur zur Bewahrung der Biosphäre, sondern auch zur Aufrechterhaltung von Gerechtigkeit innerhalb der menschlichen Gesellschaft.
In einer originellen Lektüre von Marx und Kropotkin versucht er zu zeigen, dass echt verstandene Formen der gesellschaftlichen Solidarität die Solidarität mit nicht menschlichen Wesen (also Tieren) zwingend miteinschliessen müssen. So mündet Mortons Ökophilosophie, obschon sie zunächst keine Ethik sein will, in einen starken ethischen Imperativ: «Es ist nicht nur so, dass man sich mit nicht menschlichen Wesen solidarisch zeigen kann. Es geht vielmehr darum, dass Solidarität auch nicht menschliche Wesen mitmeint. Dass sie ohne diese nicht existieren kann. Solidarität muss schlicht und einfach Solidarität mit nicht menschlichen Wesen sein.»