Bibbert, freie Schweizer, bibbert
Die Wirtschaft bereitet sich auf ein Horrorszenario vor. 300’000 gasbeheizte Haushalte bangen. Ist die Schweiz bereit, wenn Putin im Winter die Pipelines nach Europa dichtmacht?
Eine Reportage von Elia Blülle (Text) und Goran Basic (Bilder), 31.08.2022
Kein Gas. Die Anzeige steht auf null. Aus Deutschland fliesst heute nichts.
«Business as usual», sagt Ennio Sinigaglia, ein rothaariger Ingenieur aus Mailand, der eine der Hauptschlagadern der europäischen Erdgasversorgung managt: die Transitgasleitung. Sie führt von Wallbach im Kanton Aargau quer durch die Schweiz, über die Grimsel ins Wallis. Auf 292 Kilometer verbindet dieses Pipelinesystem Deutschland, Italien und Frankreich.
Im Dispatcherraum, der aussieht wie die abgespeckte Kommandozentrale einer Mondmission, überwachen drei Männer die Monitore. Im Sommer werden die Leitungen gewartet, und der Gasfluss wird unterbrochen. Deshalb strömt jetzt gerade für ein paar Tage kein Gas aus Deutschland. Normales Vorgehen. Und trotzdem: In diesem Jahr ist alles anders. Wirklich alles.
Krieg in der Ukraine. Russland hat die Gaslieferung nach Europa gedrosselt.
Neben der Gas- ist auch die Stromversorgung gefährdet, weil die Elektrizitätsproduktion in den Nachbarländern noch immer an den fossilen Energieträgern hängt. Und die Schweiz besonders im späten Winter auf die Importe angewiesen ist. Ein ganzer Kontinent stolpert in den Winter. Was passieren wird, sobald es im Oktober kälter wird und sich die Menschen von der Terrasse wieder aufs Sofa verschieben, weiss so genau niemand.
Wird Putin die Pipeline ganz schliessen? Falls ja, reichen die Vorräte? Ist die Solidarität in Europa stark genug für den Ernstfall? Und vor allem: Hat Deutschland im Gasnotstand auch Erbarmen mit der Schweiz?
Wie viele seiner Angestellten kommt auch Sinigaglia aus Italien. Wohl auch deshalb gibt es in seinen Büros den besten Espresso im Umkreis von Kilometern. Das Verdichtungszentrum, von wo aus die Pipeline gesteuert wird, liegt im luzernischen Ruswil, umgeben von Bauernhöfen und Kühen. Metallene Rohre ragen aus dem Boden. Alle paar Meter stehen Scheinwerfer, die in der Nacht jeden Winkel ausleuchten. Es stinkt nach Mist. Stechfliegen drehen ihre Runden und lechzen nach Blut. Über die Zufahrtsstrasse hetzen frei laufende Hühner zurück in ihren Stall, sobald sich ein Auto nähert.
Kaum jemand würde hier in diesem Luzerner Kaff an der Grenze zum Entlebuch eine der wichtigsten europäischen Energieschaltzentralen vermuten, die sich gerade zum geopolitischen Hotspot entwickelt.
In Ruswil ist der russische Gaskrieg plötzlich ganz nah.
Das Gas – «kein einfacher Freund»
Bis das Erdgas aus Russland im aargauischen Wallbach über die Schweizer Grenze tritt, braucht es etwa sechs Tage. Doch seit Putin mit dem Gashahn spielt, befüllt Deutschland die Pipeline anders und zapft gerade alle Quellen an, die es anzapfen kann: Flüssiggas, das die USA und Katar nach Europa verschiffen und das über die Hafenterminals ins Netz eingespeist wird.
Hinter einfachem Maschendrahtzaun, bewacht von Kameras, verteilen Sinigaglias Angestellte in Ruswil das eingekaufte Erdgas an die Kunden.
Mit mannshohen Turbinen, die ähnlich funktionieren wie die Triebwerke von Flugzeugen, verdichten sie das Gas, kontrollieren so den Überdruck in der Pipeline – und jagen es mit etwa 20 Kilometer pro Stunde durch die Rohre.
Wer in Bern oder Zürich einen Gasherd anwirft, kann davon ausgehen, dass der Druck, der das Gas in die Wohnung transportiert, ursprünglich aus Ruswil stammt.
Deutschland
Wallbach
Basel
Oltingue
Zürich
Frankreich
Ruswil
Österreich
Luzern
Verdichtungszentrum
Bern
Griespass
Italien
Transitgas-Pipeline
Einspeisung in Transitgas
Einspeisepunkte
Einspeisung aus Reverse Flow
Frankreich
Deutschland
Wallbach
Oltingue
Zürich
Österreich
Ruswil
Luzern
Bern
Griespass
Italien
Transitgas-Pipeline
Einspeisepunkte
Verdichtungszentrum
Einspeisung in Transitgas
Einspeisung aus Reverse Flow
«Normalerweise ist das Gas ein guter, aber kein einfacher Freund», sagt Sinigaglia. «Wir müssen es immer, zu jeder Zeit, unter Kontrolle haben. Ansonsten wirds gefährlich. Uns wird es in Ruswil nie langweilig.»
Seit zwanzig Jahren verantwortet er die Transitgasleitung, die in den 1970ern gebaut wurde. Damals war noch der italienische Mineralölkonzern Eni an der Transitgas AG beteiligt, heute gehört die Firma den beiden Schweizer Energieunternehmen Swissgas und FluxSwiss.
Durchschnittlich 90 Prozent des Gases, das durch die Pipeline strömt, verlassen die Schweiz im Wallis nach Italien. Die restlichen 10 Prozent zweigt die Schweiz ab. Sie werden über die regionalen Netzwerke verteilt, wo sie mit einer Schwefelverbindung versetzt werden, einem beissenden Geruchsstoff. So merkt man, wenn es in einer Leitung leckt. Erdgas ist sonst geruchlos.
Sinigaglia und seine Männer kontrollieren zweimal pro Monat das Gelände entlang der Pipeline – einmal zu Fuss und mit dem Auto, ein zweites Mal per Helikopter, um allfällige Unebenheiten am Boden zu erkennen. Regelmässig schicken sie auch einen «intelligenten Molch» durch die Rohre, ein Prüfgerät, das sich wie ein Wurm durch die Pipeline tastet, die Wanddichte und Tausende Schweissnähte prüft. Leckt eine, entdeckt der «Molch» das sofort. In fünfzig Jahren musste Ruswil kein einziges Rohr auswechseln.
Rund 80 Prozent des verbrauchten Erdgases beziehen die Schweizer Kundinnen über die Transitleitung – fast alles aus Deutschland. Einem Land, das am russischen Gastropf hängt wie kaum ein anderes. Der deutsche Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck hat deshalb bereits die zweite Stufe ausgerufen, die Alarmstufe des Notfallplans. Auf der dritten Stufe würde der Staat eingreifen und die Verteilung des Erdgases übernehmen.
In Deutschland steht es um die Versorgung zumindest aktuell noch ganz gut. Die vorläufigen Speicherziele wurden übertroffen, auch weil der industrielle Erdgasverbrauch im Vorjahresvergleich deutlich gesunken ist. Bis zum 1. November will Deutschland seine Speicher zu 95 Prozent füllen. Klaus Müller, Chef der Bundesnetzagentur, die bei einem Mangel das Gas verteilen müsste, warnte noch Mitte August: «Das werden wir kaum hinkriegen.»
Ab September gilt in Deutschland eine neue Verordnung: Der Arbeitsplatz soll höchstens auf 19 Grad geheizt werden dürfen, beleuchtete Werbeanlagen müssen nachts dunkel und die meisten privaten Schwimmbäder kalt bleiben.
Derweil werkeln die Schweizer Behörden noch immer an einer Sparkampagne für den Herbst – ohne dass die Schweiz einen einzigen Gasspeicher auf dem eigenen Staatsgebiet besitzt. «Energie ist knapp. Verschwenden wir sie nicht» soll auf Plakaten stehen, mit denen bald die Schweiz vollgekleistert werden soll. Ergänzt mit diversen Spartipps: Man solle duschen statt baden oder die Heiztemperatur in Räumen senken.
Zudem hat der Bundesrat ein Gas-Sparziel von 15 Prozent beschlossen.
Das Bundesamt für Energie geht sogar davon aus, die Schweiz könne mit den Appellen sogar bis zu 20 Prozent sparen. Eine sehr optimistische Einschätzung, wie René Baggenstos sagt, Partner beim Energietreuhänder Enerprice. Er hilft Geschäftskunden bei der Beschaffung von Energie und kennt deren Sorgen: «Immobilienbesitzer haben eine grosse Rechtsunsicherheit. Stellen diese ihre Heizung auf 19 Grad runter, können Mieter wahrscheinlich einen Mangel einklagen. Ein solches Risiko geht niemand freiwillig ein.»
Wie schwierig es werden könnte, mit den freiwilligen Sparzielen tatsächlich 15 Prozent einzusparen, zeigen die Antworten von diversen Unternehmen auf die Frage, ob sie sich daran beteiligen würden. Und wenn ja, mit welchen Massnahmen.
So weicht zum Beispiel einer der grössten privaten Schweizer Immobilienbesitzer aus, der Versicherungskonzern Swiss Life. Die Firma beheizt gemäss eigenen Angaben 50 Prozent ihrer Immobilien mit Gas. Ein Mediensprecher schreibt auf Anfrage, je nach Liegenschaft seien individuelle Energiesparmassnahmen möglich, die Swiss Life in Absprache mit der Bewirtschaftung im Falle «einer Strommangellage» umsetzen würde.
Der «freiwillige» Spar- und der Solidaritätsappell wecken Erinnerungen an die ersten Monate der Pandemiebekämpfung. Im Frühling 2020 lautete die Aufforderung in Bezug auf das Maskentragen ähnlich. Mit wenig Erfolg.
Immerhin: Wird es ein nicht allzu kalter Winter, hält sich Deutschland an das eigene 20-Prozent-Sparziel; und fallen den Franzosen nicht noch mehr Kernkraftwerke aus, könnte Deutschland den Ernstfall wohl abwenden.
«Doch trotz positiver Entwicklungen könnte Deutschland in eine Lage kommen, in der es nicht mehr alle Nachfragen bedienen kann», sagt der Ökonom Ingmar Schlecht von der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften (ZHAW), der auch Geschäftsführer eines Berliner Beratungsbüros für Energiefragen ist. Es verblüffe ihn deshalb, dass in der Schweiz bisher wenige konkrete Sparmassnahmen oder -anreize erlassen wurden.
Im Vergleich zum deutschen Gasverbrauch ist derjenige der Schweiz ein Klacks: Allein das deutsche Chemieunternehmen BASF verbrennt an seinem Sitz in Ludwigshafen mehr Gas als alle Schweizer Haushalte und die Industrie zusammen. Wird es aber eng um das Erdgas in Europa, zählt plötzlich jede Kilowattstunde Energie, die noch durch die Pipelines fliesst.
Die EU-Regelung sei klar, sagt auch Georg Zachmann, Energiespezialist bei Bruegel, einer renommierten wirtschaftswissenschaftlichen Denkfabrik mit Sitz in Brüssel: «Unterbricht Deutschland den Gasmarkt, würden zuerst die geschützten Kunden in den EU-Mitgliedsstaaten bedient, zum Beispiel Haushalte oder kritische Einrichtungen wie Spitäler. Dann würde man schauen, wie viel noch für die eigene Industrie übrig bleibt. Und dann, ganz am Schluss, wenn alle bedient sind, käme die Schweiz an die Reihe.»
Lieferungen verzögert, Preise vervielfacht
Kein Gas. Kein Strom. Die Fabrik Schellenberg macht keinen Mucks.
Urs Schellenberg, 42 Jahre alt, flitzte als Kind auf dem Palettrolli durch die Hallen seines Vaters. Heute wacht er als Geschäftsführer über die Fabrik.
«Jetzt bekommt man einen Eindruck davon, wie es hier aussähe, wenn Strom und Gas ausfallen würden», sagt Schellenberg, während er mit der Handy-Taschenlampe in die Fabrikhalle zündet. «Ich müsste 120 Angestellte nach Hause schicken. Nicht einmal einen Kaffee kann ich Ihnen anbieten.»
Heute, in den Betriebsferien, lässt Schellenberg die Maschinen und die Trafostation warten, über die seine Fabrik mit Elektrizität versorgt wird. Ein klappernder Schraubenschlüssel bricht die Ruhe. Ansonsten steht alles still.
Schellenberg bedruckt in Fehraltorf im Zürcher Oberland hochwertige Stoffe. Wer im Calida-Pyjama schläft, nächtigt mit hoher Wahrscheinlichkeit in Textilien, die bei Schellenberg durch die Maschinen ratterten. Die Firma Calida ist seine wichtigste Kundin. Seit neustem bedruckt die Fabrik auch Camouflage-Stoffe für die Schweizer Armee. Ein Auftrag, auf den Schellenberg stolz ist. Er hat als Oberleutnant bei den Grenadieren gedient.
Wenn Schellenberg spricht, vermischt sich sein Züritüütsch immer wieder mit einem Thurgauer und Vorarlberger Dialekt. Orte, an denen er als Textilingenieur mehrere Jahre gearbeitet hat, bevor er das Geschäft von seinem Vater übernommen hat. Seit 2011 führt er das Unternehmen, das sein Grossvater 1946 gegründet hat. Der Familie gelang Erstaunliches: Während andere Textilfirmen nach China oder Bangladesh abgewandert sind, blieben sie in Fehraltorf.
Doch die letzten zwei Jahre waren selbst für die Schellenbergs eine Zäsur.
Wegen der Wasserknappheit in den USA, Griechenland und Ägypten haben sich die Baumwollpreise verdoppelt. Auch das Silikon ist knapp. Der Preis für Weichmacher hat sich zwischenzeitlich vervierfacht. Für die Bearbeitung der Stoffe benötigt Schellenberg 700 verschiedene Chemieprodukte. Viele Grundfarbstoffe für die Färbung kommen aus Asien, wo Häfen pandemiebedingt nur reduziert betrieben werden. Ein Containertransport kostet plötzlich 15’000 statt wie früher 1500 Franken.
Die Lieferungen sind massiv verzögert – manchmal nur zwei, drei Tage, aber auch zwei Wochen oder länger. Damit Schellenberg trotzdem produzieren kann, musste er eine zusätzliche Halle anmieten, in der er Stoffe, Chemikalien und Farbe auf Vorrat einlagert: 25’000 Franken zusätzliche Mietkosten pro Monat.
Schellenberg greift nach dem Lieferschein eines fertigen Stoffballens. «1800-Meter-Auftrag für die Firma Schiesser. Knapp 10’000 Stutz», sagt er. «Vor zwei Jahren hätte ich das noch für 30 bis 40 Prozent weniger machen können.»
Die Preise werden noch einmal steigen, denn jetzt schlagen die Energiekosten trotz langfristiger Absicherungen auch in Fehraltorf durch. Um die Stoffe zu bedrucken, benötigt er Dampf. Dafür muss er Wasser auf 200 Grad erhitzen, und das geht nur mit hochwertiger Energie – einer starken Gas-, Öl- oder Holzflamme. Eine Wärmepumpe reicht nicht. Rund 25’000 Megawattstunden Erdgas verfeuert Schellenberg jährlich. Damit bedruckt er 8000 Kilometer Stoff. Das entspricht der Distanz Bern–Peking.
Geht Schellenberg die Energie aus, kann er keinen einzigen Meter mehr bedrucken. Er sagt: «Wir müssen das auf Biegen und Brechen verhindern. Der wirtschaftliche Schaden wäre gigantisch.»
Konstant unter Druck
«Wir sind jederzeit bereit, sollte sich die Lage verändern», sagt Direttore Ennio Sinigaglia in Ruswil. Die Notfallübungen hat sein Team bereits absolviert. Technisch gesehen sei vieles möglich. Seit 2017 kann die Transitleitung ihren Gasfluss umkehren, also Gas auch von Italien nach Deutschland oder von Frankreich nach Deutschland schicken. Wichtig ist vor allem: Aus einem der drei Länder muss konstant Gas fliessen. Ansonsten kann Ruswil den Minimaldruck nicht hochhalten. Und wenn der Minimaldruck unterschritten würde, bräche die Gasversorgung zusammen.
«Wir kümmern uns hier nur um die Technik und die Sicherheit», betont Sinigaglia immer wieder. Der Ein- und Verkauf des Erdgases selbst ist nicht die Aufgabe von Ruswil. Sinigaglia und sein Team können das Gas zwar steuern, aber wohin, das entscheidet der Markt. Wer bereit ist, die hohen Preise zu bezahlen, bekommt Erdgas.
Was aber, wenn es richtig knapp wird, das Angebot die Nachfrage trotz hoher Preise nicht mehr decken kann?
Derzeit sieht der Bundesrat vor, dass Firmen bei drohendem Erdgasmangel auf Erdöl umstellen müssen. In weiteren Schritten würde das Erdgas für die Industrie kontingentiert und Haushalte müssten ihren Verbrauch reduzieren: Heizungen und damit auch warmes Wasser wären nicht ständig verfügbar.
Der Bundesrat bereitet im Moment eine entsprechende Verordnung vor, die dann eintritt, wenn der Schweiz trotz freiwilligem Sparen das Gas ausgeht.
Richtig schlimm würde es, wenn gar kein Gas mehr flösse. Ein unwahrscheinliches Szenario. Aber da die Schweiz ihr Gas vollständig importiert und keinen einzigen Speicher hat, ist das nicht auszuschliessen.
Viele müssten dann bibbern: Besonders in Deutschschweizer Städten wie Zürich, Basel und Bern sind rund die Hälfte aller Haushalte mit Gas beheizt. Die Romandie wird teilweise über das französische und das Tessin über das italienische Netz versorgt. Am kritischsten ist die Lage für die Deutschschweiz und ihre grossen Städte. Sie hängen fast vollkommen an der Transitgaspipeline. Und an dieser Stelle kommt Ruswil ins Spiel.
Die Schweiz ist zwar extrem abhängig von der Pipeline, aber gleichzeitig ist sie auch das einzige Schweizer Pfand im Ringen um die einheimische Gasversorgung. Laut Konzessionsvertrag dürfte die Schweiz – ohne sich mit Nachbarländern abzusprechen – Erdgas von der Pipeline abzwacken, sollte das Land in eine Notlage schlittern. Die regionalen Schweizer Gasnetzwerke verfügen über Ventile zu den Leitungen und können so eigenständig Gas entnehmen – in einer Notlage theoretisch auch Erdgas, das bereits bezahlt und für Kunden in den Nachbarländern bestimmt ist.
Selbstverteidigung in der Not oder Plünderung?
Damit sich der Bundesrat diese Frage erst gar nicht stellen muss, verhandelt er mit Italien und Deutschland um Solidaritätsabkommen, die im Ernstfall greifen und eine Isolation der Schweiz verhindern sollten.
Gemäss der «SonntagsZeitung» soll die Schweiz in Verhandlungen die Abzwack-Artikel auch ins Spiel gebracht haben. Eine Drohung, die laut der Zeitung zu «geharnischten Reaktionen» aus Italien geführt habe.
Für Ärger sorgte in Brüssel auch die Schweizer Zurückhaltung beim Sparen.
Mittlerweile hat die Schweiz die EU-Sparziele zwar übernommen, aber alle Massnahmen bleiben freiwillig. «Die Schweiz konsumiert fröhlich weiter, als wäre nichts», sagt der Ökonom Ingmar Schlecht. «Zieht sie nicht bald nach, wird es immer schwieriger, EU-Lieferungen in die Schweiz zu rechtfertigen.»
Und Energieexperte Georg Zachmann sagt: «Sobald die Gasverteilung staatlich administriert wird, ändert sich vieles. Zum Beispiel müsste sich die deutsche Regierung fragen, ob sie das Gas für den Industriebetrieb im Osten rationieren soll, damit der Schweizer Luxusuhrenhersteller produzieren kann. Nicht mehr die Preise und der Markt regeln dann den Gasfluss, sondern die Politik. Alles wird viel unberechenbarer, komplexer.»
Zachmann betont deshalb, wie wichtig es sei, bereits heute, vor dem Winter, die Nachfrage schnell zu senken und Energie zu sparen. «Jetzt kann Europa die grenzüberschreitende Gasverteilung noch entpolitisieren», sagt er.
Chaos vorprogrammiert
Der Bundesrat kann Sparbefehle nur im Notrecht erlassen, da noch genügend Gas fliesst. Präventives Einschreiten sieht das Gesetz nicht vor.
«Wir sind noch weit weg davon, irgendwem den Gashahn zuzudrehen», sagte Bundesrat Guy Parmelin deshalb am Sonntag in einem Interview. «Der Bundesrat kann und will nicht einfach Verbote auf Vorrat verordnen.»
Energietreuhänder René Baggenstos sagt, der Bundesrat hätte Grund dazu, die Notlage schon heute auszurufen: «Der Markt funktioniert nicht mehr wirklich. Er ist bezüglich Terminprodukten tot. Der Strom- und Gashandel ist heute fast nur noch auf dem Spotmarkt zu exorbitanten Preisen möglich.»
Je länger die Haushalte mit dem Sparen abwarten, desto schwieriger dürfte es in der Mangellage werden, die Nachfrage rasch zu senken. Baggenstos sagt, er selbst wisse nicht, wie genau er bei sich zu Hause die Heiztemperatur anpassen könne: «Jetzt müssen alle ihre Haustechniker und Hauswarte losschicken, um die 19 Grad Solltemperatur einzustellen.»
Entsteht eine Notlage, müssen alle auf einmal ihre Temperaturen einstellen und sind auf Fachleute angewiesen. Und dann bricht erst recht Chaos aus.
Noch vertrackter macht die Lage, dass die Verhandlungen um die Solidaritätsabkommen mit Deutschland und Italien stocken. Und ohne Abkommen sind viele der bisher getroffenen Vorkehrungen gefährdet.
Doch auch mit Abkommen gäbe es keine Garantie, dass die Schweiz in einer europäischen Notsituation auf ihre Nachbarn zählen kann, wie Bundesrätin Simonetta Sommaruga an einer Medienkonferenz selbst zugegeben hat.
Um im Notfall doch noch auf Gasreserven zugreifen zu können, hat der Bundesrat die Energiebranche dazu verpflichtet, zusätzliche Speicherkapazitäten in den Nachbarländern und Optionen zu kaufen – also eine bestimmte Gasmenge, die erst in der Zukunft geliefert werden soll.
Nur: Das sind Verträge mit privaten Unternehmen, die im Falle einer Mangellage, also höherer Gewalt, nicht mehr viel wert sein dürften.
Mit Frankreich verfügt die Schweiz über einen Staatsvertrag, der ihr auch in Not das Erdgas aus den Speichern bei Lyon zusichern soll. Ob das aber im Ernstfall tatsächlich geschehen würde, kann die Schweiz nur hoffen.
Dem Textildrucker Urs Schellenberg aus Fehraltorf ist das alles zu unsicher.
Schellenbergs Traum
Er hat im Frühling 2 Millionen Liter Heizöl gekauft, die bis zum nächsten Spätsommer 2023 reichen sollten.
Im Herbst wird er den Knopf im Keller drücken und seinen Dampfkessel mit Erdöl anstatt Gas beheizen. «Es ist meine Pflicht als Unternehmer, jenen das Gas zu überlassen, die es wirklich benötigen.»
Schellenberg fährt mit dem Tesla vor, im Eingangsbereich seiner Firma hängen Dutzende Umweltzertifikate, die seine Fabrik erhalten hat. Mit der Abwärme seiner Maschinen beheizt er mehr als hundert Haushalte. «Viel zu wenig», wie er findet. «Da geht noch einiges mehr.» Bald will er eine Hochdruckwärmepumpe für die Textilwäsche installieren, die auf weniger hohe Temperaturen angewiesen ist als die anderen Druckmaschinen.
«Eine super Solaranlage auf dem Dach, eine geile Gasheizung mit Schweizer Biogas und nebendran eine kleine Holzschnitzelanlage, um die Grundlast abzudecken», sagt Schellenberg. «Das wäre mein grosser Traum.»
Aber um die Solaranlage zu montieren, müsste er zuerst das Dach sanieren. Allein das würde laut Schellenberg 3 bis 4 Millionen verschlingen. Geld, das er im Moment nicht hat, weil er in neue Maschinentechnologien zur Energieeinsparung investiert.
«Es soll niemandem Geld geschenkt werden», sagt Schellenberg, der auch im Vorstand des Wirtschaftsdachverbands Economiesuisse tätig ist. «Aber es benötigt jetzt gescheite Fördermittel. Ein zinsloses Darlehen würde mir reichen, und wir könnten noch mehr in die Dekarbonisierung investieren.»
Zuerst verhunzt die Umstellung auf Erdöl aber Schellenbergs Klimabilanz. Sein CO₂-Ausstoss wird diesen Winter um ein Drittel steigen. Er muss noch einmal 125’000 Franken für zusätzliche CO₂-Zertifikate zur Seite legen.
Müssen alle Unternehmen mit Zweistoffanlagen auf Erdöl umstellen, wird das die kurzfristigen Schweizer Emissionsziele endgültig sprengen. Das Umweltdepartement (Uvek) schreibt auf Anfrage, zum heutigen Zeitpunkt seien keine Abschätzungen zu Mehremissionen möglich.
Schellenberg könnte sich jetzt auch eine Holzschnitzelheizung anschaffen und wäre klimaneutral. «Dann würde ich aber täglich 150 Kubikmeter Holz verfeuern», meint er. «Was geschieht, wenn das alle machen? Wir fänden das genau zwei Jahre lang lustig. Und dann? Wo sollen dann all die regionalen Holzschnitzel herkommen?»
150 Kubikmeter Holz entsprechen im Schnitt ungefähr 150 Fichten.
Schellenberg versteht es als seine unternehmerische Pflicht, den Familienbetrieb mit allen Abstrichen und Kompromissen durch die Energiekrise zu navigieren und gleichzeitig die Fabrik klimaneutral umzurüsten. Denn das sei schlichtweg auch wirtschaftlich notwendig.
«Jeder Liter Erdöl, den ich nicht verheize, jede Kilowattstunde Strom, der in der Dose bleibt, kostet nichts», sagt er. «Nachhaltigkeit heisst Geld sparen.»
Zuerst der harte Winter
Im luzernischen Ruswil weiss auch Ennio Sinigaglia, der fast sein ganzes Leben für die Gasindustrie gearbeitet hat: Das Zeitalter fossiler Energie ist vorbei. «Wir sollten nicht nur über Russland und die Energiekrise nachdenken», sagt er. «Sondern auch darüber, wie wir unsere Infrastruktur auf umweltfreundliche Gase und Technologien umrüsten können.»
Alles, was Ruswil heute ersetzt oder neu anschafft, kann auch Wasserstoff transportieren. Ob Wasserstoff aber wirklich so zukunftsfähig ist, wie das die Gasindustrie gerne behauptet, ist umstritten. Und vor allem ist sie weit davon entfernt: Es fliessen noch immer 99 Prozent fossiles Erdgas durch die Rohre.
Sinigaglia sagt, die Umstellung benötige Zeit. Aber die Pipeline transportiere zwischen 60 und 120 Terawattstunden Energie pro Jahr. Zum Vergleich: Das Atomkraftwerk Leibstadt produziert im Vollbetrieb rund 9,6 Terawattstunden pro Jahr. «Bevor wir die Transitgaspipeline stilllegen, sollten wir uns das sehr gut überlegen.»
Möglich, dass die Energiekrise und die hohen Erdgaspreise dem Wasserstoff längerfristig zum Durchbruch verhelfen. Letzte Woche hat Deutschland mit Kanada einen Liefervertrag abgeschlossen. Ab 2025 wird Kanada grünen Wasserstoff nach Europa transportieren, der mittels Elektrolyse aus Wasser und erneuerbaren Energiequellen gewonnen wird. Und auch China investiert gerade massiv in die Technologie und Industrie.
Aber das ist alles Zukunft. Zuerst kommen jetzt ein, wohl zwei harte Winter. Ennio Sinigaglia und Urs Schellenberg bereiten sich seit Wochen darauf vor.
Und der Bundesrat?
Heute Mittwoch lanciert er erst einmal die langersehnte Sparkampagne.