Das Greenwashing der Schweizer Gasbranche
Das Zeitalter von Gas geht zu Ende. Doch die Lobby preist es als klimafreundlichen Energieträger der Zukunft an – entgegen den Leitsätzen des Bundes und im Widerspruch zu vielen Städten.
Eine Recherche von Simon Schmid (Text) und Davide Baroni (Illustration), 07.10.2020
«Die freundliche Energie»: Unter diesem Motto wurde Erdgas in der Schweiz jahrelang vermarktet. Es war die Zeit, als noch keine Klimajugend auf den Strassen protestierte und als Erdgas für sich in Anspruch nehmen konnte, neben dem schmutzigen Erdöl der «saubere» fossile Energieträger zu sein.
Um das grüne Image zu unterstreichen, wurde aus der Marke «Erdgas» vor ein paar Jahren «Erdgas – Biogas». Und seit letztem Jahr läuft die Promotion schliesslich unter einem ganz unverdächtigen Label: Gazenergie.
Die Branche will damit betonen, dass Gas «eine wichtige Rolle in der Energieversorgung von morgen» spiele, ja sogar «Teil der Lösung» für das Klimaproblem sei. Der Verband der Schweizerischen Gasindustrie fährt Kampagnen fürs «zuverlässige» Heizen, für «umweltschonendes» Autofahren, fürs «energieeffiziente» Kochen, für Biogas aus Äpfeln. Und er verspricht sogar: «Die Gasversorgung der Zukunft ist klimaneutral.»
Fakt ist: Durch Schweizer Rohre fliessen noch immer 99 Prozent fossiles Gas. Nur 1 Prozent ist erneuerbares Gas. Dieses Verhältnis umzukehren – ohne den Stellenwert von Gas insgesamt stark zurückzustutzen –, ist ein Ding der Unmöglichkeit. Kaum jemand in der Fachwelt kann sich vorstellen, wie die klimafreundliche Rhetorik der Gaslobby mit der Wirklichkeit vereinbar ist.
Die Republik hat mit einem Dutzend Expertinnen gesprochen, eine Umfrage unter den grössten Gasversorgern durchgeführt und in Gemeinden nachgefragt, die sich mit ihrer Gasinfrastruktur auseinandersetzen müssen. Und zig Studien über die zukünftige Rolle von Gas durchgearbeitet.
Das Fazit dieser Recherche: Die Gasbranche steht vor einer fundamentalen Transformation. Teils geht sie diese proaktiv an, teils zögert sie sie hinaus.
Und teils verschleiert sie, worum es geht. Besonders der Gasverband betreibt aktives «Greenwashing»: Er zeichnet Zukunftsszenarien, die nicht eintreten können – und spricht über alles Mögliche, nur nicht über das, worüber er eigentlich sprechen müsste: die Notwendigkeit, den Ausstieg zu planen.
Wozu wir Gas noch brauchen
Geologisch gesehen ist Erdgas ein alter Rohstoff. Die Lagerstätten, aus denen es gefördert wird, entstanden vor vielen Millionen Jahren. In der Schweiz wird es aber noch nicht lange genutzt. Erst in den 1970er-Jahren nahm der Verbrauch massgeblich zu. Erdgas wird primär zum Heizen eingesetzt, daneben in der Industrie. Dort wird es etwa für chemische Prozesse genutzt, die hohe Temperaturen erfordern. Seit 2010 ist der Verbrauch recht konstant.
Der Hauptbestandteil von Erdgas ist Methan. Es trägt die chemische Formel CH4. Wird es verbrannt, entstehen Wasserdampf und das Treibhausgas CO2. Und Energie: Rund 34 Terawattstunden davon bezogen Schweizer Haushalte und Unternehmen vergangenes Jahr. Das entspricht ungefähr einem Siebtel des gesamten Energieverbrauchs. Aus Klimasicht ist Erdgas verantwortlich für rund ein Fünftel der energiebedingten CO2-Emissionen der Schweiz.
Diese Emissionen müssen verschwinden, wenn das Netto-null-Ziel bis 2050 erreicht werden soll. Und sie werden sukzessive verschwinden: Davon ging der Bund bereits vor sieben Jahren aus, als er letztmals eine Rundumschau vornahm. Je nach Energiepolitik würden Mitte Jahrhundert bis zu 70 Prozent weniger Erdgas gebraucht, stellte er damals fest. Diesen Herbst wird der Bund ein neues Set von Szenarien publizieren. Erwartet wird, dass der Erdgasbedarf in den aktualisierten Energieperspektiven noch tiefer fällt.
Das ergibt Sinn, sagen Klimaexpertinnen. Manche fordern, dass die Schweiz sogar schon 2040 auf Erdgas verzichten sollte. Denn es gibt Bereiche wie die Landwirtschaft, in der eine vollständige Dekarbonisierung fast nicht möglich ist. Umso wichtiger wäre es, rasch aus Erdöl und Erdgas auszusteigen.
Zur Recherche: «Europa in der Erdgasfalle»
Gaspipelines und Kraftwerke, die niemand braucht: Dank perfektem Lobbying in Brüssel gelingt es der Energieindustrie, mit staatlicher Hilfe 100 Milliarden Euro in Projekte zu investieren, die den Klimaschutz auf Jahrzehnte blockieren.
Doch der Gasverzicht ist eine Herausforderung. Vor allem in der Schweizer Industrie, die aktuell für ein Drittel des Verbrauchs verantwortlich ist. Anders als bei den Haushalten, die statt mit Gas auch mit Wärmepumpen heizen und mit Stromherden kochen können, gibt es in der Industrie oft keine Alternativen.
Zum Schmelzen von Metallen oder zum Trocknen von Werkstoffen braucht es hohe Temperaturen. Allein im Bereich von über 1000 Grad würden rund 7 Terawattstunden dieser sogenannten Prozesswärme gebraucht, schätzt Jürg Rohrer, Energieforscher an der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften. Zwischen 500 und 1000 Grad sind es weitere 6 Terawattstunden.
Ausnahmslos alle Fachpersonen, mit denen die Republik gesprochen hat, sagen daher, dass gasförmige Brennstoffe in Zukunft primär für Prozesswärme eingesetzt werden sollten – weil man dort fast nicht um sie herumkommt.
Das Biogasproblem
Die grosse Frage ist, woher diese Brennstoffe kommen sollen. Gas, das durch hiesige Leitungen strömt, ist zurzeit fast ausschliesslich fossilen Ursprungs. Es kommt über Pipelines aus Ländern wie Russland und Norwegen und teils als Flüssiggas aus Katar oder den USA via europäisches Netz in die Schweiz.
Biogas aus Schweizer Eigenproduktion, das beispielsweise aus Klärschlamm, Gülle, organischen Abfällen, Grüngut oder Holz gewonnen wird, macht zurzeit eine «lächerlich kleine Menge» aus, wie es ein Geschäftsführer eines regionalen Versorgers in der Ostschweiz formuliert. Und auch in Zukunft sieht es nicht viel besser aus. Studien beziffern das Potenzial von Biogas auf bloss rund 10 Prozent des jetzigen Verbrauchs – auf 3 bis 4 Terawattstunden.
Selbst wenn das gesamte Potenzial abgeschöpft wird – und darauf verzichtet wird, einen Teil davon für die Stromproduktion zu verwenden –, reicht dies also noch nicht einmal, um die Bedürfnisse der Industrie abzudecken.
Und genau hier liegt einer der zentralen Widersprüche in der Politik der Gasindustrie. Sie setzt ihre Priorität im Haushaltsmarkt: Bis 2030 sollen dort 30 Prozent erneuerbares Gas geliefert werden. Von Genf bis Kreuzlingen machen die Versorger deshalb Werbung für Biogas. Die meisten von ihnen mischen ihrem Standardprodukt 10 Prozent bei, Kundinnen können aber auch bis zu 100 Prozent Biogas beziehen. Orte wie Wil, Burgdorf oder Thalwil zahlen Kunden sogar Prämien bis zu mehreren tausend Franken, wenn sie eine neue Gasheizung einbauen und sich gleichzeitig für Biogas entscheiden.
Diese Aktionen sind an und für sich löblich – sie schaffen eine Nachfrage für ein ökologisches Produkt und erhöhen die Investitionssicherheit. Praktisch in jeder Ecke des Landes gehen zurzeit denn auch Biogasanlagen in Betrieb.
Doch die Biogas-PR täuscht darüber hinweg, dass es in der Schweiz niemals genug Kapazitäten geben wird, um den Haushaltssektor in einem ähnlichen Ausmass wie heute zu beliefern – geschweige denn die Industrie. «Das Biogasangebot der Schweiz genügt nicht einmal, um den Bedarf im Kanton Luzern zu decken», sagt Jürgen Ragaller, Klimaexperte des Kantons Luzern.
Folglich müsste die Schweiz auch beim Biogas auf Importe setzen. Das tut sie bereits heute: Praktisch kein Lokalversorger ist in der Lage, seinen Kunden ausschliesslich eigenes Biogas zu liefern. Das Gas stammt aus Deutschland oder Dänemark, wo es hergestellt und ins Gasnetz eingespeist wird.
Physisch gelangt dabei weiterhin Erdgas in die Schweiz – der Import ist rein rechnerischer Natur. Er basiert auf dem Versprechen, dass die deutsche oder dänische Produzentin das «Bio»-Label nicht ein weiteres Mal verkauft, sprich, dass das Biogas aus der dortigen CO2-Statistik herausgerechnet wird.
Eine Garantie dafür, dass das wirklich passiert, gibt es derzeit nicht, denn die Biogasregister der jeweiligen Länder sind nicht synchronisiert. Doch auch wenn dies bald geschehen sollte, bleibt ein Problem: Andere europäische Länder sind ebenfalls auf Biogas angewiesen – wegen ihrer hohen Gasabhängigkeit sogar noch stärker als die Schweiz. Gemäss dem aktuellen Leitkonzept der 2000-Watt-Gesellschaft – einer vom Bund unterstützten Leitlinie, die unter anderem die Treibhausgasbilanzierung für Städte und Gemeinden standardisiert – können diese das importierte Biogas konsequenterweise nicht anrechnen, um ihre Klimaziele zu erreichen.
Der Gasverband schreibt, bei seinem 30-Prozent-Ziel gehe es darum, den Markt für erneuerbare Gase zu entwickeln. «Wie die Erfahrung zeigt, sind Hauseigentümer gern bereit, in erneuerbare Energien zu investieren.»
«Dieses Ziel für den Haushaltsbereich ist ein reiner Werbegag», entgegnet Thomas Blindenbacher, Leiter der Fachstelle 2000-Watt-Gesellschaft Schweiz. «Für den dezentralen Wärmemarkt ist das Biogaspotenzial viel zu klein.»
Die Wärmeversorgung bis 2050 weitgehend zu dekarbonisieren, ist möglich. Das zeigt eine Studie der Wärmeinitiative Schweiz, einer Allianz von Firmen im Bereich Gebäudetechnik. Dies, indem man vor allem auf Wärmepumpen setzt und daneben den Ausbau von Fernwärmenetzen vorantreibt. Anders als die Gasindustrie suggeriert, wird Biogas als Ersatz von Erdgas aber kaum ins Gewicht fallen. «Biogas ist zu kostbar, um zum Heizen in die Fläche verteilt zu werden», sagt Autor Martin Jakob vom Consultingbüro TEP Energy.
Ein kleiner Etikettenschwindel
Biogas ist darüber hinaus auch nicht so klimafreundlich, wie die Gaslobby gerne behauptet. Das geht ironischerweise aus der Studie hervor, auf welcher der Ökobilanz-Heizrechner des Gasverbands basiert. Man erkennt das, wenn man die Studie richtig liest und fehlende Angaben ergänzt.
Die Studie quantifiziert, wie viel Treibhausgas eine Heizung erzeugt:
Heizöl weist die schlechteste Klimabilanz auf. Pro Kilowattstunde Wärme werden hier 347 Gramm CO2 ausgestossen.
Erdgas ist ungefähr ein Viertel weniger klimabelastend als Öl (daher kommt ursprünglich sein guter Ruf).
Biogas ist nochmals rund die Hälfte besser als Erdgas. Allerdings bleiben auch hier im Schnitt noch rund 130 Gramm CO2-Äquivalente, wie aus dem bereits erwähnten Bericht des Bundesamts für Energie hervorgeht. Dies, weil bei der Produktion jeweils Methan aus den Anlagen entweicht – ein Treibhausgas.
Fernwärmenetze schneiden etwas besser ab als Biogas.
Noch besser sind Wärmepumpen, und am besten sind Heizungen mit Holz. Hier ist die Klimabilanz zurzeit etwa viermal besser als bei Biogas.
Nimmt man an, dass sich die Technik verbessert und dass Strom und Wärme erneuerbar bereitgestellt werden, so reduziert sich künftig die Belastung. Allerdings bleibt Biogas auch dann noch in der Mittelklasse. Das Mittel der Wahl werden Wärmepumpen – mit nur 18 Gramm CO2 pro Kilowattstunde.
Wer sich beim Gasverband über diese Zahlen informieren möchte, würde aber nicht unbedingt darauf kommen. Denn der Ökorechner, den er online anbietet (und via Paid-Post-Artikel bei Tamedia-Zeitungen bewirbt), weist beim Biogas nicht den Durchschnittswert aus, den die Studie für die Zukunft ermittelt hat. Sondern einen «optimierten» Biogaswert.
Wie aus dem Papier hervorgeht, handelt es sich dabei um einen «Best Case». Dieser wird in einem Solothurner Klärwerk erzielt, das «Strom und Wärme der danebenliegenden Kehrichtverbrennungsanlage nutzt und ihre Abluft in die Anlage zurückführt». Diese Ausnahmeanlage kommt auf nur 8 Gramm CO2 pro Kilowattstunde – statt auf die durchschnittlichen 68 Gramm CO2.
Durch diesen Kniff erscheint Biogas in der Auswertung an erster Stelle. Wer etwa für ein 6-Zimmer-Einfamilienhaus die klimafreundlichste Heizung sucht, dem wird weisgemacht, ein Brenner mit Biogas werde 2050 die beste Lösung sein – doppelt so gut wie eine Wärmepumpe. Dies entgegen der eigenen Studie, die besagt, dass die Wärmepumpe fast viermal besser ist.
Der Gasverband schreibt, er habe mit dem Rechner zeigen wollen, «was erreichbar ist, falls alle Anlagen den technischen Stand der besten Anlagen erreichen». Dass dies bis Mitte Jahrhundert passiere, sei «sehr realistisch». In der unterliegenden Studie steht allerdings, dies sei nicht untersucht worden.
Expertinnen sind deshalb skeptisch. «Biogas an sich ist ein guter Rohstoff», sagt Kurt Egger vom Beratungsbüro Nova Energie, der für die Grünen auch im Nationalrat sitzt. «Doch es ist fragwürdig, den Hausbesitzern zu erzählen, darauf baue die Wärmeversorgung der Zukunft.» Viel sinnvoller wäre laut Egger das Ziel, im Haushaltsbereich ganz von Gasheizungen wegzukommen.
Davon will der Gasverband aber nichts wissen. Stattdessen baut er in seinen Broschüren an einem zweiten, noch viel flüchtigeren Luftschloss.
Eine grosse Zukunftsvision
Wasserstoff ist vielleicht der grösste Hype, den es in der Energiewirtschaft aktuell gibt. Oft wird darüber im Zusammenhang mit sogenannten Power-to-Gas-Verfahren gesprochen, bei denen Strom zu Gas umgewandelt wird. Länder wie Japan oder Deutschland haben sogar bereits eine eigene Wasserstoffstrategie. Auch in der Schweiz ist eine solche in Vorbereitung.
Die Idee dabei ist, dass dereinst mit Solar- und Windenergie zeitweise viel überschüssiger Strom entsteht. Daraus könnte Wasserstoff produziert werden. Mit diesem liessen sich klimafreundlich Schiffe oder Lastwagen betanken, Hochtemperatur-Industrieprozesse betreiben und Strom produzieren. Oder Wasserstoff könnte – in «methanisierter» Form – als synthetisches Gas überall da genutzt werden, wo man heute Erdgas braucht.
Das bringt die Augen beim Gasverband zum Leuchten. «Nur mit Wasserstoff können die Klimaziele der Schweiz effizient erreicht werden», schreibt er in seinen «Thesen 2020». Der Verband will Wasserstoff ins Netz beimischen, Leitungen für Wasserstoff umrüsten oder sogar neue Leitungen bauen.
Doch die Probleme sind dieselben wie beim Biogas: Aktuell gibt es praktisch noch keinen Wasserstoff auf dem Markt. Und selbst wenn es 2050 grössere Mengen Wasserstoff und synthetische Gase gibt, sollten diese nicht primär fürs Heizen von Einfamilienhäusern oder Wohnsiedlungen genutzt werden. «Mobilität und allenfalls Prozesswärme stehen im Vordergrund», sagt Martin Rüdisüli, Energieforscher bei der Materialforschungsanstalt Empa.
In seinem Prospekt verweist der Gasverband auf Studien, die Rüdisüli mitverfasst hat. Die Botschaft: Allein aus überschüssigem Solarstrom liesse sich eine Menge synthetisches Gas herstellen (es wären rund 5 Terawattstunden).
Eine Win-win-Situation für Strom und Gas, folgert der Verband. Vergessen geht, dass in diesem Szenario drei Viertel aller Häuser schon mit Wärmepumpen ausgerüstet sind. Synthetisches Gas für den Haushaltssektor braucht es dann gar nicht mehr. Das Gas würde für andere Zwecke genutzt.
Fraglich ist auch, ob sich die Wasserstoffproduktion in der Schweiz lohnen würde. Um die dazu nötigen Elektrolyseanlagen auszulasten, müssten diese 3000 bis 6000 Stunden pro Jahr laufen können, schätzen Expertinnen. Das entspricht 125 bis 250 Sommertagen à 24 Stunden. «Faktisch wird es aber auf absehbare Zeit auch im Sommer nur während weniger Stunden pro Tag Überschussstrom geben», sagt Elmar Grosse Ruse, Experte beim WWF. «Der Businesscase ist schwach.»
Das Fraunhofer-Institut für Energiewirtschaft und Energiesystemtechnik kam zum Schluss: Deutschland wäre nicht in der Lage, genug Wasserstoff für den Eigenbedarf zu produzieren. Das Fazit gilt auch für die Schweiz.
Manche Fachleute sehen das nicht als Problem. Ronny Kaufmann, Chef der Stadtwerke-Allianz Swisspower, zählt zu ihnen. «Beim Strom gehen wir davon aus, dass wir ihn von dort importieren können, wo er am günstigsten produziert wird», sagt er. «Wieso soll das nicht für Wasserstoff gelten?» Das Potenzial sei riesig, etwa in der Nordsee, in Island oder auch in Nordafrika.
Was tatsächlich für Gas spricht, ist das europäische Netz. Anders als manche Stromtrassen, die von der Nordsee her erst gebaut werden müssen, existieren die Pipelines bereits. Fraglich ist aber, welcher Wasserstofftyp am Ursprung stehen würde: Die Gaslobby in der EU setzt sich stark für «blauen», wenig klimafreundlichen Wasserstoff ein, wie eine in der Republik publizierte Recherche des Journalistenkollektivs Investigate Europe aufgezeigt hat.
Auch der Gasverband zählt «blauen» Wasserstoff zu den «erneuerbaren und kohlenstoffarmen Gasen», den die Schweizer Gasinfrastruktur zumindest übergangsmässig aufnehmen könnte. Er preist Wasserstoff als «idealen Energieträger» an, um die Versorgung «nachhaltig auszurichten».
Sicher: Power-to-Gas ist eine verheissungsvolle Technologie. Doch bis sie in grossem Stil ausgerollt ist, wird Zeit vergehen. Die Wärmeversorgung in der Schweiz darauf auszurichten, führt auf die falsche Fährte. Denn egal wie man zum Klima steht: Das Gaszeitalter geht ohnehin zu Ende – und zwar bald.
Die Klimapolitik zieht an
Die Politik ist nämlich bereits zwei Schritte weiter. Einen Schritt haben die Kantone gemacht: Manche von ihnen haben zuletzt neue Energiegesetze beschlossen und dabei die sogenannten Mustervorschriften im Energiebereich umgesetzt – Richtlinien, die festlegen, wie gebaut und geheizt werden darf.
Einer dieser Kantone ist Luzern. Dort werden seit deren Einführung im vergangenen Jahr bei Umbauten weniger als 5 Prozent fossile Heizungen installiert. Auch in Basel-Stadt liegt die Gasheizungsquote faktisch bei null.
Den zweiten Schritt ist der Bund kürzlich mit dem CO2-Gesetz gegangen. Er ist noch bedeutsamer: Ab 2023 gilt eine Emissionsgrenze pro Quadratmeter Wohnungsfläche. Diese müssen eingebaute Heizungen einhalten. Der Wert wird alle fünf Jahre gesenkt (für Biogas liegt er jeweils doppelt so hoch).
Faktisch kommt dies laut Expertinnen einem Einbauverbot von Ölheizungen ab 2023 gleich. 2028 dürfen dann in einem Grossteil der Gebäude auch keine Gasheizungen mehr installiert werden – es sei denn, jemand hat Solarzellen installiert oder sich auf Jahre hinaus für den Bezug von Biogas verpflichtet.
Wenn gegen Ende des Jahrzehnts die letzten Gasheizungen in Schweizer Kellern montiert werden, dann bedeutet das in der Folge, dass gegen Mitte des Jahrhunderts die letzten Gasheizungen ausser Betrieb gehen werden.
Für die Energieversorger bricht damit eine Zeitenwende an. Bis vor wenigen Jahren konnten sie auf einen steigenden Absatz von Erdgas zählen. Jetzt steht die Gegenbewegung ins Haus: Die Kunden fallen nach und nach weg.
Was auf dem Markt passieren wird
Die Versorger wissen das. Sämtliche Unternehmen, die der Republik auf einen Fragenkatalog geantwortet haben, rechnen mittelfristig mit einem rückläufigen Geschäft. «Wir gehen klar davon aus, dass der Gasabsatz in den nächsten Jahren zurückgehen wird, da sich die Kundinnen und Kunden zukünftig bei der Heizungserneuerung systematisch für erneuerbare Lösungen entscheiden werden», schreibt etwa die Zürcher Energie 360°.
Für die Branche bricht damit eine schwierige Zeit an. Zusätzlich zur Dekarbonisierung kommt nämlich auch eine Deregulierung auf sie zu. Ein neues Gasgesetz, geplant für die parlamentarische Beratung im Herbst 2021, wird den Markt liberalisieren. Bisher herrschen Monopole: Kommunale Werke haben das exklusive Recht, auf ihrem Versorgungsgebiet Gas zu verkaufen. Neu werden Kundinnen ihre Gaslieferanten frei wählen können.
Das bedeutet: Es gibt einerseits einen Wettbewerb bei den Gaspreisen. Und der Tarif, den die Versorger andererseits für den Netzanschluss verrechnen können, wird vom Bund reguliert – so, dass er die Kosten der Versorger gerade deckt. Das bedeutet: Die Einnahmen aus dem Gasgeschäft sinken.
Wie stark, ist von Ort zu Ort unterschiedlich. In der Zentralschweiz hat die Wettbewerbskommission den Markt diesen Sommer bereits geöffnet, mit Wirkung auf die ganze Schweiz. René Baggenstos, Chef der Energielieferantin Enerprice, die bei der Wettbewerbskommission geklagt hatte, verspricht, Gas könnte (abzüglich der Netzkosten) 20 bis 40 Prozent günstiger werden.
Der Preis- und Mengenrückgang wird die Versorger hart treffen. Denn für viele Stadtwerke ist das Gasgeschäft bisher eine goldene Gans. Wie viel Gewinn die Branche insgesamt erzielt, weiss zwar niemand – nicht einmal das Bundesamt für Energie. Doch die Zahlen, die bekannt sind, legen nahe, dass es schweizweit Hunderte von Millionen Franken sind.
Ich will es genauer wissen: Gewinne aus dem Gasgeschäft
Schweizer Gemeinden erzielen mit Erdgas grosse Gewinne. Die genauen Zahlen werden meist geheim gehalten. Doch einige Beispiele zeigen die Grössenordnung auf. In Zürich hat Energie 360° letztes Jahr etwa 58 Millionen Franken verdient, zu einem Grossteil mit dem Verkauf von Erdgas. Die Fribourger Groupe E, die neben Gas auch Strom, Wasser und Glasfaser anbietet, erzielte ein Fünftel ihres Gewinns von 75 Millionen Franken mit Gas, wie Bereichsleiter Pascal Abbet sagt.
Das Verbundsunternehmen von Luzern erwirtschaftet sogar 60 Prozent seines Gewinns mit Gas. Beim Glattwerk der Stadt Dübendorf im Kanton Zürich waren es 2017 66 Prozent des Betriebsgewinns. SH Power aus Schaffhausen hat in den vergangenen Jahren jeweils zwischen 5 und 8 Millionen Franken mit Erdgas verdient. Auch kleinere Ortschaften wie das sankt-gallische Gossau kommen auf einen Gewinn von 2 Millionen Franken. Das ist eine grosse Summe für die Gemeinde: Sie entspricht 2 Prozent ihres Budgets.
Die Gewinne der Versorger gehen eins zu eins an deren Besitzer. Und das sind in der Regel die Gemeinden. Gerät die Branche nun über kurz oder lang in einen Strudel, so, wie ihn das Beratungsbüro EBP in einem Ratgeber für die Metropolitankonferenz Zürich beschreibt – weniger Kunden, weniger Einnahmen, höhere Kosten pro Anschluss, noch weniger Kunden –, so spürt das auch die öffentliche Hand. Und damit am Ende die Steuerzahlerinnen.
Das Dilemma der Versorger
Die Versorgungsunternehmen sind damit im Dilemma. Einerseits sollten sie ihre bisherigen Gaskunden weiter bedienen und den Gemeinden weiterhin Geld abliefern. Andererseits müssen sie sich auf das Szenario einstellen, dass es das Gasgeschäft in seiner jetzigen Form bald nicht mehr geben wird.
In dieser Situation verfolgen viele Versorger eine ähnliche Strategie:
Ausbau des lokalen Gasnetzes nur noch punktuell;
Erneuerungsinvestitionen kritisch begutachten;
Stilllegung ins Auge fassen oder bereits anpacken;
Wärmenetze planen und ausrollen.
Je nach Gemeinde sind die bestehenden Gasleitungen mehrere Jahrzehnte alt. Sie erreichen damit bald ihr Ablaufdatum. Sie zu ersetzen, ist riskant – angesichts des abnehmenden Gasabsatzes müsste man die Investitionen innerhalb von nur kurzer Zeit amortisieren können. Dort, wo die Leitungen jünger sind, stellt sich ein anderes Problem: Die bereits getätigten Investitionen könnten sich als «nicht amortisierbar» herausstellen. Das bedeutet, es könnte Abschreiber und einen finanziellen Schaden geben.
Über dieses Thema spricht die Branche nicht gerne. Doch juristische und ökonomische Studien, die untersuchen, wie Stilllegungen überhaupt gehandhabt würden, wurden im Auftrag des Bundes bereits erstellt. Und auch im neuen Gasgesetz dürfte explizit thematisiert werden, wie die frühzeitige Stilllegung von Gasnetzen regulatorisch gehandhabt werden soll.
Spätestens dann wird es schwierig, das Thema totzuschweigen. «Der Wandel kommt viel schneller, als die Branche dachte», sagt Beat Meier, Experte beim Beratungsunternehmen Econcept. «Früher war das Gasgeschäft risikoarm und ertragreich. Jetzt wird es risikoreich und ertragsarm.»
Viele betroffene Firmen haben Mühe, sich die Reise in die Klimaneutralität vorzustellen. Klar ist: Am Ende wird das Gasnetz in seiner heutigen Verästelung überflüssig. «Die Gasinfrastruktur wird nicht mehr denselben Stellenwert haben», sagt Stefan Batzli, Geschäftsführer der Dachorganisation der Wirtschaft für erneuerbare Energien und Energieeffizienz AEE Suisse. «Es wird wesentlich weniger dezentrale Anschlüsse brauchen.»
Vorreiter und Nachzügler
Einige Energieversorger antizipieren diese Entwicklung. Es sind meist die Versorger grösserer Städte, die eine ambitionierte Klimapolitik betreiben.
Ich will es genauer wissen: Städte und ihre Pläne fürs Gas
Zu den Städten, die aktiv vom Gas wegkommen wollen, zählt etwa Luzern. Hier macht das Stadtparlament Druck auf das Versorgungsunternehmen, konkrete Pläne vorzustellen. In Basel-Stadt planen die Industriellen Werke parallel zum Ausbau der Fernwärme bereits die schrittweise Stilllegung des Gasnetzes.
Auch die Stadt Zürich hat eine Idee, was sie mit ihrem Gasnetz machen will. Ein Zonenplan beschreibt, wo der Rückbau angestrebt wird und welcher Ersatz zum Zuge kommt: öffentliches Fernwärmenetz, See- und Grundwasser, private Wärmepumpen. In Winterthur wird das Netz bereits länger zurückgebaut. Seine maximale Länge hatte es 1992 erreicht, seither ist es um ein Sechstel geschrumpft. Neue Anschlüsse gibt es nur noch in Ausnahmefällen.
Auch die kleine Zürcher Gemeinde Rüti hat einen Entschluss gefällt: Sie zieht sich bis 2050 aus Erdgas zurück. Andernfalls würde dies «die Gemeindewerke in ihrer wirtschaftlichen Existenz bedrohen», teilte sie letztes Jahr mit. Mehrere hunderttausend Franken pro Jahr in die Erhaltung des Gasnetzes zu stecken, sei nicht verantwortbar, sagt Gemeinderätin Marie-Therese Büsser.
Gas zu ersetzen, ist schwierig in denkmalgeschützten Häusern und dichten Altstädten. Anders als im ländlichen Raum ist es hier manchmal nicht möglich, Wärmepumpen zu installieren. Es gibt kaum Alternativen zu Gas.
Umso absurder mutet an, was sich gerade in Seuzach abspielt, einer kleinen Gemeinde nördlich von Winterthur. Sie wird neu mit Gas erschlossen. Gravag, ein privates Gasunternehmen, zieht zurzeit dort die Leitungen ein. Als «Kamikaze-Aktion» bezeichnet dies der Leiter der Energiefachstelle Winterthur, Heinz Wiher. «Wer heute ein neues Gasverteilnetz aufbaut, wird mit Sicherheit Geld verlieren.» Auf eine Anfrage nach dem Sinn und der Rentabilität ihrer Investitionen hat Gravag der Republik nicht geantwortet.
Auf ihrer Website schreibt die Firma, sie prüfe laufend, «weitere Gebiete innerhalb der Schweiz mit Gas zu erschliessen». Auf Facebook zeigt Gravag Fotos von Arbeitern, die in Egg/Esslingen im Zürcher Oberland gerade Röhren verlegen. Dazu ein Smiley und ein nach oben zeigender Daumen.
Geplant wäre auch gewesen, die Rohre von Seuzach aus gleich weiter in die Nachbargemeinde Hettlingen weiterzuziehen. Doch dort lehnte man das Angebot ab. Das zeigt: Die Gasstrategie ist auch ein kommunales Flickwerk.
26 Schweizer Städte haben eine Klima-und-Energie-Charta unterzeichnet, die das Klimabündnis ausgearbeitet hat: Aarau, Baden, Biel usw. Sie alle müssten die Planung von «Restnetz, Umnutzung, Stilllegung und Rückbau» fossiler Wärmeinfrastrukturen eigentlich an die Hand nehmen. Nur ein Teil der unterzeichnenden Städte hat aber effektiv damit begonnen.
«Wichtig wäre, dass es jetzt eine Strategie gibt», sagt Markus Flatt, Experte beim Energieberatungsunternehmen EVU Partners. Man könne die Zukunft nicht in allen Details voraussehen. «Aber weiter wie bisher geht nicht.»
Die intransparente Branche
Statt dies offen anzusprechen, macht die Branche mit dem grünen Blatt im Logo aber lieber Werbung: «Was hat ein Spiegelei mit unserer Energiezukunft zu tun?», fragt der Gasverband auf seiner Website. Wer den Teaser anklickt, erfährt, dass Profis beim Kochen «die Vorzüge von Gas besonders schätzen» würden und dass Gas auch «bei den Hobbyköchen im Trend» sei.
Dass Hobbyköche, die jetzt einen Gasanschluss einrichten, diesen bei der nächsten Erneuerung womöglich nicht mehr brauchen können, erwähnt der Verband nicht. Hauptsache, die Branche verdient noch ein paar Jahre Geld.
Und liefert fleissig Verbandsbeiträge ab. Wie hoch diese sind, ist ein gut gehütetes Geheimnis. Aber einige Versorger zahlen viel. Die Fribourger Groupe E hat ihren Mitgliederbeitrag gegenüber der Republik offengelegt: 130’000 Franken. Rechnet man diese Zahl gemäss dem Gasabsatz hoch, kommt man für die Versorger aus Basel und Zürich auf gegen eine halbe Million Franken.
Das ist öffentliches Geld, das gegen die Ziele dieser Städte eingesetzt wird.
Und genau hier liegt das eigentliche Problem: Obwohl die Energieversorger und damit letztlich auch der Gasverband fast vollständig in öffentlichem Besitz sind, weiss niemand so recht, was diese Akteure eigentlich machen. Diverse Versorger haben die Fragen der Republik nicht beantwortet: Regio Energie Solothurn, Viteos aus Neuenburg, EWL in Luzern, IBB in Brugg, Oiken im Wallis, Services industriels de Genève, Services industriels de Lausanne.
Damit verweigern sich diese staatlichen Unternehmen der Öffentlichkeit. Das ist bedenklich – denn bei genauem Hinsehen lässt sich erkennen: In der intransparenten Gasbranche arbeitet der Staat teils gegen den Staat.
In seinem Strategiepapier hat das Bundesamt für Energie vor einem Jahr festgehalten, wie es die «künftige Rolle von Gas und Gasinfrastruktur in der Energieversorgung der Schweiz» beurteilt. Die wichtigsten Eckpunkte sind:
Erdgas muss bis Mitte Jahrhundert fast ganz weg;
Importe von Biogas sind und bleiben schwierig;
Biogas muss in der Industrie und in Wärmenetzen genutzt werden;
synthetische Gase sind teuer (und analog zu Biogas einzusetzen);
Netzstilllegungen werden an Bedeutung gewinnen.
Diese Aussagen unterscheiden sich diametral von den Thesen der Branche.
Es wäre Zeit, dass Bürgerinnen davon Notiz nehmen – und den Versorgern Fragen stellen. Denn sie sind die eigentlichen Besitzer dieser Unternehmen. Damit haben sie es in der Hand, die Dekarbonisierung beim Gas durchzusetzen.
In einer früheren Version war die Grafik zum CO2-Grenzwert bei Heizungen in Gramm statt in Kilogramm pro m2 Energiebezugsfläche angegeben. Wir entschuldigen uns für den Fehler.