Winter is coming
Ein Strommangel in der kalten Jahreszeit ist wahrscheinlich. Wie gut die Schweiz darauf vorbereitet ist, wird sich dann zeigen. Aber zumindest entstehen gerade neue Allianzen für die Winter danach.
Von Priscilla Imboden, 24.08.2022
Diese Krise hat ihm gerade noch gefehlt. Erst der starke Franken, dann die schwierige Suche nach geeignetem Personal, die ausser Kontrolle geratenen Strompreise – und jetzt auch noch der heraufziehende Strommangel im Winter. Der Schaffhauser Unternehmer Rolf Tanner sagt mit Blick auf die kommenden Monate: «Die exportierende Industrie droht einzugehen.»
Tanners Firma Techno Plastic Products stellt Kunststoffbehälter für Labore her und exportiert sie. Er warnt, Bund und Kantone müssten jetzt handeln, sonst komme es zu unwiderruflichen wirtschaftlichen Schäden.
Tanner sorgt vor. Er hat einen Container mit einem Stromgenerator gekauft, dazu 2000 Liter klimaneutralen Diesel. «Ich will im Ernstfall meine Firma weiterbetreiben können», sagt er. «Meine Betriebe und die Nachbarn sollen als Insel mit Strom versorgt sein. Zwei bis drei Wochen lang können wir autark sein.»
Reicht das? Oder wird es diesen Winter in der Schweiz über Monate an Strom fehlen? Was ist mit dem Mobilfunknetz? Mit der Zollabfertigung? Dem Internet? Müssten Leute, die weniger Strom brauchen oder gar selber herstellen, nicht vom Staat entschädigt werden? Rolf Tanner stellt Fragen, die man derzeit an vielen Orten hört.
Antworten hingegen gibt es bisher wenig. Es bleibt die grosse Unsicherheit, ob im Winter die Lichter ausgehen. Und wenn ja, bei wem? Und für wie lange?
Diese Fragen sind existenziell. Ohne Strom können Lebensmittel nicht gelagert werden, Züge nicht fahren und auch keine Autos, weil Zapfsäulen mit Strom funktionieren, es gibt kein Telefon und Internet schon gar nicht. Langsam dämmert allen: Es ist nicht mehr selbstverständlich, dass Strom aus der Steckdose fliesst.
Eine Krise folgt auf die nächste
Dass das so plötzlich geschieht, ist Wladimir Putin zuzuschreiben. Der russische Präsident droht seit dem Überfall auf die Ukraine immer wieder damit, den Gashahn zuzudrehen, um den Westen wegen der Sanktionen zu bestrafen. Seit Juni hat der russische Staatskonzern Gazprom die Gaslieferungen in die EU tatsächlich stark reduziert und Ende Juli noch weiter gedrosselt. Momentan fliessen nur noch 20 Prozent der maximal möglichen Menge durch die Pipeline Nord Stream 1 nach Deutschland.
Immerhin hat Deutschland schon früh damit begonnen, Gas aus anderen Ländern zu importieren, und so versucht, die Speicher für den Winter zu füllen. Aber selbst wenn das gelingt, reicht die Gasversorgung nur für zwei Monate.
Über den Sommer tauchte ein weiteres Problem auf: In Frankreich ist derzeit die Hälfte der in die Jahre gekommenen Atomkraftwerke in Revision. Es ist unklar, wie viele davon wieder ans Netz kommen, ehe die Winterkälte über Europa hereinbricht.
Diese beiden Faktoren machen es immer wahrscheinlicher, dass im Winter der Strom in ganz Europa knapp wird. Aktuelle Schätzungen der Internationalen Energieagentur (IEA) gehen davon aus, dass rund 5 bis 10 Prozent weniger Elektrizität erzeugt werden.
Und die Schweiz ist im Winter auf Stromimporte angewiesen. Je nachdem, wie der Winter verlief, machte die Menge des Importstroms in den letzten 20 Jahren jeweils bis zu 30 Prozent aus. Ob die europäischen Staaten auch diesen Winter Strom an die Schweiz abgeben, ist fraglich. Norwegen kündigte jedenfalls bereits an, den Strom aus Wasserkraft für sich zu behalten.
Als wären das nicht schon genug Probleme, macht der Schweiz auch noch die Trockenheit im Sommer zu schaffen. Bis zum Winter dürften sich die Stauseen nicht so stark füllen wie gewohnt. Damit fehlt voraussichtlich Strom aus Wasserkraft.
Dieses Problem könnte wegen der hohen Strompreise noch verschärft werden: Die Schweizer Stromkonzerne könnten verleitet sein, jetzt Wasser zu turbinieren, um Strom nach Italien und Frankreich zu verkaufen, was derzeit ein hochprofitables Geschäft ist. Das würde die Versorgungssicherheit der Schweiz im Winter zusätzlich gefährden. Die Konzerne Alpiq, BKW und Axpo geben auf Anfrage nur ausweichend Auskunft darüber, ob sie auf solche Exportgeschäfte verzichten wollen.
Vorbereitungen auf den Notfall
Ist die Schweiz auf die drohende Stromknappheit vorbereitet? Werner Luginbühl, der Präsident der Schweizer Regulierungsbehörde für den Strommarkt Elcom, sagt: «Die Schweiz ist vorbereitet. Aber die Umsetzung ist äusserst anspruchsvoll und wird zu Konflikten führen.»
Die Behörden versuchen momentan fast alles, um Licht und Wärme für den Winter sicherzustellen: Sie suchen Kraftwerke, die man kurzfristig mit Öl oder Gas betreiben könnte; sie wollen die Stromkonzerne dafür bezahlen, dass sie eine gewisse Menge Wasser in den Stauseen lassen für die Stromproduktion im Spätwinter, als Wasserkraftreserve; sie prüfen auch, inwiefern grosse Stromverbraucher in der Industrie die Produktion herunterfahren könnten, um weniger Elektrizität zu verbrauchen.
So soll verhindert werden, dass es im Winter zu grossflächigen Netzabschaltungen kommt.
Falls es doch nicht reicht, sind radikale Massnahmen vorgesehen: Der Bundesrat würde dann via Verordnung den Markt aussetzen. Konkret müssten die Stromfirmen die Steuerung der Produktion in ihren Elektrizitätswerken der Swissgrid übergeben, der Organisation, die das Hochspannungsnetz betreibt. Diese würde dann zentral entscheiden, welche Regionen zu welchen Zeiten Strom erhalten, und dabei einem Plan der Milizorganisation für Stromversorgung in ausserordentlichen Lagen (Ostral) folgen.
Kann das funktionieren? Stromregulator Werner Luginbühl sagt auch dazu: «Das kann niemand mit Sicherheit sagen.» Zwar habe man die Krisenorganisation aufgestellt, gewisse Dinge eingeübt – «aber an der Realität wird sich weisen, wie gut wir wirklich vorbereitet sind».
Derzeit klären Krisenstäbe in den Kantonen mit der Ostral ab, ob es kritische Infrastrukturen wie Pflegeheime oder Polizeiwachen gibt, die nicht weiterversorgt werden könnten, falls das Netz abgestellt würde. Sie bräuchten Stromgeneratoren, die nun beschafft werden müssen.
Schuldzuweisungen in der Politik
Und die Schweizer Politik? Die SVP nutzte die Sommerpause, um die Schuld der SP-Energieministerin Simonetta Sommaruga zuzuschieben. Die SP konterte, dass eigentlich SVP-Wirtschaftsminister Guy Parmelin zuständig sei. In der Tat sind es beide. Wenn es aber in Richtung Knappheit geht, sitzt das Departement Parmelin mit dem Bundesamt für wirtschaftliche Landesversorgung am Steuer.
Das Politikspektakel treibt derweil seltsame Blüten. Die SVP, die sonst auf freien Markt und schlanken Staat setzt, fordert einen Strom-General und 20 Milliarden Franken unter anderem für neue Atomkraftwerke. Und die Grüne Partei – dem Markt gegenüber eher kritisch eingestellt – will ein Auktionsverfahren einführen, mit dem Stromeinsparungen von Grossverbrauchern versteigert werden könnten. Parteipräsident Balthasar Glättli erklärt, es sei «wichtig, mit marktwirtschaftlichen Massnahmen rasch vorsorglich genug Strom einzusparen und in den Stauseen zusätzlich zu speichern, damit die dirigistischen Methoden wie Kontingentierung und Abschalten, die der Ostral zur Verfügung stehen, gar nicht erst nötig werden».
Solche Massnahmen müssten von der Schweizer Regierung kommen, der Bundesrat aber gibt sich zögerlich: Er plant auf Ende August eine Kampagne, damit die Bevölkerung weniger Elektrizität verbraucht.
In Deutschland tingelt der grüne Wirtschafts- und Energieminister Robert Habeck schon seit Wochen durchs Land und wirbt für wärmere Kühlschränke und kürzeres Duschen. Kurzfristig gibt es tatsächlich nur einen Weg, dem Engpass zu begegnen: Strom sparen.
Jürg Grossen, Präsident der Grünliberalen Partei, kritisiert, dass die bundesrätliche Kampagne zu spät komme. Ohnehin könne ganz ohne Einbussen an Komfort viel Strom gespart werden – etwa indem man Stand-by-Geräte ausschalte oder herkömmliche Glühbirnen durch LED-Birnen ersetze. «Mit solchen Effizienzmassnahmen könnten wir den Stromverbrauch halbieren.» Auch verschiedene Studien des Bundesamtes für Energie (BFE) und der Schweizerischen Energie-Stiftung (SES) zeigen auf, wie sich der Stromverbrauch massiv senken liesse.
Jetzt geht es vorwärts
Aber vielleicht kommt es am Ende ja doch nicht so weit: Der Winter könnte auch warm werden, die französischen AKW wieder ans Netz gehen und Wladimir Putin, der auch Geld braucht, den Gashahn vielleicht doch nicht ganz zudrehen …
So oder so: Die aktuelle Situation ist eine Warnung. Sie offenbart einen Blick in eine nicht allzu ferne Zukunft, in der die Energie immer wieder knapp werden könnte.
Ab 2025 führt die EU eine neue Stromexportregelung ein, bei der die Schweiz wegen fehlenden Stromabkommens praktisch aussen vor gelassen wird: Die Schweiz wird dann weniger Strom importieren können.
Und so wird der Streit um die kurzfristigen Massnahmen überlagert von einer grundsätzlichen Debatte über den energiepolitischen Weg, den die Schweiz mit dem Ausstieg aus der Atomkraft eingeschlagen hat: die Energiestrategie 2050.
Atomkraftbefürworter wittern Morgenluft. Sie sehen sich bestätigt in ihrer Einschätzung, dass es ohne Atomkraft zu Engpässen kommt. Die «links-grüne Energiestrategie» sei gescheitert, schreibt SVP-Nationalrätin Magdalena Martullo-Blocher – und blendet dabei aus, dass die Energiestrategie von der damaligen CVP-Bundesrätin Doris Leuthard ausgearbeitet und vom mehrheitlich bürgerlichen Parlament verabschiedet worden war. Und eine Motion der SVP, die neue AKW wieder bewilligen möchte, ist im Juni im Ständerat deutlich gescheitert.
Es ist offensichtlich, dass neue Atomkraftwerke weder das kurzfristige noch das mittelfristige Problem lösen würden: Mit Volksabstimmungen und Bauzeiten wäre nicht vor den 2050er-Jahren damit zu rechnen, dass ein neues AKW ans Netz ginge. Zu dieser Einschätzung kommt eine neue Studie der Akademien der Wissenschaften über Möglichkeiten, wie die Schweizer Energieversorgung bis 2050 entkarbonisiert werden kann.
Das heisst nicht, dass bei der Energiestrategie keine Fehler gemacht wurden. Heute ist klar, dass sie zu stark auf Stromimporte angelegt war, um die Versorgung im Winter zu gewährleisten und Schwankungen bei der Produktion erneuerbarer Energien auszugleichen. Ebenso kann man den Bundesrätinnen Doris Leuthard und Simonetta Sommaruga vorwerfen, dass sie die ab 2020 vorgesehenen Gaskraftwerke nicht rechtzeitig ermöglicht haben. Aber es ist fraglich, was deren Bau gebracht hätte, wenn wie in der aktuellen Situation zu befürchten ist, dass bald kein Gas mehr in die Schweiz fliesst.
Immerhin: Die drohende Krise zeigt, wie nötig es ist, die Stromversorgung stärker auf inländische erneuerbare Energien auszurichten. Privatpersonen haben bereits reagiert und sorgen für einen schweizweiten Boom bei den Solaranlagen.
SP-Energiepolitiker Roger Nordmann ist deshalb optimistischer als auch schon. Er sagt: «Die aktuelle Lage wird die Energiewende beschleunigen.» Er wirft der Energiestrategie 2050 vor, dass sie den Ausbau der erneuerbaren Energien zu wenig vorangetrieben habe.
Dazu müssten sich nicht nur die bisherigen Verhinderer bewegen, sondern auch rot-grüne Kreise. Nordmann setzt stark auf den Ausbau von Sonnenenergie, doch es brauche auch mehr Wasserkraft. Die Erhöhung von Staumauern und der Bau von Dämmen im Rückzugsgebiet des Gorner- und des Triftgletschers seien nötig. Die Schweiz leide unter einem «Ballenberg-Syndrom», diagnostiziert Nordmann: «Zu glauben, dass wir weiter so leben können wie heute, ohne in die Landschaft einzugreifen, ist eine Lebenslüge.»
Und so geht Nordmann derzeit ungewöhnliche Koalitionen ein. Er führt Gespräche mit SVP-Nationalrat Albert Rösti, Präsident des Wasserwirtschaftsverbandes, um geplante Wasserkraftprojekte und den Ausbau der Windenergie voranzutreiben. Das wäre vor wenigen Monaten noch politisch zu heikel gewesen – für beide.
Weit weg von Bundesbern stellt der Unternehmer Rolf Tanner grundsätzliche Überlegungen an: «Die Menschheit muss toleranter werden für Neuerungen. Auch wenn sie unbequem sind und Windräder Geräusche machen oder Vögel gefährden.»
Die aktuelle Lage ist ein Weckruf. Ein Weckruf an die Politik, das Energiesystem umzubauen. Und an die Bevölkerung und die Unternehmen, sorgsamer mit der Energie umzugehen.
In einer früheren Version schrieben wir, dass durch Nord Stream 1 derzeit 20 Prozent der «üblichen» Menge laufen, korrekt muss es heissen «der maximal möglichen» Menge. Wir haben die Stelle korrigiert und bedanken uns für den Hinweis aus der Verlegerschaft. Zudem haben wir von einem «Notrecht» geschrieben, das der Bundesrat anwenden würde – korrekt ist, er würde via «Verordnung» den Markt aussetzen. Auch diese Stelle ist angepasst.