Winter is coming

Ein Strommangel in der kalten Jahreszeit ist wahrscheinlich. Wie gut die Schweiz darauf vorbereitet ist, wird sich dann zeigen. Aber zumindest entstehen gerade neue Allianzen für die Winter danach.

Von Priscilla Imboden, 24.08.2022

Vorgelesen von Patrick Venetz
0:00 / 13:02
Was funktioniert alles nicht mehr, wenn es zu wenig Strom hat? Windpark auf der Gütsch ob Andermatt UR. Schlegel-Vonarburg/13 Photo

Diese Krise hat ihm gerade noch gefehlt. Erst der starke Franken, dann die schwierige Suche nach geeignetem Personal, die ausser Kontrolle geratenen Strom­preise – und jetzt auch noch der herauf­ziehende Strom­mangel im Winter. Der Schaffhauser Unter­nehmer Rolf Tanner sagt mit Blick auf die kommenden Monate: «Die exportierende Industrie droht einzugehen.»

Tanners Firma Techno Plastic Products stellt Kunststoff­behälter für Labore her und exportiert sie. Er warnt, Bund und Kantone müssten jetzt handeln, sonst komme es zu unwiderruflichen wirtschaftlichen Schäden.

Tanner sorgt vor. Er hat einen Container mit einem Strom­generator gekauft, dazu 2000 Liter klima­neutralen Diesel. «Ich will im Ernstfall meine Firma weiter­betreiben können», sagt er. «Meine Betriebe und die Nachbarn sollen als Insel mit Strom versorgt sein. Zwei bis drei Wochen lang können wir autark sein.»

Reicht das? Oder wird es diesen Winter in der Schweiz über Monate an Strom fehlen? Was ist mit dem Mobilfunk­netz? Mit der Zoll­abfertigung? Dem Internet? Müssten Leute, die weniger Strom brauchen oder gar selber herstellen, nicht vom Staat entschädigt werden? Rolf Tanner stellt Fragen, die man derzeit an vielen Orten hört.

Antworten hingegen gibt es bisher wenig. Es bleibt die grosse Unsicherheit, ob im Winter die Lichter ausgehen. Und wenn ja, bei wem? Und für wie lange?

Diese Fragen sind existenziell. Ohne Strom können Lebens­mittel nicht gelagert werden, Züge nicht fahren und auch keine Autos, weil Zapf­säulen mit Strom funktionieren, es gibt kein Telefon und Internet schon gar nicht. Langsam dämmert allen: Es ist nicht mehr selbst­verständlich, dass Strom aus der Steck­dose fliesst.

Eine Krise folgt auf die nächste

Dass das so plötzlich geschieht, ist Wladimir Putin zuzuschreiben. Der russische Präsident droht seit dem Überfall auf die Ukraine immer wieder damit, den Gashahn zuzudrehen, um den Westen wegen der Sanktionen zu bestrafen. Seit Juni hat der russische Staats­konzern Gazprom die Gas­lieferungen in die EU tatsächlich stark reduziert und Ende Juli noch weiter gedrosselt. Momentan fliessen nur noch 20 Prozent der maximal möglichen Menge durch die Pipeline Nord Stream 1 nach Deutschland.

Immerhin hat Deutschland schon früh damit begonnen, Gas aus anderen Ländern zu importieren, und so versucht, die Speicher für den Winter zu füllen. Aber selbst wenn das gelingt, reicht die Gas­versorgung nur für zwei Monate.

Über den Sommer tauchte ein weiteres Problem auf: In Frankreich ist derzeit die Hälfte der in die Jahre gekommenen Atom­kraftwerke in Revision. Es ist unklar, wie viele davon wieder ans Netz kommen, ehe die Winter­kälte über Europa hereinbricht.

Diese beiden Faktoren machen es immer wahrscheinlicher, dass im Winter der Strom in ganz Europa knapp wird. Aktuelle Schätzungen der Internationalen Energie­agentur (IEA) gehen davon aus, dass rund 5 bis 10 Prozent weniger Elektrizität erzeugt werden.

Und die Schweiz ist im Winter auf Strom­importe angewiesen. Je nachdem, wie der Winter verlief, machte die Menge des Import­stroms in den letzten 20 Jahren jeweils bis zu 30 Prozent aus. Ob die europäischen Staaten auch diesen Winter Strom an die Schweiz abgeben, ist fraglich. Norwegen kündigte jedenfalls bereits an, den Strom aus Wasser­kraft für sich zu behalten.

Als wären das nicht schon genug Probleme, macht der Schweiz auch noch die Trocken­heit im Sommer zu schaffen. Bis zum Winter dürften sich die Stauseen nicht so stark füllen wie gewohnt. Damit fehlt voraussichtlich Strom aus Wasser­kraft.

Dieses Problem könnte wegen der hohen Strom­preise noch verschärft werden: Die Schweizer Strom­konzerne könnten verleitet sein, jetzt Wasser zu turbinieren, um Strom nach Italien und Frankreich zu verkaufen, was derzeit ein hoch­profitables Geschäft ist. Das würde die Versorgungs­sicherheit der Schweiz im Winter zusätzlich gefährden. Die Konzerne Alpiq, BKW und Axpo geben auf Anfrage nur ausweichend Auskunft darüber, ob sie auf solche Export­geschäfte verzichten wollen.

Vorbereitungen auf den Notfall

Ist die Schweiz auf die drohende Strom­knappheit vorbereitet? Werner Luginbühl, der Präsident der Schweizer Regulierungs­behörde für den Strom­markt Elcom, sagt: «Die Schweiz ist vorbereitet. Aber die Umsetzung ist äusserst anspruchs­voll und wird zu Konflikten führen.»

Die Behörden versuchen momentan fast alles, um Licht und Wärme für den Winter sicherzustellen: Sie suchen Kraft­werke, die man kurzfristig mit Öl oder Gas betreiben könnte; sie wollen die Strom­konzerne dafür bezahlen, dass sie eine gewisse Menge Wasser in den Stauseen lassen für die Strom­produktion im Spätwinter, als Wasserkraft­reserve; sie prüfen auch, inwiefern grosse Strom­verbraucher in der Industrie die Produktion herunterfahren könnten, um weniger Elektrizität zu verbrauchen.

So soll verhindert werden, dass es im Winter zu gross­flächigen Netz­abschaltungen kommt.

Falls es doch nicht reicht, sind radikale Mass­nahmen vorgesehen: Der Bundes­rat würde dann via Verordnung den Markt aussetzen. Konkret müssten die Strom­firmen die Steuerung der Produktion in ihren Elektrizitäts­werken der Swissgrid übergeben, der Organisation, die das Hochspannungs­netz betreibt. Diese würde dann zentral entscheiden, welche Regionen zu welchen Zeiten Strom erhalten, und dabei einem Plan der Miliz­organisation für Strom­versorgung in ausser­ordentlichen Lagen (Ostral) folgen.

Kann das funktionieren? Strom­regulator Werner Luginbühl sagt auch dazu: «Das kann niemand mit Sicherheit sagen.» Zwar habe man die Krisen­organisation aufgestellt, gewisse Dinge eingeübt – «aber an der Realität wird sich weisen, wie gut wir wirklich vorbereitet sind».

Derzeit klären Krisen­stäbe in den Kantonen mit der Ostral ab, ob es kritische Infra­strukturen wie Pflege­heime oder Polizei­wachen gibt, die nicht weiter­versorgt werden könnten, falls das Netz abgestellt würde. Sie bräuchten Strom­generatoren, die nun beschafft werden müssen.

Schuld­zuweisungen in der Politik

Und die Schweizer Politik? Die SVP nutzte die Sommer­pause, um die Schuld der SP-Energie­ministerin Simonetta Sommaruga zuzuschieben. Die SP konterte, dass eigentlich SVP-Wirtschafts­minister Guy Parmelin zuständig sei. In der Tat sind es beide. Wenn es aber in Richtung Knappheit geht, sitzt das Departement Parmelin mit dem Bundes­amt für wirtschaftliche Landes­versorgung am Steuer.

Das Politik­spektakel treibt derweil seltsame Blüten. Die SVP, die sonst auf freien Markt und schlanken Staat setzt, fordert einen Strom-General und 20 Milliarden Franken unter anderem für neue Atom­kraftwerke. Und die Grüne Partei – dem Markt gegenüber eher kritisch eingestellt – will ein Auktions­verfahren einführen, mit dem Strom­einsparungen von Gross­verbrauchern versteigert werden könnten. Partei­präsident Balthasar Glättli erklärt, es sei «wichtig, mit markt­wirtschaftlichen Massnahmen rasch vorsorglich genug Strom einzusparen und in den Stauseen zusätzlich zu speichern, damit die dirigistischen Methoden wie Kontingentierung und Abschalten, die der Ostral zur Verfügung stehen, gar nicht erst nötig werden».

Solche Massnahmen müssten von der Schweizer Regierung kommen, der Bundes­rat aber gibt sich zögerlich: Er plant auf Ende August eine Kampagne, damit die Bevölkerung weniger Elektrizität verbraucht.

In Deutschland tingelt der grüne Wirtschafts- und Energie­minister Robert Habeck schon seit Wochen durchs Land und wirbt für wärmere Kühlschränke und kürzeres Duschen. Kurzfristig gibt es tatsächlich nur einen Weg, dem Engpass zu begegnen: Strom sparen.

Jürg Grossen, Präsident der Grünliberalen Partei, kritisiert, dass die bundesrätliche Kampagne zu spät komme. Ohnehin könne ganz ohne Einbussen an Komfort viel Strom gespart werden – etwa indem man Stand-by-Geräte ausschalte oder herkömmliche Glüh­birnen durch LED-Birnen ersetze. «Mit solchen Effizienz­massnahmen könnten wir den Strom­verbrauch halbieren.» Auch verschiedene Studien des Bundes­amtes für Energie (BFE) und der Schweizerischen Energie-Stiftung (SES) zeigen auf, wie sich der Strom­verbrauch massiv senken liesse.

Jetzt geht es vorwärts

Aber vielleicht kommt es am Ende ja doch nicht so weit: Der Winter könnte auch warm werden, die französischen AKW wieder ans Netz gehen und Wladimir Putin, der auch Geld braucht, den Gashahn vielleicht doch nicht ganz zudrehen …

So oder so: Die aktuelle Situation ist eine Warnung. Sie offenbart einen Blick in eine nicht allzu ferne Zukunft, in der die Energie immer wieder knapp werden könnte.

Ab 2025 führt die EU eine neue Strom­export­regelung ein, bei der die Schweiz wegen fehlenden Strom­abkommens praktisch aussen vor gelassen wird: Die Schweiz wird dann weniger Strom importieren können.

Und so wird der Streit um die kurz­fristigen Mass­nahmen überlagert von einer grundsätzlichen Debatte über den energie­politischen Weg, den die Schweiz mit dem Ausstieg aus der Atomkraft eingeschlagen hat: die Energie­strategie 2050.

Atomkraft­befürworter wittern Morgen­luft. Sie sehen sich bestätigt in ihrer Einschätzung, dass es ohne Atomkraft zu Engpässen kommt. Die «links-grüne Energie­strategie» sei gescheitert, schreibt SVP-National­rätin Magdalena Martullo-Blocher – und blendet dabei aus, dass die Energie­strategie von der damaligen CVP-Bundes­rätin Doris Leuthard ausgearbeitet und vom mehr­heitlich bürgerlichen Parlament verabschiedet worden war. Und eine Motion der SVP, die neue AKW wieder bewilligen möchte, ist im Juni im Stände­rat deutlich gescheitert.

Es ist offensichtlich, dass neue Atomkraft­werke weder das kurzfristige noch das mittel­fristige Problem lösen würden: Mit Volks­abstimmungen und Bau­zeiten wäre nicht vor den 2050er-Jahren damit zu rechnen, dass ein neues AKW ans Netz ginge. Zu dieser Einschätzung kommt eine neue Studie der Akademien der Wissenschaften über Möglich­keiten, wie die Schweizer Energie­versorgung bis 2050 entkarbonisiert werden kann.

Das heisst nicht, dass bei der Energie­strategie keine Fehler gemacht wurden. Heute ist klar, dass sie zu stark auf Strom­importe angelegt war, um die Versorgung im Winter zu gewähr­leisten und Schwankungen bei der Produktion erneuerbarer Energien auszugleichen. Ebenso kann man den Bundes­rätinnen Doris Leuthard und Simonetta Sommaruga vorwerfen, dass sie die ab 2020 vorgesehenen Gaskraft­werke nicht rechtzeitig ermöglicht haben. Aber es ist fraglich, was deren Bau gebracht hätte, wenn wie in der aktuellen Situation zu befürchten ist, dass bald kein Gas mehr in die Schweiz fliesst.

Immerhin: Die drohende Krise zeigt, wie nötig es ist, die Strom­versorgung stärker auf inländische erneuerbare Energien auszurichten. Privat­personen haben bereits reagiert und sorgen für einen schweiz­weiten Boom bei den Solar­anlagen.

SP-Energiepolitiker Roger Nordmann ist deshalb optimistischer als auch schon. Er sagt: «Die aktuelle Lage wird die Energie­wende beschleunigen.» Er wirft der Energie­strategie 2050 vor, dass sie den Ausbau der erneuerbaren Energien zu wenig voran­getrieben habe.

Dazu müssten sich nicht nur die bisherigen Verhinderer bewegen, sondern auch rot-grüne Kreise. Nordmann setzt stark auf den Ausbau von Sonnen­energie, doch es brauche auch mehr Wasser­kraft. Die Erhöhung von Stau­mauern und der Bau von Dämmen im Rückzugs­gebiet des Gorner- und des Trift­gletschers seien nötig. Die Schweiz leide unter einem «Ballen­berg-Syndrom», diagnostiziert Nordmann: «Zu glauben, dass wir weiter so leben können wie heute, ohne in die Landschaft einzugreifen, ist eine Lebens­lüge.»

Und so geht Nordmann derzeit ungewöhnliche Koalitionen ein. Er führt Gespräche mit SVP-Nationalrat Albert Rösti, Präsident des Wasser­wirtschafts­verbandes, um geplante Wasserkraft­projekte und den Ausbau der Wind­energie voranzutreiben. Das wäre vor wenigen Monaten noch politisch zu heikel gewesen – für beide.

Weit weg von Bundesbern stellt der Unternehmer Rolf Tanner grundsätzliche Über­legungen an: «Die Mensch­heit muss toleranter werden für Neuerungen. Auch wenn sie unbequem sind und Wind­räder Geräusche machen oder Vögel gefährden.»

Die aktuelle Lage ist ein Weckruf. Ein Weckruf an die Politik, das Energie­system umzubauen. Und an die Bevölkerung und die Unternehmen, sorgsamer mit der Energie umzugehen.

In einer früheren Version schrieben wir, dass durch Nord Stream 1 derzeit 20 Prozent der «üblichen» Menge laufen, korrekt muss es heissen «der maximal möglichen» Menge. Wir haben die Stelle korrigiert und bedanken uns für den Hinweis aus der Verlegerschaft. Zudem haben wir von einem «Notrecht» geschrieben, das der Bundesrat anwenden würde – korrekt ist, er würde via «Verordnung» den Markt aussetzen. Auch diese Stelle ist angepasst.