Nichts ist wahr und alles ist möglich
Trump und Pandemie haben einen Nährboden für ein Medien-Ökosystem geschaffen, in dem Fakten keine Rolle mehr spielen. Auch in der Schweiz: Stricker-TV oder der «Nebelspalter» kämpfen gegen einen «Mainstream», der auf «politischer Korrektheit», Medien und Wissenschaft basiert. «Die Infokrieger», Teil 1.
Von Daniel Ryser, Basil Schöni (Text) und David Leutert (Illustration), 24.06.2022
Prolog: Alle wollen Opfer sein
Die Pandemie machte etwas sichtbar: dass es unglaublich viele Leute gibt, die dem, was sie «Mainstream» nennen, nicht mehr glauben.
Mit «Mainstream» meinen sie: die Politik, die Medien, die Wissenschaft. Es ist ein Begriff, aus dem Verleger und SVP-Politiker Roger Köppel in der Schweiz seit zwanzig Jahren wirtschaftliches und politisches Kapital zu schlagen versucht. Wenn der «Mainstream» oder die «Elite» sagt, es gebe einen menschengemachten Klimawandel, dann sagt Köppel das Gegenteil.
Oder präziser noch: Es sei doch alles gar nicht sicher.
Es ist ein ständiges In-Zweifel-Ziehen, bis alles nur noch in einem dicken Nebel verschwindet. In einem Grundrauschen der Desinformation.
Die Methode, alles in Zweifel zu ziehen, lässt sich mit einem Begriff aus dem Marketing beschreiben: FUD. Das steht für fear, uncertainty and doubt. Also Angst, Unsicherheit und Zweifel. Die Idee dahinter: Vom Klimawandel über Corona bis zum russischen Angriffskrieg ist nichts mehr sicher. Alles ist eine Frage des Standpunkts.
Es ist eine Methode, auf der inzwischen ein ganzes mediales Ökosystem basiert, dessen Nährboden sich während der Pandemie stark verbreitert hat. Wenn auch viele der Leute, die zu diesem Ökosystem gehören, schon vor der Pandemie auf verschiedenen Kanälen, mit verschiedenen Arten von Medien, verschiedenen Ansätzen und völlig unterschiedlicher Wirkungsmacht eine neue Geschichte erzählt haben. Eine Geschichte davon, wie die Welt angeblich funktioniert.
In erster Linie ist es eine Opfererzählung. Die Leute, die sie erzählen, sind Opfer einer Weltpolitik, die den russischen Präsidenten Wladimir Putin nicht machen lassen will. Sie sind Opfer von Gesundheitsmassnahmen der Regierung. Sie sind Opfer der «Cancel-Culture». Opfer der Wissenschaft. Opfer von Big Tech. Opfer der Massenmedien.
Sie sehen sich im «Informationskrieg»: In der Schweiz basteln sich selbst ernannte «alternative Medien» und Oppositionsblätter nach US-amerikanischen Vorbildern ihre eigene Wahrheit und betreiben einen grossen Aufwand, um diese unter die Menschen zu bringen. Eine Reise ans Ende der Demokratie. Zur Übersicht.
Sie lesen: Teil 1
Nichts ist wahr und alles ist möglich
Das Denken, das dieser Opferhaltung zugrunde liegt, ist eingebettet in die Ideologie eines Kulturkampfs. Die Universitäten: Sie sind links. Das Bildungssystem: links. Die Geschichtswissenschaft, die Politik, die Medien: links. Die Technologiekonzerne: links. Und alles, was anderer Meinung ist als dieser übermächtige, alles umfassende linke Komplex, werde – so die Opfererzählung – «gecancelt», kaputtgemacht und an den Rand gedrängt.
Die Pandemie wirkte für diese Opfererzählung wie ein Brandbeschleuniger. Maskenpflicht, Impfungen, temporäre Einschränkungen der Versammlungsfreiheit und die in die Pandemie fallende Abstimmung zum Gesetz über staatliche Medienförderung: Das alles zeigte, wie die Schweiz in eine Art «Gleichschaltung» abgleitet, und – je nach Quelle – in eine Einengung des Meinungskorridors, in eine «gelenkte Demokratie» oder gar einen Totalitarismus. Und zwar mittels eines diffusen Zusammenspiels verschiedener Akteure: der Schweizer Regierung, der Wissenschaft, grosser und kleiner Schweizer Medien und amerikanischer Tech-Konzerne.
Die einfachen Leute sind in dieser Erzählung Opfer dieses «Mainstreams». Dieser ist mächtig, und die kleinen Leute sind ohnmächtig.
Das Ökosystem dieser Gegenerzähler besteht aus Einzelakteuren. Bloggerinnen, Kolumnisten, Telegram-Influencerinnen, Buchautoren, Journalistinnen, Kleinverlegern und auch ganzen Medienunternehmen. Und die Methode realisiert sich, je nach Akteurinnen, in unterschiedlichen Bereichen und Intensitäten.
Medien wie «Weltwoche», «Nebelspalter» oder «Die Ostschweiz», wo sich teilweise offene Verschwörungsideologinnen als Autoren tummeln, sehen sich als Opfer des Kulturkampfs, der Pandemiemassnahmen und ganz allgemein des Staates.
Videostreamer Daniel Stricker sieht sich als Opfer von fast allem.
In der «SonntagsZeitung» und der «Neuen Zürcher Zeitung» finden sich zwar keine Verschwörungserzählungen, aber die Erzählung ist oft identisch: Man sieht sich als Opfer des Kulturkampfs, der «Cancel-Culture», der SRG.
Abgesehen von der «SonntagsZeitung» und der «Neuen Zürcher Zeitung», die vor allem in Bezug auf den Kulturkampf gegen den vermeintlichen «Mainstream» anschreiben, dabei aber selber etablierte Medien sind, eint die Akteure, dass sie, wie der Streamer Daniel Stricker sagt, «auf dem Rücken des klapprigen Gauls der Massenmedien» reiten.
Die Methode besteht darin, das Gegenteil von dem zu erzählen, was in den sogenannten Massenmedien steht. Oder wie es Stricker formuliert: «Das ist die Arbeit meiner Sendung: Ich entlarve das, was die Massenmedien tun. Ich schlage den ‹Spiegel› oder den ‹Blick› auf und entlarve ihre Lügen.» So wird das Programm schliesslich berechenbar: Wer heute die Zeitung liest, weiss, was Roger Köppel am nächsten Morgen auf «Weltwoche Daily» erzählen wird. Oder Daniel Stricker bei Stricker-TV. Oder diverse Influencerinnen in ihren Kanälen auf der Chat-App Telegram.
So unterschiedlich diese Akteure teilweise sind, so weit ihre Haltungen etwa bezüglich Wladimir Putin auseinandergehen, so sehr eint sie der Kampf gegen die «politische Korrektheit», die «Wokeness», die «Cancel-Culture», den «verengten Meinungskorridor», der manchmal – so absurd das auch scheinen mag – das gesamte politische Spektrum links der SVP umfasst.
Sie alle eint, wie die Abstimmung zum Mediengesetz gezeigt hat, der Kampf gegen die SRG und gleichzeitig für eine Presse, die finanziert wird von rechten Milliardären wie Tito Tettamanti, der 2002 die «Weltwoche» kaufte (und sie dann 2006 an Roger Köppel weiterverkaufte). Oder von libertären Multimillionären wie Konrad Hummler, Ex-Verwaltungsratspräsident der NZZ, der zuerst den «Schweizer Monat» mit hohen Beträgen unterstützte und dann die Finanzierung des «Nebelspalters» sicherte und nun dort den Verwaltungsrat präsidiert. Vermehrt findet auch bei jenen, die sich als seriöse Medien verstehen, keine Abgrenzung mehr statt gegen Autorinnen oder Akteure und Protagonistinnen, die sich von Fakten verabschiedet haben und Verschwörungserzählungen verbreiten.
Diese Leute, die selber entweder sehr mächtig oder zumindest wortmächtig sind und gleichzeitig erzählen, dass wir von «den Mächtigen» nur angelogen oder zensiert werden, eint die Faszination für einen mächtigen Meister der Lügen: den Ex-US-Präsidenten Donald Trump, der in seiner vierjährigen Amtszeit nachweislich mindestens 30’573-mal gelogen oder falsche Behauptungen aufgestellt hat.
So schnell sich ein Teil dieses Ökosystems von Coronavirus-Experten über Nacht zu Fachleuten für russische Militärstrategie wandelte, so klar zeichnet sich ab, wie die von Big-Tech-Milliardär Peter Thiel mitfinanzierte «Trump 2024»-Kampagne diese Leute euphorisieren wird: Es rollt eine weitere massive Welle der Desinformation auf uns zu.
Wie ist diese Szene in der Schweiz personell verflochten? Wie radikal sind diese Leute, die für sich in Anspruch nehmen, den «wahren Journalismus» zu machen? Eine Medienwelt, wo Fakten und seriöse Quellen keine Rolle mehr spielen, wo nur noch geglaubt wird, was man glauben will. Wo nichts mehr wahr ist und alles möglich.
Willkommen zu einer Reise ans Ende der Demokratie.
«Wahnsinn plus»
Industriequartier Bronschhofen, in der St. Galler Gemeinde Wil: Daniel Stricker will uns beweisen, wie schnell sein Tesla von null auf fünfzig beschleunigen kann. Er drückt auf den Touchscreen des Wagens und sagt: «Mein Tesla hat vier Profile: ‹Lässig›, ‹Sport›, ‹Wahnsinn› und ‹Wahnsinn plus›. Bis jetzt waren wir im Modus ‹Wahnsinn› unterwegs. Jetzt schalte ich auf ‹Wahnsinn plus›.»
Wir schiessen über die Quartierstrasse, von null auf fünfzig in 1,2 Sekunden. «Im neuen Tesla-Modell», sagt Stricker, als wir schliesslich aus dem Wagen steigen, «wird es zusätzlich noch das Profil ‹Lächerlich› geben.»
Der Streamer führt uns in sein Studio, nachdem er schon zwei Tage vorher in seiner Sendung Stricker-TV angekündigt hat, dass zwei Journalisten von der Republik vorbeikommen würden und dass das ganz bestimmt ein ganz schlimmer Artikel werde – schliesslich seien wir völlig verblendet. Im Nachgang zu unserem Besuch widmet er uns in mehreren Sendungen Ansprachen. Wir hatten uns darauf geeinigt, das Gespräch gegenseitig aufzuzeichnen. Diese Aufnahme, lässt Stricker seine Zuschauer nach unserem Besuch wissen, werde er in mindestens vier Folgen ausschlachten, um unseren ganzen «Scheiss» zu «debunken».
Stricker-TV, das ist der Lebensinhalt eines Mannes in seinen Fünfzigern, der Tesla-Aktien besitzt und glaubt, das geheime Muster hinter dem Weltgeschehen gefunden zu haben. Stricker-TV ist auch der Ort, wo sich in den letzten zwei Jahren die verloren gegangene Abgrenzung rechter Medien gegenüber Verschwörungserzählungen manifestierte – von «Weltwoche», «Schweizer Monat» und «Nebelspalter». Wo die Allianz von seriösem Journalismus und wirren Lügen offenbar wurde, wo ein Durcheinander von Verschwörungsfreaks und Leuten aufeinandertreffen, die im Schweizer Journalismus teilweise einflussreiche Positionen besetzen.
Bei unserem Besuch in seinem Studio im Nebenraum eines Fitnesstempels wirft Stricker uns nach ein paar Minuten Interview vor, wir seien voreingenommen. Und zwar, weil wir ihn fragen, wie es möglich sei, dass er, der sich zwei Jahre lang in seiner Sendung monothematisch mit der Covid-19-Pandemie beschäftigt hat, über Nacht vom Corona-Spezialisten zum Russland-Experten wurde. Das sei ja eine Leistung, sagen wir, ob er aber Angst habe, dass ihm wegen des Aufmerksamkeitswechsels von Covid-19 hin zu Putins Krieg gerade das Geschäftsmodell wegbreche.
Am Phänomen Daniel Stricker lässt sich eine Vielzahl von Dingen aufzeigen: Wie sich einer während der Pandemie als One-Man-Show ein Geschäftsmodell mit zahlenden Supportern aufgebaut hat – in der Anzahl irgendwo zwischen der verkauften Auflage von Schweizer Lokalzeitungen wie der «Schaffhauser AZ» oder dem «Toggenburger Tagblatt». Wie er damit eine attraktive Plattform wurde für Politikerinnen und Medienmacher von rechts, die sich bei ihm die Klinke in die Hand geben.
Und wie man sich innert zweier Jahre derart radikalisieren kann, dass man hinter fast allem eine böse Absicht sieht.
Zu Beginn der Pandemie schien Stricker in erster Linie ein Problem damit zu haben, dass er wegen des Coronavirus eine Maske tragen musste. Im April 2022 aber, während ihn Schweizer Medienpersönlichkeiten wie Ronnie Grob («Schweizer Monat») oder Markus Somm («Nebelspalter») für stundenlange Livegespräche in seinem Studio besuchen, sieht Stricker längst einen direkten Zusammenhang zwischen Klimawandel, Covid-19-Pandemie und Russland-Ukraine-Krieg.
Er würde ja gerne mit seiner Sendung aufhören, sagt er. Aber wer garantiere denn, dass Covid vorbei sei? Dass es keinen Zusammenhang gebe mit dem Krieg? «In dem Sinne Zusammenhang», erklärt Stricker, «dass es einfach nur darum geht, die Leute zu plündern. Dass man eine Meinung macht, zum Beispiel aufs Klima, um Millionen zu verteilen, dann eine Meinung auf Corona, um Millionen zu verteilen, und jetzt macht der Staat auf Krieg und kann Millionen verteilen.»
Stricker-TV: Netzwerk und Bindeglied
Seine Videokarriere begann der Thurgauer Daniel Stricker vor dreizehn Jahren als «Padre Benedetto», eine satirische Kunstfigur, die einen katholischen Priester verkörpert und die Kirche parodiert. Nach ein paar weiteren Videos für seine Videoverleih-Kette «Laser Lounge» startete er 2018 Stricker-TV. Sein erster Interviewgast: der Tierschützer Erwin Kessler.
Im April 2020 zählte sein Youtube-Kanal 54 Videos. Dann kam die Pandemie. Heute, zwei Jahre später, sind es mehr als 900.
«Coronapanik – Statistiken machen Hoffnung, Staat und Medien machen Panik» lautete der Titel seines ersten Youtube-Videos zur Pandemie. Der zweite: «Schweiz: Shutdown wirkungslos». Beide entstanden im April 2020 in einem schwedischen Hotelzimmer. «Ich bin geflüchtet, in ein freies Land, weil ich nicht unter einem totalitären Regime leben will», sagte Stricker am 5. April 2020 in seiner Sendung und sprach in Bezug auf die Schweiz von «Blockwarten wie im Nationalsozialismus». Er rege sich über alle auf, sagte er, «aber am allermeisten über die fucking media».
Während die ersten Produktionen bloss einige hundert Views verzeichneten, landete er mit seinem dritten Video einen Coup. «Der Schweizer Bundesrat gehört ins Gefängnis. Eine Polemik. TEILEN!», so der Titel des Videos, das bis heute mehr als 19’000-mal angeschaut wurde. Seither produziert Daniel Stricker praktisch ohne Ausnahme täglich ein Video.
Es kam zusammen, was offenbar zusammengehört: Ex-SRF-«Arena»-Moderator Reto Brennwald, der bald an Veranstaltungen gegen die Pandemie-Massnahmen auftreten sollte und heute für den «Nebelspalter» ein Videoformat produziert, wurde auf Stricker aufmerksam.
«Ich habe Ihre Sendung geschaut mit diesem Titel ‹Der Bundesrat gehört ins Gefängnis› und fand, das ist tatsächlich interessant, interessant genug für ein Gespräch», begann Brennwald zwei Wochen später sein Interview mit Stricker, das sowohl Brennwald wie auch Stricker auf ihren jeweiligen Youtube-Kanälen veröffentlichten.
In der Corona-Bewegung nahm Daniel Stricker eine Sonderrolle ein. Nach innen war er ein Netzwerker. Ein Verstärker für die Argumente und Exponenten der Szene. Er bot einen Ort, wo Aktionen angekündigt und Gruppen vorgestellt wurden, wo das eigene Weltbild bestätigt werden konnte. Immer wieder. Jeden Tag. Zwei Jahre lang. Ohne Pause. Nach aussen wurde Stricker in den vergangenen zwei Jahren ein Bindeglied. Ein Anknüpfungspunkt für etablierte Politikerinnen und Medienschaffende, die zu grössten Teilen von rechts kommen.
Im Gespräch mit der Republik sagt Stricker, er sei heute in Europa einer der 50 umsatzstärksten «Creators» des alternativen sozialen Netzwerks «Locals» (das im März 2020 gegründet und im Oktober 2021 vom Youtube-Klon «Rumble» übernommen wurde). Er wisse das, weil er schon mehrere Male zu einem Zoom-Call mit Locals-Gründer David Rubin und den 49 anderen «Creators» eingeladen worden sei. Als sein grösstes Vorbild nennt Stricker den US-Podcaster Joe Rogan, der mit Personen aus allen politischen Lagern stundenlange unkritische Gespräche führt und der kürzlich mit dem Musikstreamer Spotify einen Exklusivvertrag über 200 Millionen Dollar abschloss.
Bei Stricker heissen die Gäste aber nicht Elon Musk, Unternehmer und Multimilliardär, oder Pulitzer-Preis-Träger Glenn Greenwald, US-Box-Ikone Mike Tyson oder US-Senator Bernie Sanders. Sondern Barbara Müller, eine mittlerweile aus der SP ausgeschlossene Thurgauer Kantonsrätin, die insgesamt mindestens sechsmal in seiner Sendung zu Besuch war. Marcel Dobler, Nationalrat der FDP, SVP-Nationalrätin Yvette Estermann sowie deren Aargauer Kollege Andreas Glarner. Oder dann Sucharit Bhakdi, deutscher Arzt und prominenter Corona-Leugner.
Die Gästeliste liest sich vor allem auch wie ein Who’s Who rechter oder rechtsliberaler Journalisten: Roger Köppel, Zürcher SVP-Nationalrat sowie Chefredaktor und Verleger der «Weltwoche». Alex Baur, bis vor kurzem «Weltwoche»-Journalist und Fundamentalkritiker der Pandemiemassnahmen. Markus Somm, Chefredaktor des «Nebelspalters», wie auch Dominik Feusi, Journalist und Bundeshauschef des «Nebelspalters». Philipp Gut, Redaktor beim «Nebelspalter» in der Rolle als Gegner des Mediengesetzes. Stefan Millius, Chefredaktor der Zeitung «Die Ostschweiz», bis vor kurzem «Nebelspalter»-Autor und neuerdings bei der «Weltwoche». Oder Ronnie Grob, Chefredaktor der Zeitschrift «Schweizer Monat».
Von «blösen Menschen» und «Massenmerdien»
«Wir werden nonstop dauerbelogen», sagt Daniel Stricker am 26. Februar 2022, zwei Tage nachdem Russland die Ukraine überfallen hat. «Aber zum Glück gibt es kleine Inseln wie ‹Stricker-TV›, ‹Weltwoche›, ‹Weltwoche Daily›, Roger Köppel.» In derselben Sendung sagt er, es sei völlig klar, dass der Journalismus gesteuert sei. «Es ist kein Krieg von links gegen rechts. Es ist ein Krieg von oben gegen unten. Die Mächtigen und Reichen machen uns arm.»
Einen Tag später referenziert er bezüglich Putins Krieg auf den rechtsextremen amerikanischen Verschwörungsideologen Alex Jones beziehungsweise dessen Verschwörungsportal «Infowars».
Er müsse diesen Mann, den er auf Youtube nicht namentlich nennen wolle, «einfach loben, dass er diese Vision hatte, die Voraussicht, dass er seinen Kanal ‹Infowars› genannt hat, Infokriege, und genau das ist es, was wir erleben». Und später: «Es ist ein Infokrieg im Gang. Wahrscheinlich schon länger, als wir alle ahnen. Wahrscheinlich schon seit 9/11. Aber der Grad an Gleichschaltung ist ungesehen. Klar, bei 9/11 war es auch gleichgeschaltet, beim Irakkrieg auch, immer wenn es relevant ist, ist es gleichgeschaltet. Aber weil Corona sich gegen uns gewendet hat, gegen die eigenen Leute, da kann man sagen, haben wir zumindest einen Drittel der Schweizer, die merken, dass die ‹Massenmerdien›, wenn sie ja uns selber zu unserem eigenen Schaden belügen, wieso sollten sie dann ehrlich sein, wenn es um einen Krieg geht, der Tausende Kilometer entfernt ist. Nicht glaubwürdig.»
Den Begriff «Merdien» verwendet Stricker immer wieder, es ist sein Wortspiel aus Medien und dem französischen Wort «merde» für Scheisse, auf das er offensichtlich stolz ist. Bei unserem Besuch beschlich uns je länger, desto mehr das Gefühl, dass er den Begriff so verinnerlicht hat, dass er ihn automatisch und gar nicht mehr bewusst verwendet.
Als Teil des «linken Medienmainstreams» fragen wir Daniel Stricker, was denn unser Motiv sei, die Menschen ständig anzulügen. Aber wir merken bald, dass wir damit nicht wahnsinnig weit kommen. «Das kann ich unter vier Augen mutmassen», sagt Stricker. «Aber wenn ich bei euch mutmasse, dann bin ich kein investigativer Journalist, sondern ein Verschwörungsschwurbler.» Wir seien vermutlich «blöse Menschen», präsentiert er ein weiteres Wortspiel für Leute wie uns, die entweder «blöd oder böse» seien, oder beides, und das scheint dann auch schon die ganze Erklärung zu sein. «Ob ein amerikanischer Fernsehprediger den Mist glaubt oder nur Geld verdient, diese Frage können wir bis ans Ende der Tage diskutieren», sagt Stricker.
Nur noch wenige würden dagegenhalten, sagt Stricker: «Eine relativ konsequente ‹Weltwoche›, ein etwas halbherziger ‹Nebelspalter›, und dann ist bald mal fertig. Und dann gibt es nur noch Blogger und Vlogger. Und eben mich, als einen der in den letzten zwei Jahren prägenden Blogger, Vlogger.»
Aufwiegelung als Geschäftsmodell
Über sein Privatleben möchte Stricker nicht viel sagen. Er habe ein paar Groupies wegen seiner Arbeit, sagt er zu uns. Und er habe das Rugeli, seine Katze. Strickers Ein und Alles. Auf seiner alten Website führte er einen Blog mit 77 Fotos von ihm und Rugeli. Inzwischen habe er fünf Katzen. Darüber wolle er aber heute nicht mehr sprechen. Er sagt, jemand habe gedroht, das Rugeli zu vergiften oder zu erschiessen. Dann, zum Beispiel in der Sendung vom 22. April, sagt er: «Woke führt zu KZ. Zuerst PC, dann Wokeness, dann Festnahmen, und dann – ich will nicht Vergasung sagen, das ist historisch vorbelastet – ‹Verpfnüselung›.» Aber das Liebste ist ihm das Rugeli.
«Was jetzt passiert, ist eine Fortführung der ‹Cancel-Culture›», sagt Stricker Ende Mai 2022 in Bezug auf die Sanktionen gegen Russland: Der Westen wolle Putin «canceln». «Woke-Bullshit, es ist Woke-Kultur, die man an den Russen auslässt.»
Die Videos von Daniel Stricker lassen sich in vier Hauptkategorien einteilen. Die Livestreams von Demonstrationen nahmen in der Hochphase der Corona-Bewegung zwischen Mai 2020 und November 2021 eine wichtige Stellung ein. Seit der verlorenen Abstimmung über das Covid-Gesetz gibt es sie nur noch selten. Zwei weitere Spezialitäten Strickers sind mehrstündige Interviews und frei gesprochene Kommentare, meist von seinem Garten oder Auto aus gesendet.
Der grösste Teil der täglichen Dosis Stricker-TV folgt aber einem einfachen Schema: Stricker präsentiert während einer halben bis einer ganzen Stunde eine Reihe von Screenshots, die er sich zuvor zurechtgelegt hat. Sie zeigen zumeist Zeitungsartikel, manchmal auch Bilder, Tweets oder andere mediale Inhalte, die Stricker befürwortet oder – meistens – ablehnt. Anhand dieser Screenshots erklärt er ausschweifend, was Behörden, Staaten und vor allem Medien seiner Meinung nach alles falsch machen, wo und wie gelogen werde, mit welchen Mitteln die Bevölkerung manipuliert und ausgebeutet werde.
Unternehmen, die in etablierten Medien Inserate schalten, bezeichnet er als «ignorante Idioten von KMUs». «Wenn ihr wollt, dass Änderungen in der Schweiz passieren, dann reicht es nicht, einem Gewerbeverband beizutreten. Dann müsst ihr handeln. Zum Beispiel, indem ihr mutige, unabhängige Medien unterstützt mit eurer Werbung – und zwar ausschliesslich. Stopft das Geld der ‹Weltwoche› in den Rachen. Oder dem ‹Nebelspalter›. Geht den Trend in die Richtung des Guten. Die Massenmerdien sind unser Feind – the enemy of the people. Und zwar darum, weil sie nur Fake News verbreiten, und Fake News sind the enemy of the people. Die haben die Schweiz überhaupt an den Rand des Abgrunds gebracht. Oder sogar viele einzelne individuelle Schicksale in den Abgrund gestossen.»
Aufwiegelung als Geschäftsmodell.
Dass Stricker dabei Medien und Artikel kritisiert, die er gar nicht liest, dieses Gefühl beschleicht uns immer wieder, und es bestätigt sich schliesslich. Bei unserem Besuch sagt er: «Was ich sage, ist: dass wir jede Minute, die wir auf ‹20 Minuten›, im ‹Blick›, in der Republik verbringen, einfach mit Scheisse gefüttert werden. Republik kenne ich zu wenig. Habe kein Abo bei euch.» Dann lobt er den Co-Autor dieses Textes für einen Artikel, den dieser nie geschrieben hat, «irgendwas in der WOZ über 9/11».
Schliesslich, am 14. April 2022, führt sich Stricker bei seiner «Medienkritik» live auf Sendung selbst vor, und zwar, als Ronnie Grob, Chefredaktor des «Schweizer Monats», zum zweiten Mal in seiner Sendung Platz nimmt.
«Ich habe kein einziges Zeitungsabo»
Ronnie Grob, so erfährt man kurz nach seinem Besuch bei Stricker in einem Beitrag im Branchenmagazin ‹Schweizer Journalist:in›, sieht sich ebenfalls als Opfer. Als Opfer der linken Medienelite. Er habe bis heute noch keinen Journalistenpreis gewonnen, schreibt Grob, und das werde er wohl auch nie, schliesslich seien alle Journalisten links. Das schreibt er tatsächlich zu einem Zeitpunkt, wo der aktuelle Festredner beim Zürcher Journalistenpreis NZZ-Chefredaktor Eric Gujer ist, wo mit NZZ-Inlandchefin Christina Neuhaus eine sicher nicht linke Journalistin Teil der Jury ist und zwei der aktuell vier ausgezeichneten Texte an die NZZ gehen.
«Ein Blick auf Journalisten-Twitter zeigt deutlich, wie die politischen Sympathien verteilt sind: Gut dort sind linksurbane Projekte, Jacqueline Badran und die GLP, schlecht sind Freiheitstrychler, Thomas Aeschi und die FDP», so Grobs Opfererzählung. «Gegenstimmen gibt es wenige: Sie sind desillusioniert verstummt, weil sie nicht immer neue Lust haben, in Diskussionen alleine gegen eine Übermacht von grün-linken Journalisten anzutreten, die sie immer wieder in den Dunst des Rechtsextremen oder den Dunst des bezahlten Lakaien rücken.»
Für Daniel Stricker wiederum, so zeigt sich in der Sendung mit Ronnie Grob, ist auch die NZZ nur linke Weichbecherei, wie er dem verdutzten Chefredaktor des «Schweizer Monats» erklärt. Stricker empfiehlt Grob als Quelle im Kriegsgeschehen den russischen Staatssender «Russia Today». BBC oder «Spiegel» seien schliesslich auch nur Propagandakanäle. Und flucht ständig über die Putin-kritische NZZ: Der «Blick» und die NZZ würden sich inhaltlich nicht mehr unterscheiden, sagt er.
Im Gespräch offenbaren sich die Trennlinien innerhalb jener Kreise, die mit der «Cancel-Culture» und dem «linken Mainstream» zwar eine gemeinsame Feinderzählung gefunden haben, bei anderen Themen aber nicht mehr zusammenfinden. Fast alle hätten dieselbe Meinung, sagt Stricker: zu Corona, zu Russland, zum Klima. Grob versucht mit rationalen Argumenten Stricker davon zu überzeugen, dass man ideologisch ja eigentlich auf einer ähnlichen Linie sei, und die NZZ im Übrigen auch. Stricker aber empört sich immer mehr. Die SRG gehöre zerschlagen, und die NZZ sei bloss ein «Merdium» wie alle anderen. Grob, selbst ehemaliger Kolumnist bei der «NZZ am Sonntag», widerspricht ein bisschen, wird dabei aber von Stricker ständig unterbrochen. Nicht alle Journalisten hätten böse Absichten, sagt Grob schliesslich. Aber Stricker will das nicht hören.
Dann lässt Stricker seinen Regisseur live die NZZ-Seite aufrufen, um Grob die Gleichschaltung zu beweisen. Auf dem Bildschirm der Zuschauer erscheint die Website der Zeitung. Schnell findet Stricker eine Schlagzeile, die ihn aufregt: «Zürcher Obergericht bestätigt die ersten Urteile gegen Maskenverweigerer». Ohne den Artikel angeklickt zu haben, kritisiert er, was da alles weggelassen worden sei.
Da stehe ja nur die Schlagzeile, entgegnet Grob. Stricker müsse zuerst den Artikel lesen, um zu wissen, was da überhaupt drinstehe. Als Stricker das schliesslich bei einem anderen Artikel versucht und die Paywall erscheint, kann sich Stricker nicht einloggen: Er hat keinen Zugang.
Tatsächlich bestätigt er ein paar Wochen später in einer Sendung: «Ich habe kein einziges Zeitungsabo.» Die Artikel, die er in seiner täglichen Show kritisiert, als zentraler Teil seines Geschäftsmodells mit geschätzt mehr als 4000 zahlenden Kunden (wie Sie im zweiten Teil dieser Serie lesen können), kann er also gar nicht alle lesen.
Im Nebel der Verschwörungserzählungen
«Wollen Sie mal eine schöne Verschwörungstheorie hören?», fragte uns Konrad Hummler, der frühere Privatbankier und heutige Verwaltungsratspräsident der Nebelspalter AG, bei einem Gespräch im Februar 2021, bei dem es eigentlich um etwas anderes ging.
Was für eine Verschwörungstheorie denn, fragten wir Hummler.
Dass Hans-Rudolf Merz, der damalige Bundesrat und Finanzminister, 2008 gar keinen Herzinfarkt gehabt habe, sondern von einem Geheimdienst vergiftet worden sei. Schliesslich sei Merz ein höchst sportlicher Mann gewesen. Kein Anlass für einen Herzinfarkt, und so weiter. Und als er im Spital gelegen habe, hätten Bundesrätin Eveline Widmer-Schlumpf und der damalige Nationalbank-Präsident Philipp Hildebrand die UBS-Rettung durchgebracht und somit das Bankgeheimnis gebodigt.
Er selbst glaube diese Geschichte nicht, sagt Hummler. Merz habe einfach dem Druck nicht standgehalten. Er wolle mit der Geschichte nur zeigen, dass er Verschwörungsgeschichten faszinierend finde, «denn wenn man ihnen stattgeben würde, könnte man viel erklären».
Kein Jahr später kann man beim «Nebelspalter» Verschwörungserzählungen lesen, die gleichzeitig, «mit freundlicher Genehmigung», auf «Corona-Transition» erscheinen, dem Verschwörungsmedium des Solothurner Verlegers Christoph Pfluger.
«Plötzlich und unerwartet totgeschwiegen», lautete der Titel eines Textes des «Nebelspalter»-Autors Milosz Matuschek vom 9. beziehungsweise 13. Januar 2022, der sowohl beim «Nebelspalter» als auch bei «Corona-Transition» erschien.
Die These des Autors, die er schliesslich im Mai 2022 in dem von ihm koproduzierten Dokumentarfilm «Pandamned» vertieft: dass die Covid-19-Impfung tödlich ist, dass wir womöglich, wie eine Gesprächspartnerin im Film sagt, alle in drei bis fünf Jahren daran gestorben sein werden, und wenn das stimme, so ein anderer Gesprächspartner, dann sei das Völkermord. Der Basler Historiker und Verschwörungsideologe Daniele Ganser antwortet auf die Frage, ob die Menschheit schon einmal so gespalten gewesen sei wie zu Zeiten von Corona: «Juden und Nazis. Da haben die Nazis gesagt, die Juden, das sind Tiere, und haben sie vergast.»
Ende Januar erschien ebenfalls auf «Nebelspalter» und «Corona-Transition» ein Text Matuscheks zum Mediengesetz. Darin heisst es: «Anstatt per Mediengesetz dem Steuerzahler noch mehr Geld abzuknöpfen, sollten sich Journalisten lieber mal über ihr Kollektivversagen in der Pandemie Gedanken machen.» Im Sommer 2021 hatte Matuschek im «Nebelspalter» geschrieben: «Nicht erst durch Corona droht eine Ära des Neofeudalismus, in welchem der Bürger vom Souverän zum Untertan gemacht wird. Die Schweiz ist ein Sandkasten, in welchem dieser Versuch in die nächste Runde startet.»
Derselbe Matuschek war zuvor langjähriger Kolumnist bei der NZZ gewesen, wo er sich sechs Jahre lang über «Cancel-Culture» empörte und schliesslich im September 2020 selbst «gecancelt» wurde, weil er seine NZZ-Kolumne mit dem Titel «Kollabierte Kommunikation: Was, wenn am Ende ‹die Covidioten› recht haben?» auch auf dem Portal des deutschen Verschwörungsideologen Ken Jebsen veröffentlichen liess.
Doch nicht nur freie Autoren bewegen sich beim «Nebelspalter» im Umfeld der Verschwörungsszene, sondern auch Stützen der Redaktion.
Dominik Feusi, Bundeshauschef des «Nebelspalters», sprach bei seinem Besuch bei Stricker-TV in Bezug auf die Massnahmengegner mehrfach von «unserer Bewegung».
Redaktor Philipp Gut trat in seiner Rolle als Geschäftsführer der Nein-Kampagne zum Mediengesetz an zwei Kundgebungen gegen die Pandemiemassnahmen als Redner auf. Einmal davon, in Chur im September 2021, in einem T-Shirt des Vereins «Mass-voll!» von Verschwörungsideologe Nicolas A. Rimoldi.
Im «Nebelspalter» hatte der ehemalige stellvertretende «Weltwoche»-Chefredaktor Gut am 23. Oktober 2021 die Besucherzahlen einer Anti-Massnahmen-Demonstration in Bern von geschätzt wenigen zehntausend einfach um über hunderttausend nach oben korrigiert. Eine der Zahlen, die Philipp Gut im «Nebelspalter» verwendete – 150’000 –, war zuvor in Verschwörungs-Telegram-Chats wie «Widerstand2020 Schweiz», «Patriot.ch» oder «Eltern und Schule stehen auf» herumgegeistert. Dort muss er sie ungeprüft übernommen haben.
Das verbindende Element der «lieben Leute im Widerstand», wie Gut bei seinem «Mass-voll!»-Auftritt in Chur sagte, sei die Ablehnung der «Komplizenschaft zwischen Medien und Politik» im «Pandemie-Theater». Gut zeichnete in seiner Rede das Bild eines «staatlich-medialen Komplexes», das in der Szene der Verschwörungsgläubigen und Rechtsextremisten beliebt ist. «Die Mainstream-Medien sind gekauft von der Politik», sagte Gut.
«Habe ich dich gebrochen?»
Während in der Pandemie Verschwörungsgläubige und «Nebelspalter»-Autoren zusammenfanden, bröckelt diese Einheit seit Putins Angriff auf die Ukraine. Beim Besuch von «Nebelspalter»-Chefredaktor Markus Somm bei Stricker-TV Anfang April 2022 kommt es knapp drei Stunden nach einem kollegialen Beginn zum Eklat. Auf der einen Seite Putin-Versteher Stricker, auf der anderen der ideologisch den US-Neokonservativen verbundene Somm. Ein Peak-cringe-Moment im Schweizer Journalismus.
Stricker sagt, Putin wolle die Ukraine nicht um jeden Preis erobern, sonst hätte er längst Flächenbombardements eingesetzt (das sagt er zu einem Zeitpunkt, als die Stadt Mariupol zu 60 bis 70 Prozent zerstört war, wie selbst der neu eingesetzte prorussische Bürgermeister gegenüber der staatlichen russischen Nachrichtenagentur Tass angab). «Er hat auch nie gesagt, er will die Ukraine erobern, das ist Nato-Propaganda, die du da schön wiederkaust», sagt Stricker zu Somm. Es werde absurd, entgegnet Somm. Er sei einfach nicht in der Lage, Gegenargumente einzuordnen, sagt Stricker, worauf Somm das Mikrofon auf die Seite schiebt und zu schweigen beginnt.
«Habe ich dich gebrochen?», fragt Stricker.
«Habe keine Lust mehr», sagt Somm.
Er habe bloss versucht, ein differenziertes Bild zu zeichnen, er lasse seine Gäste immer ausreden, sagt Stricker, der Somm zuvor ständig unterbrochen hat.
Er habe ihn vermutlich in einer «kognitiven Dissonanz» erwischt, monologisiert Stricker weiter, woraufhin Somm auf die Toilette flüchtet, während sich Stricker über ihn lustig macht. Das gebe bestimmt einen Zuschauerrekord, wenn einer rauslaufe, lacht er in die Kamera. Und eine «Blick»-Schlagzeile, sagt er: «Handlanger Putins brachte Herr Somm auf die Toilette.»
Es ist quasi die Splatter-Version der permanenten Diskursverschiebung: Für Fans von Daniel Stricker müssen rechte Journalisten wie Markus Somm, Ronnie Grob oder Dominik Feusi wie gemässigte Systemlinge erscheinen.
Als «Nebelspalter»-Redaktor Philipp Gut im Juli 2021 und mit Blick auf die Abstimmung zum Mediengesetz Stricker-TV besuchte – das Gespräch dauerte vier Stunden –, schien es, als würden hier neue Symbiosen entstehen. Mit dem Ziel, das Land von weit rechts politisch umzukrempeln. Beim Besuch von Markus Somm ein halbes Jahr später gab es dann nur noch Chaos und Gift.
Somm, der eigentlich NZZ-Chefredaktor werden wollte (was im letzten Moment von der Redaktion verhindert worden war) und jetzt den «Nebelspalter» führt, lässt sich von Daniel Stricker beleidigen und demütigen. Die Szene wirkt in diesem Moment eher wie ein wirrer, seltsamer Abstieg des ehemals einflussreichen Schweizer Journalisten Somm, der immerhin noch mit einer Kolumne in der «SonntagsZeitung» ein breites Publikum erreicht.
Dass der eine, Philipp Gut, von Stricker begeistert war und der andere, Markus Somm, eher weniger, passt zur kurvigen Linie, die das Blatt fährt: Offensichtlich ist man sich beim «Nebelspalter» gar nicht mehr so sicher, ob man sich in der Schweiz überhaupt noch in der «freiheitlich-demokratischen Grundordnung» und dem «offenen Diskurs» befindet, denen man sich im Geschäftszweck der AG verpflichtet hat.
Der «Nebelspalter»-Autor Stefan Millius bezeichnete im November 2021 auf dem Online-Portal «Die Ostschweiz», dessen Chefredaktor er ist, die Abstimmung über das Covid-19-Gesetz als den Moment, in dem wir in der Schweiz die Demokratie «in der Realität abgeschafft» haben: «Ein scheinbar demokratisches Resultat führt uns vor Augen, dass Demokratie eine Illusion ist. Spätestens, wenn Regierende und Medienschaffende Seite an Seite arbeiten, haben wir keine Chance mehr auf einen informierten Willensentscheid.»
Hauptsache, verschiedene Meinungen
Während er für den «Nebelspalter» Texte schrieb, verantwortete Millius in seiner Funktion als «Ostschweiz»-Chefredaktor im Juli 2021 die Publikation eines Gastbeitrags mit dem Titel «Verbrechen gegen die Menschheit», in dem die Covid-Impfung als «Genozid» bezeichnet wurde. Das erste Wort im Lead: «Völkermord». Als man nach heftiger Kontroverse den Artikel vom Netz nahm, teilte die Redaktion mit, einzelne Passagen hätten die Grenzen der redaktionellen Regeln verletzt, was bei der Publikation übersehen worden sei.
Im selben Artikel wurde der Verschwörungsblog «Uncut-News» als Informationsquelle empfohlen: «Liebe Mitmenschen», hiess es bei «Die Ostschweiz», «bitte informiert euch über die unabhängigen Nachrichtenportale (z. B. uncutnews.ch), was gerade Abscheuliches stattfindet zeitgleich und überall in unserer Welt.» In einem zweiten «Ostschweiz»-Gastbeitrag wurde ein Text von «Uncut-News» als Beleg angeführt für die Behauptung, dass der Internationale Strafgerichtshof in Den Haag Anklage wegen Genozids gegen den Generaldirektor der Weltgesundheitsorganisation WHO erhoben habe.
«Uncut-News» ist eine Schweizer Website mit grosser Bedeutung für die verschwörungsideologische Szene, die von einem mittlerweile in Thailand lebenden Winterthurer Videothekenbesitzer betrieben wird. Sie fungiert als Grossverteiler von Verschwörungserzählungen aller Art: Die meisten Inhalte stammen nicht von «Uncut-News» selbst, sondern werden aus verschiedenen Quellen gesammelt und aggregiert. «Warum das russische Massaker im Bolschoi eine Fake-News-Story ist», lautet etwa eine Schlagzeile. Oder «Die unausgesprochene Kriegserklärung der Globalisten: Hybride Kriegsführung – Die Waffe Wetter». Schon seit 2014 streut «Uncut-News» zudem prorussische Propaganda, mit Titeln wie: «OstUkraine: Was ZDF und ARD nicht zeigen».
Ende April 2022 schliesslich trennt sich der «Nebelspalter» von Millius und Matuschek. Laut «Nebelspalter»-Chefredaktor Markus Somm hatte die Trennung bei beiden Autoren keine inhaltlichen Gründe (und inzwischen habe man Millius wieder als Kolumnisten zurück an Bord geholt, so Somm). «Man kann nicht genug verschiedene Meinungen publizieren», sagt er. «Wir mussten aber nach einem Jahr die Kosten zum Teil runternehmen und wurden uns mit Matuschek bezüglich Honorar nicht einig.» Weitere Auskünfte zu Sparmassnahmen wollte Somm mit Verweis auf das Geschäftsgeheimnis nicht geben. Etwa dazu, wie wir auf anderen Wegen erfahren hatten, dass die Videoformate mit Ex-Operation-Libero-Präsidentin Laura Zimmermann oder Komiker Marco Rima nicht weitergeführt werden.
Gleichzeitig kann man auf dem Medienportal «Persönlich» lesen, dass die beiden «Nebelspalter»-Autoren Matuschek und Millius schon ab Mai ein neues redaktionelles Zuhause gefunden haben. Einen Ort, wo während der Pandemie jegliche Dämme gebrochen sind und wo inzwischen radikale Verschwörungsgläubige ebenso radikale Verschwörungserzählungen verbreiten.
Bei Roger Köppels «Weltwoche».