Hand ab!
Warum der Journalist Reto Brennwald einen Fehler macht, wenn er glaubt, mit Corona-Extremisten reden zu können.
Von Olivia Kühni, 26.10.2020
Vor einigen Jahren machte ich den gleichen Fehler, den der Journalist Reto Brennwald gerade macht, wenn er ab sofort – am Freitag war Premiere – mit seinem «Corona-Dialog» durchs Land tourt. Es ist ein Fehler, den zahlreiche Menschen immer wieder machen. Und er hat manchmal tödliche Folgen.
Als Moderatorin begleitete ich eine befreundete Psychoanalytikerin an ihren öffentlichen Vortrag im Rahmen eines Festivals. Wir öffneten früh für Fragen, und eine Besucherin äusserte sich zum Eröffnungsfilm des Festivals. Als ich darauf hinwies, dass diese Debatte leider woanders stattfinden müsse, weil mein Gast mit diesem Film schlicht nichts zu tun habe, erhob sich eine zweite Frau. Wer wir da oben eigentlich zu sein glaubten? Ob wir mit unserer Arroganz die Meinungsfreiheit des Publikums einschränken wollten? Warum man hier verdammt noch mal nichts zum Eröffnungsfilm sagen dürfe, wenn man das denn wolle? Und so weiter. Eine Tirade.
Ich reagierte, wie ich es gelernt hatte: Ich nahm ihr Anliegen auf und erklärte erneut. Sie hörte nicht auf. Bis die Psychoanalytikerin die Hand hob und den überraschenden Satz sagte: «Wir sind hier übrigens nicht die Autorität.» Da hörte die Tirade auf, wie sie begonnen hatte. Später, in der Garderobe, sagte die Analytikerin: «Du musst wissen, dass du sachlich nicht weiterkommst mit Menschen, denen es offenkundig nicht um die Sache geht.»
Ich habe selten etwas Wichtigeres gelernt. Manche Menschen wollen nicht reden. Sie wollen nur auf jemanden wütend sein.
Es ist eine Einsicht – darauf würde ich viel Geld wetten –, die Reto Brennwald noch bevorsteht. Der Ex-SRF-Moderator unterliegt mit seinem «Corona-Dialog» meinem alten Irrtum: Er glaubt, man könne mit Extremisten reden. Das kann man nicht. Aus einem bestechend einfachen Grund: Reden ist nicht das, was diese Menschen wollen. Es geht nicht um die Sache. Es geht um so etwas wie ihr schwieriges Verhältnis zur Welt, und nichts, auf jeden Fall nicht Brennwald, wird das je heilen können.
Um es deutlich zu sagen: Brennwalds Dokumentarfilm «Unerhört!», den er am Freitag erstmals zeigte, ist radikal unausgewogen, hoch polemisch und verzerrt. Journalist Brennwald lässt persönliche Anekdoten stehen, ohne sie einzuordnen; er spielt bewusst mit dramatischer Musik und dem Bild einer autoritären Regierung; er lässt ausserdem mindestens eine Person mit Hang zur Verschwörungstheorie auftreten. Aber einige Fragen, die er zum Umgang der Schweiz mit der Pandemie aufwirft, sind legitim. Ebenso ist es manche Kritik.
Tatsächlich hat jeder politische Entscheid, und erst recht ein so massiver Eingriff in die Grundrechte wie ein nationaler Shutdown, Folgen und Kosten. Es ist richtig zu diskutieren, ob diese verhältnismässig sind und waren. In Demokratien haben Politiker eine Rechenschaftspflicht, und das ist gut so.
Ebenso haben sich die Vertreterinnen des Bundes, insbesondere des Bundesamts für Gesundheit, tatsächlich schwere Kommunikationspannen geleistet: etwa als fälschlicherweise behauptet wurde, ein quicklebendiger junger Mann sei an Covid gestorben. Oder ein Baby, dessen Todesursache in Wahrheit unklar war. Ebenso, als es Clubs als hauptsächliche Quelle von Ansteckungen angab – und später einräumte, es sei doch das familiäre Umfeld. Ganz zu schweigen von der verwirrenden Information um die Nützlichkeit von Masken.
Und ja, manche Medienberichte und ständige Newsticker haben Angst geweckt; und ja, Bund wie Kantone haben beim Management der Pandemie einiges falsch gemacht (wir haben etwa hier und hier darüber berichtet). Das ist alles wahr, und es ist gut, dass es auf dem Tisch liegt.
Die Sache ist nur: Über all das sprach niemand an diesem «Corona-Dialog».
Es sprach auch niemand über die interessante Frage, ob es aktuell einen anderen Weg gibt, als die Schweiz nochmals schnurgerade in einen Shutdown zu steuern – was, da sind sich viele einig, ein Graus wäre. Es sprach niemand darüber, obwohl Brennwald, der ausgezeichnet moderierte und sich bemühte, nach eigener Aussage darüber gerne diskutiert hätte.
Sehr viel Wut, sehr wenig Substanz
Stattdessen wurde während des Films gejohlt und gebuht, es wurde während der darauf folgenden Podiumsdiskussion mitten durch den Saal geschrien und gepöbelt, und es wurden demonstrativ Masken geschwenkt. Eine Besucherin schrie unter tosendem Applaus wegen der armen Kinder, die «doch ein Recht darauf hätten, in den Schulen zu lernen». Überhaupt schrie ausnahmslos jeder – es waren fast nur Männer –, der ans Mikrofon trat. Kurz: Es gab sehr viel Wut und sehr, sehr wenig Substanz.
Nun, es ist eigentlich völlig offensichtlich und wirklich einfach. Wer über eine Sache reden will, der tut genau dies: über diese Sache reden. Er oder sie kritisiert und macht Vorschläge – in den grösseren Medien der Schweiz, in einem Film, auf einem Platz, in den sozialen Netzwerken. Punkt. Es gibt viele, die dies zurzeit tun. Ebenfalls eine Option wäre es, sich im Alltag tatkräftig zu engagieren, um das Land auch in schwierigen Zeiten am Laufen zu halten. Was Zehntausende Amateursportler, Unternehmerinnen und Freiwillige im Moment tun – mit beeindruckender Innovationskraft, ohne grosses Gewese.
Wer aber stattdessen raunt und sich windet, wer zetert und schimpft und auch noch behauptet, er werde zensiert, dem geht es nicht um die Sache. Es geht ihm um: sich selbst.
Es geht solchen Menschen um ihre verzogenen Ansprüche an die Welt, um ihre Kälte und ihren Hass, und sie werden in jedem Zeitalter eine geeignete Bewegung als Vehikel dafür finden: Corona-Skeptizismus, Pegida, Make America Great Again.
Tatsächlich habe ich an diesem Freitagabend zum ersten Mal in meinem Leben Tea Party und Make America Great Again in der Schweiz erlebt. Eine solche Bewegung ist toxisch, sie raubt Energie, und sie ist, um es unmissverständlich zu sagen, der Boden, auf dem das Totalitäre gedeiht.
Falls Brennwald ernsthaft an Dialog interessiert ist, und diesen Eindruck hatte ich, darf er bei seiner Tour solche Menschen weder Bühne noch Saal dominieren lassen – falls dies nach der Tonalität des Films noch möglich ist.
Sonst holt er sich nichts als einen blutigen Stumpf, wo einst die gereichte Hand war.