Putin + Klimakrise = 🤯
Steigende Energiepreise könnten Europa politisch sprengen – ausgerechnet in einer Zeit, in der die Dekarbonisierung so nötig ist wie nie zuvor. Die Situation ist hochgefährlich – aber nicht ausweglos.
Von Elia Blülle, 25.03.2022
Ein Anstieg von zwei oder drei Grad wäre für ein nördliches Land wie Russland nicht so schlimm. Wir müssten weniger für Pelzmäntel ausgeben.
Der Gaspreis steigt und steigt und steigt. In der Schweiz kostet Benzin so viel wie noch nie. Kerosin und Heizöl werden auch immer teurer. Und sollte der russische Präsident und Quasidiktator Wladimir Wladimirowitsch Putin bald endgültig den Gashahn zudrehen, würden die Preise weiter in die Höhe schiessen.
Nun könnte das eigentlich eine gute Entwicklung sein, denn wir müssen uns sowieso von fossilen Energieträgern verabschieden. Steigen die Preise für Öl und Gas, werden erneuerbare Energieformen attraktiver – umso besser.
Bloss: So einfach ist es nicht.
Steigende Energiepreise könnten Europa politisch sprengen. Eine wirksame Klimapolitik wäre für Jahre vom Tisch: CO2-Steuern ein Tabu, grüne Technologien verhindert, die Dekarbonisierung verlangsamt.
Beim Krieg, den Putin gegen die Ukraine führt, geht es nicht nur um Grossmachtsfantasien, Zerstörung und Geopolitik. Es geht auch um die Klimakrise – und um Russlands hochgefährliche Rolle im Umgang damit.
Eskalation statt Kooperation
An der letztjährigen Klimakonferenz in Glasgow waren sich fast alle Staaten einig, dass die kommenden acht Jahre darüber entscheiden, wie und vor allem unter welchen Bedingungen künftige Generationen auf diesem Planeten leben werden. Der wissenschaftliche Klimarat betont im neusten Sachstandsbericht, es brauche jetzt Massnahmen, um irreversible Schäden bei Mensch und Umwelt zu verhindern. «Wir haben nur ein kleines Zeitfenster», warnte der Ökologe Hans-Otto Pörtner als Co-Vorsitzender des Klimarats.
Dass sich Russland – beziehungsweise Putin – gerade in die Selbstisolation bombt, hat die Aussichten noch einmal verdüstert.
Um die Pariser Klimaziele einzuhalten, müssten sich nämlich insbesondere jene Grossmächte über eine schnelle Dekarbonisierung einigen, die gemeinsam mehr als die Hälfte aller globalen CO₂-Emissionen verantworten: China, die USA, Indien und – Russland. Künftig werden diese Länder aber nur noch im Schatten von Kriegsverbrechen miteinander sprechen. Feind oder Freund. Wer nachgibt, verliert. Eskalation statt Kooperation. Ein kalter Krieg.
Die Gefahr dabei: Russland könnte künftig gemeinsam mit verbündeten Staaten Klimaschutzverhandlungen in den Vereinten Nationen komplett blockieren, wie das in der Vergangenheit schon geschehen ist. Diplomatie als Provokation. Die ukrainische Umweltministerin fordert deshalb, Russland ganz aus dem Klimaabkommen auszuschliessen. Eine weitere Blockade der Verhandlungen würde den kläglichen, langsamen Niedergang des Pariser Klimaabkommens bedeuten, das die globale Erderwärmung auf 1,5 Grad Celsius im Vergleich zur vorindustriellen Zeit begrenzen will.
Neu wäre die russische Verweigerung in der Klimapolitik allerdings nicht.
Wichtige Repräsentanten der Russischen Akademie der Wissenschaften gebärden sich schon lange als Klimaskeptiker. Viele Politikerinnen und Akademiker sehen in der Klimakrise eine vom Westen erfundene Verschwörung, um Russland zu schwächen. 2018 sagte Putin, die Erde erwärme sich durch «kosmische Veränderungen, irgendwelche Verschiebungen in der Galaxie, die für uns unsichtbar sind».
Putin selbst hat zwar vergangenes Jahr die Klimaneutralität Russlands bis 2060 angekündigt. Unternommen aber hat er bisher nichts. Die jüngst verabschiedete «Energiestrategie» enthält keine einzige Massnahme zur CO₂-Senkung. Stattdessen setzt Putin vollständig auf Gas, Öl und Kohle.
Das ist aus seiner Perspektive nachvollziehbar: Die angestrebte Dekarbonisierung ist für Putin ein hochgradig persönliches Thema.
Ein Russland ohne Fossile ist ein armes Russland
Fossile Energieträger sind de facto die einzigen Ressourcen, die Russland noch hat. Heute steht das Land bei den weltweiten Gasexporten an erster, bei den Ölexporten an zweiter und bei den Kohleexporten an dritter Stelle.
Für Putin ist das Fluch und Segen zugleich.
Ein Fluch, weil das Land über keine Alternative zu den fossilen Energieträgern verfügt. Sobald die Nachfrage im Ausland abnimmt, ist Russland ohne Öl- und Erdgasexporte ein armes Russland.
Ein Segen, weil vor allem das Erdöl die Autokratie finanziert und das Gas neben den Atombomben das wichtigste von Putins Drohmitteln ist. Seit den 2000er-Jahren hat Russland diverse Länder mit Pipelines an sich gebunden.
In Putins Energiestrategie heisst es ausdrücklich, dass «Energieexporte dazu beitragen sollen, die Aussenpolitik des Landes zu fördern».
Was Putin unter «Aussenpolitik» versteht, hat er in den letzten Wochen und Monaten klargemacht. Seit einem Jahr spielt er mit dem Gashahn. Der Staatskonzern Gazprom drosselte letztes Jahr die Lieferungen, und die EU-Staaten konnten im Sommer ihre Speicher nicht auffüllen. Noch im Herbst deuteten Experten die Verknappung als Erpressungsversuch, um eine schnelle Zertifizierung der Gaspipeline Nord Stream 2 herbeizuführen.
Heute wissen wir: Putin bereitete einen Energiekrieg vor.
Erst diesen Februar erklärte die EU-Kommission Erdgas für «nachhaltig»; es ist ungefähr ein Viertel weniger klimaschädlich als Erdöl. Bis vor kurzem hat Frankreich Gasheizungen mit staatlichen Geldern subventioniert. Das russische Gas hätte in Europa die grüne Wende mit billiger Breitbandenergie absichern sollen. Noch im Jahr 2020 warteten in den europäischen Ländern insgesamt über 100 Milliarden Euro darauf, in Gasprojekte investiert zu werden. So viel Geld, dass man damit acht neue Gotthard-Basistunnel bauen könnte.
Nun ist die Strategie, Erdgas als «nachhaltige» Brückentechnologie zu nutzen, in sich zusammengefallen wie ein lausig gebackenes Soufflé.
Durch die Gaspipeline Nord Stream 2, «eine gefährliche geopolitische Waffe des Kreml» (O-Ton des ukrainischen Präsidenten Wolodimir Selenski), wird wohl nie Erdgas strömen. Das Projekt ist sistiert. Ein 9-Milliarden-Euro-Loch. Stattdessen setzten die europäischen Regierungen auf Kohle und importieren teures Flüssiggas aus Katar, das neue Abhängigkeiten schafft, die ebenso gefährlich sind. Kohlekraftwerke werden in Deutschland (und auch anderswo) länger betrieben als geplant.
Das wird die europäische Klimabilanz in den kommenden Jahren verhunzen. Trotzdem will die Europäische Union nun vorwärtsmachen. Das Ziel: Noch «deutlich vor 2030» sollen die EU-Mitglieder auf russisches Gas verzichten.
In Deutschland, das sich mit Gas durch den Winter heizt, haben die Ministerien ein ganzes Paket neuer Gesetzesentwürfe vorgestellt. Der Ausbau von erneuerbaren Energien soll noch einmal massiv beschleunigt werden, die Zahl der Windräder zu Land und auf See vervielfacht werden. Bis 2026 wollen die Deutschen umgerechnet zusätzliche 200 Milliarden Franken in den Klimaschutz und die grüne Energiewende investieren.
«Eine verantwortungsvolle, vorausschauende Energiepolitik ist nicht nur entscheidend für unsere Wirtschaft und unser Klima», sagte der deutsche Bundeskanzler Olaf Scholz. «Sondern entscheidend auch für unsere Sicherheit.»
Der Russland-Ukraine-Krieg schweisst Europa über fast alle politischen Lager zusammen. Die Energiewende ist nicht mehr nur eine Utopie von Birkenstockträgern, sondern elementare Sicherheitspolitik. Heute sind politische Massnahmen möglich, die gestern noch keine Mehrheit fanden.
Gute Nachrichten in düsteren Zeiten. Doch es folgt ein fettes Aber.
Putins Krieg hat die Gas- und Erdölpreise auf ein so hohes Niveau katapultiert, dass sie die Energiewende auszubremsen und die Ärmsten in Europa in eine finanzielle Misere zu stürzen drohen.
Und das ist eine der gefährlichsten Rollen, die Putin spielt: Er kann Europa in eine politische Krise zwingen, die es nicht nur grundsätzlich schwächt – sondern die auch die gesamte Klimapolitik auf Jahre hinaus lahmlegt.
Steigt der Ölpreis, droht die Inflation
Um zu verstehen, wieso es zu früh für Jubelstimmung ist, muss man sich damit beschäftigen, wie Inflation und Energiepreise zusammenhängen.
Fast alles, was wir gegen Geld konsumieren, seien es Güter oder Dienstleistungen, entsteht heute durch den Einsatz von Energie. Bis zum Beispiel der Morgenkaffee in die Tasse tröpfelt, sind Dutzende Arbeitsschritte nötig, bei denen Strom, Benzin und Kerosin verbraucht werden. Sie halten unsere Wirtschaft am Leben wie ein schlagendes Herz.
Steigen die Preise für Öl oder Gas, treibt das auch die Inflation an.
Inflation herrscht, wenn man heute für ein Kilo Kaffeebohnen 10 Franken bezahlt, morgen aber für das gleiche Kilo 2 Franken mehr – und das bei vielen Produkten und Dienstleistungen gleichzeitig. Es ist ein allgemeiner Anstieg des Preisniveaus.
Wird Energie teurer, wird alles teurer. In den letzten Monaten haben sich die Energiekosten durch ganze Volkswirtschaften gefressen. In vielen Ländern ist die Inflationsrate so hoch wie seit Jahrzehnten nicht mehr. Im Vergleich zum Vorjahr beträgt sie im europäischen Wirtschaftsraum hohe 5,9 Prozent.
An den Finanzmärkten wird deshalb eine Leitzinserhöhung der Europäischen Zentralbank mittlerweile nicht mehr ausgeschlossen. Das würde bedeuten: Wer Geld ausleihen will, müsste dafür mehr Zinsen bezahlen.
Florian Egli, Ökonom an der ETH Zürich, sagt, die Inflation habe einen überproportionalen Effekt auf erneuerbare Energien. Er hat an einer Studie mitgearbeitet, die zeigt, dass in Deutschland die Kosten für Solaranlagen um 11 Prozent und für Windkraftprojekte um 25 Prozent steigen könnten, sollten die Zinsen wieder ein so hohes Niveau erreichen wie vor der Finanzkrise.
Bedenklich ist das vor allem, weil die erneuerbaren Energien sich gerade erst durchsetzen. Die Internationale Energieagentur prognostizierte 2020, dass erneuerbare Energien bald ohne Subventionen auskommen würden. Regierungen und Industrieverbände in ganz Europa denken darüber nach, die Fördermassnahmen in den kommenden Jahren auslaufen zu lassen.
Nun nimmt die Attraktivität von grünen Investitionen wieder ab. Das Risiko ist zu gross. Die Internationale Energieagentur schrieb deshalb bereits im Dezember, dass hohe Rohstoffpreise, Inflation und steigende Zinsen die Energiewende verlangsamen und deren Kosten erhöhen könnten.
Das allein wäre schon tragisch genug.
Die Lage würde aber zusätzlich verschlimmert, wenn aufgrund der Energiepreise auch die europäischen Klimaziele unter Beschuss gerieten.
Und das werden sie.
Für die Ärmsten wird es am teuersten
Das Herzstück der europäischen Klimapolitik ist der Emissionshandel. Energiewirtschaft und Industrie müssen für jede Tonne CO2, die sie verursachen, Emissionsrechte kaufen. Es gilt das Verursacherprinzip: Wer dreckelt, muss zahlen. Richtig umgesetzt, würden so alle anderen Massnahmen obsolet. Der Markt spielte seine Wucht aus – ohne Verbote, übermässige Staatsinterventionen und Bürokratie. So die Theorie.
Doch seit seiner Einführung 2005 war der europäische Emissionsmarkt mehr oder weniger nutzlos. Die Preise für die Emissionsrechte lagen viel zu tief und erzeugten keine Wirkung. Es war, als wollte man den Amazonas umlenken – mit ein paar wenigen Sandsäcken.
Das ändert sich nun. Letzten Juli hat die EU-Kommission Gesetzesvorschläge präsentiert, mit denen sie die 27 Mitgliedsstaaten in das klimaneutrale Zeitalter führen will. Unter anderem soll neben dem bestehenden EU-Emissionshandel ein zweiter Markt für Verkehr und Gebäude entstehen. Der bereits bestehende Emissionshandel, etwa für Kohlekonzerne, soll verschärft werden.
Davon angetrieben, hat sich der Preis für Emissionsrechte seit 2020 vervierfacht. Endlich wirkt der Markt. Dämme statt Sandsäcke.
Doch die Preissteigerungen haben auch Gegner. Die Feinde von Reformen und Klimazielen gewinnen mit jedem Rappen an Zuwachs. Die «Financial Times» spricht von einem regelrechten «Oppositionssturm».
So fordert etwa die konservative EVP, die grösste Fraktion im Europäischen Parlament, eine Notbremse gegen zu schnell steigende Zertifikatspreise.
Die Regierungen von Ungarn, Tschechien und Polen verlangten bereits im Herbst, Europa müsse seine Klimapolitik überdenken. Der ungarische Premierminister Viktor Orbán bezeichnete sie als eine «utopische Fantasie».
Der luxemburgische Umweltminister erklärte, seine Regierung werde sich einer Ausweitung des Emissionsmarktes auf Autos und Gebäude widersetzen, «da dies die Gefahr birgt, einkommensschwächere Bevölkerungsschichten zu bestrafen». Auch die Umweltschutzorganisation Greenpeace sagte, das neue Emissionshandelssystem «könnte ärmeren Haushalten schaden».
Tatsächlich könnte eine Ausweitung des Emissionshandels die Energiepreise weiter ankurbeln. Eine Modellierung von «Cambridge Econometrics» schätzt, dass sich die Kosten für französische Gasheizungen in den nächsten zehn Jahren fast verdoppeln werden und kohlebeheizte Haushalte in Polen mit einem Preisanstieg von 188 Prozent rechnen müssten.
Kommt hinzu: Steigt das allgemeine Preisniveau, also die Inflation, trifft das die sozialen Schichten ungleich. Ärmere Menschen haben keine Reserven. Jeder Rappen zählt. Das wird rasch existenzbedrohend.
Passen jetzt die Regierungen nicht auf, schlittert bald auch die untere Mittelschicht in die Armut. Und Menschen, die frieren, ihre Stromrechnungen oder das Benzin nicht bezahlen können, werden keine teure Energiewende unterstützen.
Sollte Putin seine Drohung wahrmachen und die Pipeline Nord Stream 1 schliessen, würden die Gaspreise den Rest erledigen: Die europäische Klimareform wäre ernsthaft bedroht.
Auftrieb für die Anti-Klima-Rechte
Welche politische Sprengkraft hohe Energiepreise haben, zeigten die gilets-jaunes-Proteste in Frankreich 2018 eindrücklich. Sie wurden durch anonyme Facebook-Beiträge gegen die neue Ökosteuer auf Benzin losgetreten. Angeheizt von russisch gelenkten Trollen und Putins Staatsmedien wie Sputnik und RT, die Propaganda übers Netz verteilten.
Zehntausende zogen durch die Strassen von Paris – es gab gewalttätige Ausschreitungen, Dutzende Schwerverletzte und auch Tote.
Im Moment tritt die europäische Politik noch geeint auf. Aber das kann sich rasch ändern. In Frankreich sind bald Wahlen, die extreme Rechte klopft an die Pforte des Élysée-Palasts. Überall versuchen klimaskeptische Kräfte, die steigenden Energiepreise den ökologischen Steuern in die Schuhe zu schieben – und sie beginnen bereits heute damit, die Millionen Flüchtenden aus der Ukraine für ihre Zwecke zu instrumentalisieren.
Mit Putin spielt ein Autokrat mit der europäischen Energieversorgung, der ein Interesse daran hat, die Dekarbonisierung weiter zu verzögern. Er wird auch in Zukunft wieder jene Kräfte in Europa unterstützen, die sich in der Vergangenheit mit ihm verbündeten. Es sind die gleichen, die seit 30 Jahren die Energiewende und jegliche Klimapolitik vehement bekämpfen.
Etwa Nigel Farage. Der britische Brexit-Politiker brach schon Interviews ab, als ihn Journalisten nach seinen Beziehungen zu Russland fragten. Putin lobte er einst als den «besten politischen Führer der Welt». Jetzt lanciert er eine neue Bewegung, die ein Referendum über die britischen Netto-null-Ziele fordert. In einem Kommentar schrieb er: «Netto null ist netto dumm.»
Die rechtsextreme deutsche AfD, bekannt für ihre Nähe zu Putin, versucht den Anstieg des Benzinpreises der neuen deutschen CO2-Steuer anzuhängen. «Weg mit der CO2-Steuer, weg mit der Ökoabgabe. Die Bundesregierung muss die Bürger entlasten», fordert die Fraktionsvorsitzende von der Bundesregierung.
Und die französische Präsidentschaftskandidatin Marine Le Pen sagte, dass sie im Falle ihrer Wahl alle Subventionen für erneuerbare Energien streichen und die Windkraftanlagen in Frankreich abbauen würde. Wenige Tage nach Kriegsausbruch liess Marine Le Pen 1,2 Millionen Wahlkampfflyer schreddern, die sie lächelnd beim Handschlag mit Putin zeigten.
Der Russland-Ukraine-Krieg rückt die Verkettung zwischen fossilen Energieträgern, Autoritarismus und extremem Populismus so offen ans Licht wie noch nie. Er zeigt: Die Dekarbonisierung ist nicht nur eine ökologische Angelegenheit, sondern auch eine Frage der Demokratie.
Subventionen für eine tote Industrie
Mit Putin erpresst ein Autokrat Europa, der schon seit 20 Jahren viel Geld in die Spaltung des Kontinents investiert.
Möglich ist das nur, weil die europäischen Regierungen, Parlamente und Wählerinnen – die Schweiz inklusive – blind darauf vertrauten, dass sich die Märkte irgendwann irgendwie bewegen und die Dekarbonisierung vorantreiben würden.
Das Resultat waren 30 Jahre gähnende Nichtpolitik.
Ein Beispiel: Zwischen 2010 und 2021 stieg der Anteil von SUV am europäischen Automarkt von 10 Prozent auf beinahe 50 Prozent. In der Schweiz ist fast jedes zweite neu verkaufte Auto ein Geländewagen. Besonders in Deutschland, aber auch in der Schweiz, blieb der Verkehr faktisch unangetastet.
Die Ironie: Jetzt, wo sich die Märkte endlich bewegen, das Autofahren, das Heizöl und das Gas teurer würden, droht ein massiver politischer Backlash. Die exorbitanten Preise könnten die Energiewende ausbremsen und die Menschen in die Armut treiben.
Um steigende Armut zu verhindern, planen nun diverse europäische Regierungen, die Gas- und Benzinpreise zu deckeln. Frankreich und Spanien haben die Subventionen für fossile Brennstoffe wieder eingeführt – nur vier Monate nachdem sie auf dem Klimagipfel deren Abschaffung beschlossen hatten. Und in der Schweiz entschied die Mehrheit des Nationalrats letzte Woche, Benzin und Diesel um 7 Rappen zu vergünstigen.
Das alles ist verrückt. Subventionen für Sprit und Heizöl sind wie Schutzgeldzahlungen an die Mafia: Für kurze Zeit investiert man in die Sicherheit, aber je länger man zahlt, desto mehr Geld steckt man in den eigenen Untergang.
«Der Tankrabatt ist teuer, schädlich und unsozial», sagte der deutsche Ökonom und Präsident des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung Marcel Fratzscher am Wochenende im Radiosender «Deutschlandfunk».
Denn damit wird jede Klimapolitik ad absurdum geführt. Auch nach der Energiekrise werden viele Unternehmen darauf hoffen, dass der Staat bei steigenden Energiepreisen erneut eingreift. Ein fataler Fehlanreiz: Gewinne für die Verschmutzer, das Risiko dem Staat.
Es droht ein ähnliches Debakel wie bereits in der Pandemie: In den ersten vier Monaten 2020 investierten die G-20-Staaten 89 Milliarden Dollar öffentliche Gelder in erneuerbare Energien. Aber 151 Milliarden flossen gleichzeitig in Öl- und Gasfirmen. Die historisch grösste Chance, die grüne Wende voranzutreiben, platzte rasch und leise wie eine Seifenblase.
Wie können die Regierungen in Brüssel, Bern oder London nun verhindern, dass im Zuge des russischen Krieges wieder dasselbe passiert?
Deutschland macht vor, wie es gehen könnte: Die Regierung hat aufgrund der Energiekrise milliardenschwere Entlastungen beschlossen. Arme Familien sollen für ihre Kinder bald einen Zuschlag von 20 Euro im Monat erhalten, Empfänger von Sozialleistungen einmalig 100 Euro ausgezahlt bekommen. Das reicht bei weitem nicht, aber es ist ein Anfang.
In der Schweiz wird die CO2-Abgabe bereits heute über die Krankenkasse zurückverteilt. Anstatt jetzt Benzin zu subventionieren – eine Massnahme, von der SUV-Fahrerinnen überproportional profitieren –, könnten Bund und Kantone einkommensschwache Familien über die bereits bestehenden Prämienverbilligungen stützen. Das spüren Arme sofort im Portemonnaie. Es wäre eine kühne Sozialpolitik, die sowohl die freiheitliche Ordnung Europas als auch die Klimakrise als grösste Herausforderungen priorisierte.
Mit ihrem Klimapaket setzt die EU als erste grosse Volkswirtschaft der Welt ihre Klimaversprechen in konkrete Massnahmen um. Gelingt es und folgen die USA, wird das auch China unter Druck setzen. Das ist wichtig, denn der weitere Verlauf der Erderwärmung hängt vor allem auch von der chinesischen Regierung ab, die über ein Drittel aller globalen Emissionen wacht.
Müssen aber die Ärmsten die Kosten schultern, werden viele klimapolitische Ambitionen scheitern und die hohen Energiepreise Europa politisch spalten.
Und davon würde vor allem einer kräftig profitieren. Er hat sein Büro in Moskau.