Wie sich Europa beim Klimaschutz betrügt
Die EU will Vorreiterin sein, doch ihre Green-Deal-Pläne werden durch die Mitgliedsstaaten hintertrieben: Sie subventionieren den fossilen Energieverbrauch weiterhin mit Milliarden. Wie das System funktioniert – und wie es sich ändern lässt.
Von Harald Schumann (Investigate Europe), Simon Schmid (Text) und J. Henry Fair (Bilder), 06.07.2020
In Soroni, an der Küste von Rhodos, kündigt sich ein schöner Junitag an. Doch kurz vor Sonnenaufgang dröhnt lauter Maschinenlärm vom Meer. Das Tankschiff Ice Hawk bringt den Brennstoff für das lokale Kraftwerk, das den Strom für die jährlich mehr als 2 Millionen Touristen liefert. Taucher schliessen das Schiff an unter Wasser verlegte Pipelines an, dann drücken die Pumpen 6000 Tonnen Schweröl und Diesel in die Tanks an Land. Der Treibstoff reicht für 20 Tage, dann kommt die nächste Lieferung. Das gleiche Schauspiel läuft auch auf der anderen Seite der Insel ab, wo direkt neben einem Naturreservat ein weiteres Kraftwerk mit Öl betrieben wird.
Diese Stromproduktion ist nicht nur schmutzig, sie ist auch teuer. Darum bezahlt der griechische Staat die Tankschiffe und Ölgeneratoren. Und das nicht nur auf Rhodos: Genauso läuft es auf Dutzenden weiteren Ferieninseln in der Ägäis. Über eine halbe Milliarde Euro kostet das den Staat – jedes Jahr.
Der Missstand ist seit über 20 Jahren bekannt. Aber geschehen ist lange nichts, denn die Subventionen begünstigten die Schifffahrts- und die Ölbranche und deren Eigentümerinnen, darunter die Familien Latsis und Vardinogiannis, deren Pfründen auch die während der Eurokrise eingesetzten Kontrolleure der Troika nicht anzutasten wagten. «Es ist verrückt», ärgert sich Greenpeace-Campaigner Takis Grigoriou. «Die ganze Welt redet vom Klimaschutz, und wir verschwenden Milliarden Euro, um ein paar Dutzend Ölkraftwerke für die Touristen zu betreiben.»
Milliarden für fossile Energien
Nicht nur in Griechenland prägen solche Widersprüche die Klimapolitik. In ganz Europa krankt sie daran. Da fordern Bundeskanzlerin Angela Merkel und Präsident Emmanuel Macron die «Dekarbonisierung» der Wirtschaft. Und Ursula von der Leyen, Präsidentin der EU-Kommission, verkündet den «Green Deal» und die «Klimaneutralität» bis 2050. Aber gleichzeitig fördern die EU-Mitgliedsländer mit einer endlosen Reihe von Fördergeldern und Vergünstigungen den Verbrauch von fossilen Treib- und Brennstoffen.
Die Subventionen reichen vom steuerbegünstigten Diesel bis zur Stützung der Kohleindustrie, von der Steuerfreiheit für die Luftfahrt bis zu kostenlosen Emissionslizenzen für die Stahl- und die Chemieindustrie. So heizen die 30 Staaten der europäischen Wirtschaftszone plus Grossbritannien und die Schweiz die globale Erwärmung Jahr für Jahr mit mindestens 137 Milliarden Euro an. Dies ergaben Recherchen des Journalistinnenteams Investigate Europe. Praktisch alle Länder sind in der einen oder anderen Form daran beteiligt.
Würden die europäischen Staaten die Steuerschlupflöcher schliessen, so stünde ihnen ein zusätzlicher Betrag zur Verfügung, der fast so gross ist wie das ganze EU-Budget. Verwendet werden könnte das Geld für die Forschung, für den Klimaschutz oder ganz einfach für die Entlastung der Steuerzahler.
137 Milliarden sind auch deutlich mehr, als die EU offiziell zugibt. Sie beziffert die Subventionen für fossile Energien europaweit nur auf 55 Milliarden Euro. Gegen 80 Milliarden Euro an Subventionen schlüpfen also unter dem Radar durch. Wobei auch dies noch konservativ gerechnet ist: Als Subventionen gewertet hat Investigate Europe nur die expliziten Steuervergünstigungen und Fördergelder, die einer Firma oder einer Verbraucherin gewährt werden. Würde man auch die externen Umwelteffekte mitberücksichtigen, die im Verbraucherpreis von Rohstoffen wie Erdöl nicht inbegriffen sind, so läge der Subventionsbetrag ungefähr doppelt so hoch.
So oder so handelt es sich um enorme Summen, die fossilen Energien zugutekommen. Am meisten profitiert davon der Autoverkehr: Fast ein Drittel der EU-weiten Subventionen ergeben sich durch die reduzierte Besteuerung von Dieseltreibstoffen. Weitere grosse Posten sind Steuernachlässe für die energieintensive Zementindustrie, die Stahl- oder die Erdölindustrie und für die Luftfahrt.
Eine wichtige Datenquelle zu den fossilen Fördergeldern ist die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD), ein Zusammenschluss der Industrieländer. Sie hat sich dazu schon oft geäussert. «Diese Subventionen verschwenden öffentliche Gelder, sie sorgen für erhöhte Treibhausgasemissionen und verschlimmern die Luftverschmutzung», beklagte anlässlich der Corona-Krise ihr Generalsekretär Angel Gurría.
Aber warum halten Europas Regierende daran fest und sabotieren so ihre eigene Klimaschutzpolitik? Investigate Europe ist dieser Frage im Gespräch mit Ministern, Kommissarinnen, Abgeordneten, Lobbyistinnen und Wissenschaftlern nachgegangen – und ist auf ein Knäuel aus historisch gewachsenen Abhängigkeiten, politischem Opportunismus und einer fundamentalen Fehlkonstruktion der europäischen Gesetzgebung gestossen.
Das Diesel-Privileg
Dafür steht archetypisch die Förderung von Dieseltreibstoff. In fast allen EU-Ländern zahlen Konsumentinnen darauf weniger Energiesteuer als auf Benzin: Statt 36 bis 77 Cent je Liter werden bei Diesel nur 33 bis 69 Cent berechnet.
Weil Diesel jahrzehntelang fast nur für Lastwagen und Traktoren eingesetzt wurde, war das früher eine gängige Methode der Wirtschaftsförderung. Im Jahr 2003 schrieb die EU das Steuerprivileg in einer Energiesteuerrichtlinie sogar ausdrücklich fest. Für Dieselkraftstoffe, die insbesondere von Güterkraftverkehrsunternehmen verwendet werden, sei die Möglichkeit einer besonderen steuerlichen Behandlung vorzusehen, heisst es darin.
Die Folge war eine Fehlentwicklung. Weil Diesel billiger war, investierte die Autoindustrie im grossen Stil in Pkw mit Dieselmotoren. Deren Anteil an den Verkäufen stieg bis 2015 in Deutschland auf über 50 Prozent, in Frankreich sogar auf über 70 Prozent. Zig Millionen Europäerinnen fahren Autos, die mit hohen Stickoxidemissionen die Luft in den Städten vergiften und den Klimawandel verstärken. Zugleich fördert der billige Treibstoff den Lkw-Transport über die Autobahnen, der zulasten der klimafreundlichen Bahn zunimmt. Fast die Hälfte des verbrauchten Diesels verbrennen Laster der Logistikbranche.
Investigate Europe ist ein Journalistenteam aus 9 Ländern. Es recherchiert Themen und veröffentlicht die Ergebnisse europaweit. Das Projekt wird von diversen Stiftungen sowie von privaten Spenden und Leserbeiträgen unterstützt. Zu den Medienpartnern für die Recherche über fossile Subventionen gehören unter anderem «Der Tagesspiegel» (Deutschland), «Svensk Natur» (Schweden), «Newsweek Polska» (Polen), «Público» (Portugal), «Il Fatto Quotidiano» (Italien), «De Groene Amsterdammer» (Niederlande) und «Trends» (Belgien). Hauptautor des vorliegenden Beitrags ist Harald Schumann. Für die Informationen aus der Schweiz und die Redaktion ist Simon Schmid verantwortlich.
Doch obwohl der Schaden offenkundig ist, verweigern Europas Regierende die nötige Reform. In Deutschland leugnet die Bundesregierung sogar, dass es sich überhaupt um eine Subvention handelt. Doch das stimmt nicht. Felix Matthes, Energieexperte des Öko-Instituts in Freiburg im Breisgau, hat für Investigate Europe die Kosten des Diesel-Privilegs durchgerechnet. Er kommt zum Schluss, dass der Staat zugunsten von Dieselfahrern und Speditionen jedes Jahr auf 11,5 Milliarden Euro verzichtet – fast doppelt so viel, wie die Bundesregierung letztes Jahr für die Projekte ihres Klimafonds übrig hatte. In anderen europäischen Ländern geht es um ähnliche Summen.
Selbst nachdem ab 2015 ein Betrug der Hersteller bei den Abgaswerten ihrer Dieselautos aufgedeckt wurde, will keines der verantwortlichen Ministerien daran rühren. «Wir wollen die Verbraucher jetzt nicht auch noch mit einem höheren Preis an der Tankstelle bestrafen», erklärt ein beteiligter deutscher Beamter, der nicht genannt werden möchte, das Stillhalten seiner Regierung.
Und genauso halten es viele andere EU-Regierungen. Dahinter steckt die Furcht vor dem Widerstand der mit den falschen Autos ausgestatteten Bürgerinnen und des Transportgewerbes. Das Kuriose ist: Inzwischen sind selbst führende Manager der Automobilindustrie eingeschwenkt. So forderte jüngst ausgerechnet Herbert Diess, der Chef des Volkswagenkonzerns, man solle die Mineralölsteuer in eine CO2-Steuer umwandeln. Lothar Binding, langjähriger finanzpolitischer Sprecher der SPD-Fraktion im Bundestag, sieht das nicht anders. Er würde das Diesel-Privileg sofort abschaffen, versichert er im Gespräch. Aber dafür, so fürchtet er, gibt es keine Mehrheit im Bundestag. «Hier sind alle befangen», sagt er. «Die meisten fahren selbst einen Diesel.»
Steuerbefreite Luftfahrt
Anders als viele EU-Länder kennt die Schweiz keinen Diesel-Steuerrabatt. Und auch in der Gesamtrechnung schneidet sie nicht allzu schlecht ab: Gemessen am BIP machen die Subventionen für fossile Energien hierzulande nur 0,4 Prozent aus. Im Durchschnitt der EU-Länder betragen sie 0,7 Prozent. Trotzdem summieren sich die gesamten Förder- und Verzichtsmassnahmen auch in der Schweiz auf einen beachtlichen Betrag: 2,6 Milliarden Franken.
Fossile Subventionen in der Schweiz
2019, in Millionen Franken
Mineralölsteuer | ||
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Nichtbesteuerung von Flugbenzin | 1728 | |
Rückerstattung der Steuer für konzessionierte Transportunternehmen | 84 | |
Rückerstattung der Steuer für Land- und Forstwirtschaft | 70 | |
Weitere Ausnahmen | 37 | |
Direkte Bundessteuer | ||
Steuerabzüge für Pendler, die das Auto benutzen | 333 | |
CO2-Steuer | ||
Ausnahmen für Firmen im Emissionshandel und Firmen mit Zielvereinbarungen | 306 | |
Forschungsbeiträge | ||
Entwicklungen im Bereich Petroleum und Kohle | 8 | |
Total | ||
Wert aller Subventionen in fossile Energieträger | 2566 | |
Quelle: OECD. |
Grösste Profiteurin von Subventionen ist die Luftfahrt. Grosses Aufheben wurde zuletzt um die Unterstützungskredite über 1,9 Milliarden Franken gemacht, die der Bund den Airlines wegen der Corona-Krise notfallmässig gewährt. Vergessen geht dabei, dass die Luftfahrt so oder so jedes Jahr eine ähnliche Unterstützung erfährt: Über 1,7 Milliarden Franken an Steuern wären etwa letztes Jahr fällig gewesen, wäre Kerosin zum selben Satz wie Autobenzin oder Diesel besteuert worden. Doch für die allermeisten Flüge ist der Treibstoff von der Mineralölsteuer ausgenommen – gemäss einer internationalen Praxis, die auch in sämtlichen EU-Staaten angewandt wird.
Weitere Steuerausnahmen gibt es für Busse im öffentlichen Verkehr, für die Land- und die Forstwirtschaft und für die Skigebiete. Sie haben im Parlament durchgesetzt, dass etwa Pistenbullys beim Tanken weniger Steuern zahlen. Von Rabatten profitieren auch die Autopendlerinnen: Sie können bei der direkten Bundessteuer Abzüge von insgesamt 333 Millionen Franken geltend machen. Die vergünstigte Individualmobilität ist ein Anreiz, Treibstoff zu verbrennen.
Ähnlich gross sind die Subventionen für energieintensive Industrien. Seit 2008 kennt die Schweiz eine CO2-Abgabe auf Brennstoffe. Firmen sind jedoch davon befreit, falls sie mit dem Staat eine individuelle Vereinbarung zur Emissionsreduktion abschliessen oder am Emissionshandel teilnehmen. Dort wurden vergangenes Jahr 4,3 Millionen Zertifikate kostenlos zugeteilt. Dadurch gingen dem Bund insgesamt 306 Millionen Franken verloren.
Die Krux mit dem Emissionshandel
Der Emissionshandel wurde geschaffen, um den Kohlendioxidausstoss in der Industrie mit einer Obergrenze zu belegen. Die Idee dahinter formulierte der kanadische Ökonom John Dales bereits vor 52 Jahren. Sie ist ebenso einfach wie genial: Statt jedem einzelnen Betrieb vorzuschreiben, wie viel Abgas er ausstossen darf, legen die Staaten lediglich eine jährliche Gesamtmenge fest. Dafür geben sie eine Art Währung aus: die Emissionszertifikate. Wer Treibhausgase emittiert, muss diese besitzen: eines pro Tonne Kohlendioxid.
Die Gesamtmenge der Zertifikate sinkt Jahr für Jahr. Unternehmen können darauf reagieren, indem sie in neue Technik investieren, die weniger Abgas produziert. Oder aber sie kaufen Zertifikate hinzu, weil sie wachsen wollen oder eine neue Anlage sich noch nicht lohnt. Im Ergebnis findet der Klimaschutz dort statt, wo er zu den geringsten Kosten zu haben ist. Cap and trade, begrenzen und handeln, lautet die Formel für das System. Die Preise steigen dabei so lange, bis die Wirtschaft emissionsfrei produziert.
So weit die Theorie. Sowohl die Europäische Union als auch die Schweiz wollten ihre Industrieemissionen auf diese Weise reduzieren. Doch in der Praxis wurde der Emissionshandel zu einer riesigen Subventionsmaschine. Denn der Widerstand der Konzerne war massiv. Und so gab es über weite Strecken der vergangenen anderthalb Jahrzehnte erst mal alles umsonst.
Zum Start im Jahr 2005 setzten nämlich nicht die EU-Institutionen, sondern die nationalen Regierungen fest, wie viele Emissionen im jeweiligen Land erlaubt waren, und teilten die Lizenzen für die mehr als 11’000 beteiligten Anlagen freihändig zu. Ausserdem konnten sich Unternehmen mit Projekten zur Emissionssenkung in Entwicklungsländern zusätzliche Zertifikate beschaffen. Das inflationierte die neue Abgaswährung und drückte den Preis pro Tonne auf einstellige Eurobeträge, die kaum Anreiz zur Modernisierung erzeugten. Erst ab 2013 senkten die EU-Staaten gemeinsam die Gesamtmenge der Emissionen und verkauften die Zertifikate tatsächlich per Auktion. Noch einmal fünf Jahre vergingen, bis die überschüssigen Zertifikate abgeschöpft waren und eine Tonne CO2-Abgas an die 25 Euro kostete. Das drängt jetzt zusehends Kohlekraftwerke aus dem Strommarkt, das System funktioniert.
Aber längst nicht für alle. Denn die vereinigten Industrieverbände aller EU-Länder, vornehmlich die Stahl-, die Chemie- und die Zementhersteller, beklagten erneut ihre bedrohte Wettbewerbsfähigkeit. Müssten sie für ihre Emissionen bezahlen, «würde das nur dazu führen, dass die Produktion verschwindet und anderswo stattfindet», erklärt der deutsche Cheflobbyist der betroffenen Branchen, Jörg Rothermel. Dieses Risiko, im EU-Jargon Carbon Leakage genannt, mochten Europas Regierungen nicht eingehen. Darum gewährten sie allen Betrieben, deren Produkte mit hohen Emissionen verbunden oder für den Weltmarkt bestimmt sind, die Zertifikate einfach als Geschenk. Als die Lobbyschlacht geschlagen war, umfasste die Carbon Leakage-Liste schliesslich 170 Produktkategorien. «Das betraf dann mal eben 97 Prozent aller Industrieprodukte», spottet Jürgen Landgrebe, der langjährige Chef der Emissionshandelsstelle im deutschen Umweltbundesamt.
Ab 2021 sinkt diese Zahl zwar auf nur noch 66 Produktkategorien. Aber das ist nur Kosmetik. «Fast alle Industriebetriebe, die überhaupt nennenswert Treibhausgase emittieren, bleiben auf der Liste», sagt Landgrebe. Absurderweise müssen nicht einmal die Betreiber von Kohleminen sowie Öl- und Gasförderanlagen, die besonders viel Treibhausgase freisetzen, ihre Emissionslizenzen kaufen. Die Konsequenz: Volle 43 Prozent aller Zertifikate werden frei zugeteilt – ein Milliardengeschenk. Im vergangenen Jahr betrug dessen Wert, gemessen am durchschnittlichen Börsenpreis von CO2-Zertifikaten, 18 Milliarden Euro.
Investigate Europe hat mithilfe der Umweltorganisation Sandbag erstmals zusammengestellt, welche Konzerne europaweit am meisten Zuteilungen erhalten. Das Ergebnis: Ein Drittel aller verschenkten Zertifikate geht an nur 20 Unternehmen. Allein der Stahlkonzern ArcelorMittal mit seinen EU-weit 71 Werken erhielt 2019 eine Zuteilung im Wert von 1,7 Milliarden Euro. Rund 500 Millionen Euro erhielt die zweitgrösste Empfängerin von kostenfreien Zertifikaten: LafargeHolcim, die Zementproduzentin mit Sitz in der Schweiz.
Und die Subventionsbeträge nehmen zu. Zwar sinkt die Zahl der geschenkten Zertifikate jedes Jahr um 2,2 Prozent. Dafür steigt deren Börsenwert umso stärker. Dabei gibt es bis heute keinerlei Beleg, ob die Industrie tatsächlich abwandern würde, wenn sie für ihre Emissionen bezahlen müsste. So schrieben die Autorinnen einer Studie im Auftrag der EU-Kommission 2013: «Wir haben keine Beweise für eine Verlagerung von CO2-Emissionen aufgrund des Emissionshandelssystems gefunden.» Auch eine Untersuchung der London School of Economics kam 2015 zu dem Schluss, dass die Risiken einer Verlagerung» infolge hoher CO2-Preise «überbewertet wurden». Schliesslich gibt es viele weitere Kriterien wie Marktnähe, Arbeitskräfte und Infrastruktur, nach denen Unternehmen über Investitionen entscheiden.
Die mangelhaften Ausstiegspläne
Der Emissionshandel zeigt, wie der Schutz der Unternehmen vor möglichen Standortnachteilen vielfach Vorrang vor der Klimapolitik geniesst. Alle Versuche, an den diversen Schmutz-Privilegien zu rütteln, scheitern stets an deren Widerstand. «Wir mindern die Energiekosten für diejenigen Branchen mit den stärksten Lobbys», klagt Pascal Canfin, Vorsitzender des Umweltausschusses im EU-Parlament und Mitglied im Klimarat der Regierung von Emmanuel Macron. Das seien «montags die Bauern, dienstags die Transportunternehmen und am Mittwoch wieder andere».
Das Verblüffende ist: Europas Regierungen versprechen immer wieder das Gegenteil. So unterschrieben die Regierungschefs aus Italien, Frankreich, Deutschland und Grossbritannien schon 2009 beim Treffen der G-20 im amerikanischen Pittsburgh ein Bekenntnis: «Die ineffiziente Subventionierung fossiler Brennstoffe fördert den verschwenderischen Verbrauch mit ihnen (…), erschwert Investitionen in saubere Energiequellen und untergräbt die Bemühungen zur Bekämpfung der Gefahr des Klimawandels», hiess es in der damaligen Abschlusserklärung. Die Regierungen versprachen, mittelfristig ineffiziente Subventionen für fossile Brennstoffe abzuschaffen.
2013 beschloss auch der Rat der EU-Regierungen offiziell die «unverzügliche Abschaffung von umweltschädlich wirkenden Subventionen». Und 2018 verschrieb sich die EU das Ziel sogar per Gesetz. Nach dem Abschluss des Pariser Klimaabkommens musste sie festlegen, wie sie die Emissionen in der zweiten Hälfte dieses Jahrhunderts auf netto null senken würde. Heraus kam das Regelwerk zur «Energie- und Klimaunion». Dieses verpflichtet alle Mitgliedsstaaten zur Vorlage eines nationalen Energie- und Klimaplans. Darin müssen sie angeben, wie sie den Ausstoss von Treibhausgasen senken wollen. Zudem sollen sie über ergriffene Massnahmen berichten, um Energiesubventionen für fossile Brennstoffe schrittweise abzuschaffen.
Investigate Europe hat 22 der vorgelegten Energie- und Klimapläne ausgewertet. Das Ergebnis ist ernüchternd:
Gleich 15 Regierungen haben keine oder höchst unvollständige Listen über ihre klimaschädlichen Subventionen vorgelegt.
Kein einziger Mitgliedsstaat hat beschrieben, bis wann welche davon auslaufen werden.
Stellvertretend für die kollektive Verweigerung steht die Erklärung der österreichischen Regierung, wonach erst einmal eine Liste von Anreizen und Subventionen zu erstellen sei, die den Klimazielen entgegenstünden – gerade so, als habe man in Wien jetzt erst von dem Problem erfahren. Auch die deutsche Regierung stellt sich dumm und erklärt, sie habe ihre Energiesubventionen in einem Forschungsgutachten «erstmals auch auf ihre Nachhaltigkeit untersuchen lassen» und werde nun – zwei Jahre nach dem von ihr selbst beschlossenen gesetzlichen Auftrag – «die Ergebnisse prüfen».
Am weitesten geht die Regierung der Niederlande. Sie behauptet kurzerhand, in ihrem Land gebe es keine klimaschädlichen Vergünstigungen «in dem Sinne, dass Ressourcen zur Verfügung gestellt werden, um die Nutzung fossiler Brennstoffe zu fördern». Die üblichen Vergünstigungen für Industrie, Autofahrer und Lkw-Transporte könnten nur «als Subvention angesehen werden, wenn eine breite Definition angewandt wird». Tatsächlich beteiligt sich die Staatskasse in Den Haag sogar direkt mit Milliardenbeträgen an der Förderung von Erdgas, die viel Treibhausgase freisetzt. Über die Kreditversicherung Atradius Dutch State Business garantiert sie Investments in Kuwait, Mexiko und Oman, wie aus Recherchen von Investigate Europe hervorgeht. Die Umweltstiftung Both ENDS beziffert die Garantien, die zwischen 2012 und 2018 gesprochen wurden, auf 1,5 Milliarden Euro pro Jahr.
Bleibt also alles beim Alten? Sind die Europäerinnen reformunfähig?
Einstimmigkeit als Hindernis
Frans Timmermans mag sich das gar nicht vorstellen. Der niederländische Sozialdemokrat ist Vizepräsident der EU-Kommission und leitet das anspruchsvollste EU-Projekt überhaupt: den «Green Deal», der Europa in die Klimaneutralität führen soll. «Nein», sagt er im Gespräch mit Investigate Europe: Das EU-Klimaziel sei ohne eine Abschaffung der fossilen Subventionen nicht erreichbar. «Aber diese Steuersysteme werden von fast allen Mitgliedsstaaten überprüft», meint Timmermans. «Die Dinge ändern sich schnell, ich sehe auch ein Umdenken auf der nationalen Ebene.»
Der Schlüssel dazu ist die Reform der Energiesteuerrichtlinie, die bis heute viele der klimaschädlichen Steuervergünstigungen ausdrücklich festschreibt, etwa die Steuerfreiheit für Flugbenzin und Schiffstreibstoff. Offizielle aus Portugal und Schweden bezeichnen diese von 2003 datierende Richtlinie wegen ihrer Schlupflöcher hinter vorgehaltener Hand auch als «Schweizer Käse». Und auch die EU-Kommission anerkennt inzwischen, dass das Uralt-Gesetz «de facto Anreize für die Nutzung fossiler Brennstoffe» bietet und nicht im Einklang mit anderen klimapolitischen Massnahmen der EU steht.
Würden alle Ausnahmen gestrichen und Mindestsätze für die Energie- und Mehrwertsteuer auf fossile Brennstoffe festgesetzt, könnte der Wildwuchs der Vergünstigungen ein Ende finden. Darum haben Timmermans und seine Beamten die Reform der Energiesteuerrichtlinie zu einem zentralen Baustein ihres EU-Klimaprogramms gemacht. Aber ob es je dazu kommt, ist fraglich. Denn im Steuerrecht hat die EU keine eigene Kompetenz: Verbindliche Entscheidungen können dazu bisher nur einstimmig getroffen werden. Darum ist der gleiche Versuch 2015 schon einmal gescheitert. Damals sperrten sich die Briten, aber auch die deutsche Merkel-Koalition blockierte das Vorhaben. Darum fordern die Brüsseler Architektinnen des Green Deal nun, die Reform im Rahmen des Umweltrechts per Mehrheit zu entscheiden.
Aber auch dies würde zunächst eine einstimmige Entscheidung im EU-Ministerrat erfordern. Gleich drei Länder haben bereits Widerspruch angekündigt. Während Malta die Steuerfreiheit für die Schifffahrt schützen will, geht es Schweden ums Prinzip – und Polen um seine Kohleindustrie. Der staatsnahe Verband der Stromproduzenten hält die Einhaltung der Einstimmigkeitsregel für «entscheidend für die Wahrung der Souveränität».
Besagte Souveränität ist aber eine Illusion. Würden einzelne Mitgliedsstaaten im Alleingang die Subventionen kappen, würden dortige Firmen gegenüber EU-Konkurrenten benachteiligt. Gemeinsame Regeln sind im Europäischen Wirtschaftsraum bereits jetzt unabdingbar. So erweist sich die fehlende Kompetenz im Steuerrecht als fundamentale Fehlkonstruktion der EU.
Koalition der Willigen
Trotzdem scheint ein Durchbruch möglich. Der Weg dahin ist die «verstärkte Zusammenarbeit», die der EU-Vertrag erlaubt, meint der Belgier Jos Delbeke, der bis 2018 die Generaldirektion Klima der EU-Kommission führte. «Die willigen und grösseren Mitgliedsstaaten könnten zum Beispiel eine kleine Steuer auf Kerosin erheben», schlägt der erfahrene EU-Beamte vor. «Das würde den Druck auf andere Mitgliedsstaaten erhöhen, sich anzuschliessen, und es könnte den Ausstieg aus anderen Subventionen beschleunigen.»
Manche Länder streichen ihre Subventionen bereits von sich aus. Portugal kürzt bis 2022 seine Steuererleichterungen für die fossile Stromproduktion sukzessive auf null. 2019 fiel der Anteil von Kohle- und Gasstrom bereits auf den tiefsten Anteil seit dreissig Jahren. Bis 2023 will Premierminister António Costa die beiden Kohlekraftwerke des Landes, Pego und Sines, schliessen.
Selbst in Polen, wo die Regierung direkt und indirekt fast 5 Milliarden Euro für die Förderung von Kohle ausgibt, dreht langsam der Wind. Die Regierung von der Populistenpartei Recht und Gerechtigkeit hätte im Nordosten des Landes eigentlich ein neues Kohlekraftwerk errichten wollen. Doch das Bauprojekt für die Einheit Ostrołęka C liegt inzwischen auf Eis: Die neue Besitzerfirma will das Kraftwerk aus Rentabilitätsgründen nur dann bauen, wenn statt Kohle das etwas klimafreundlichere Erdgas verwendet wird.
Und in Italien hat sich die Koalition aus Sozialdemokraten und 5-Sterne-Bewegung zumindest grosse Ziele gesetzt. «Wir werden die Subventionen für fossile Energien abschaffen», versprach Laura Castelli, Staatssekretärin im Wirtschaftsministerium. Seit Februar gibt es den Regierungsausschuss «ökologische Transformation», in dem vier Ministerien über die Liste von umweltschädlichen Subventionen und deren Überwindung beraten. «Der Plan der Regierung ist aber nicht, diese Subventionen zu streichen», erklärt einer der Beteiligten. «Wir werden stattdessen versuchen, einen Weg zu finden, dieses Geld in die Zukunft, in grüne Investitionen umzulenken.»
Grüne Zölle und grüne Subventionen
Genau das könnte auch der Königsweg sein, um den Emissionshandel vom Kopf auf die Füsse zu stellen. Dieser schütze nur die bestehenden Altanlagen, erklärt der Ökonom Matthias Buck, der nach zehn Jahren Arbeit für die EU-Kommission die Leitung der Energieabteilung bei der Denkfabrik Agora übernommen hat. Der Preis für die Abgaszertifikate liege wegen der freien Zuteilung zurzeit noch «deutlich unter dem Niveau, das für Investitionen in kohlenstoffarme oder kohlenstofffreie Technologien erforderlich ist».
An Ideen für die Dekarbonisierung mangelt es eigentlich nicht. Stahl könnte etwa mit Wasserstoff statt Kohlenstaub hergestellt werden – der schwedische Stahlkonzern SSAB errichtet derzeit eine Pilotanlage mit dieser Technologie. Auch die Chemieindustrie könnte auf Wasserstoffbasis statt mit Erdöl produzieren und dabei sogar abgefangenes Kohlendioxid zu neuen Produkten verarbeiten. Das Gas wiederum könnte die Zementindustrie liefern: Die deutsche HeidelbergCement, bisher EU-weit drittgrösster Empfänger kostenloser Emissionslizenzen, errichtet eine Versuchsanlage zur CO2-Abscheidung. Der Konzern hat angekündigt, sich auf Klimaneutralität zu trimmen.
Doch die neuen Technologien sind teuer. Um sie rentabel zu machen, müsste der CO2-Preis im Emissionshandel steigen. Deshalb plädieren nebst dem EU-Green-Deal-Kommissar Frans Timmermans neuerdings sogar Manager der Stahl-, der Chemie- und der Zementindustrie für einen Umbau des Systems:
Auf kostenfreie Emissionszuteilungen würde dabei verzichtet. Die Folge wäre ein höherer CO2-Preis.
Als Kompensation dafür würden Subventionsgelder für Industrieprodukte wie «grünen Stahl» ausbezahlt.
Zusätzlich würde eine Kohlenstoffabgabe auf alle importierten Produkte erhoben, um die europäische Industrie zu schützen.
Der Clou daran: Durch den Stopp der kostenlosen Zertifikatezuteilung würden Einnahmen in Milliardenhöhe generiert. Mit diesem Geld könnten die Staaten emissionsfreie Technik unterstützen. Und ein Zoll an der EU-Aussengrenze würde international für gleich lange Spiesse sorgen. Die Abgabe hätte genau den Preis, den Emissionszertifikate in Europa haben.
Ob das durchsetzbar ist, ist unklar. Zwangsläufig würden energieintensive Produkte vom Stahlblech bis zum Beton teurer. Der Chemiefachmann Jörg Rothermel, der die deutsche Industrie in dieser Frage vertritt, signalisiert denn auch, dass die betroffenen Unternehmen mehr fordern werden. «Wenn der Grenzausgleich wirklich wirkt, wäre das im Prinzip sinnvoll», sagt er. «Aber man müsste dann auch eine Lösung für den Export in Länder ausserhalb der EU finden.» Bei Kommissar Timmermans stösst er auf offene Ohren. «Wir werden alles tun, was wir können, um mit Subventionen und Forschung einen Markt für grünen Stahl zu schaffen», sagt er.
Damit ist absehbar: Die Subventionen werden womöglich sauberer. Aber verschwinden werden sie auf lange Zeit nicht. Immerhin würde das Geld aber für die Technologie von morgen ausgegeben – nicht mehr für die von gestern.
Und sie bewegen sich doch
In Griechenland hat man mit dem Umstieg inzwischen begonnen. Würden die Ölstrom produzierenden Inseln ans Elektrizitätsnetz auf dem Festland angeschlossen, liessen sich die Ausgaben binnen weniger Jahre einsparen. Schon der Anschluss von Kreta würde sich nach nur zweieinhalb Jahren bezahlt machen, kalkulierte das Umweltministerium. Zugleich würde der Ausstoss von CO2 auf den Inseln um 60 Prozent fallen, weil der Strom auf dem Festland fast zur Hälfte aus sauberen Quellen gewonnen wird.
Nach jahrzehntelanger Verzögerung hat die Regierung deshalb jetzt die Anbindung gestartet. Anfang Juni unterzeichnete Energie- und Umweltminister Kostis Hatzidakis den ersten Milliardenvertrag für die Kabel nach Kreta. Aber damit ist es nicht getan. Mindestens bis 2030, heisst es im Ministerium, werde man wohl noch investieren müssen, bis alle Ägäisinseln sauberen Strom beziehen.
In einer früheren Version haben wir in einer Bildlegende von «Rauch» über dem Kohlekraftwerk in Grevenbroich geschrieben. Dies war falsch, wir entschuldigen uns für den Fehler.