Europa in der Erdgasfalle
Die Energieindustrie will mit staatlicher Hilfe über 100 Milliarden Euro in Gaspipelines und Gaskraftwerke investieren. Das könnte den Klimaschutz auf Jahrzehnte blockieren.
Von Simon Schmid, Nico Schmidt und Harald Schumann, 06.10.2020
An einem kühlen Spätsommertag steigt Landrat Stefan Mohrdieck auf den Brunsbütteler Deich, dort, wo die Elbe nördlich von Hamburg in die Nordsee mündet. Mit dem Rücken zum Fluss sieht er von hier aus die Vergangenheit der Energiepolitik – und, wie er hofft, die Zukunft.
Vorne ist die tiefschwarze Kohle, die sich vor dem Deich auftürmt, bevor sie auf Kraftwerke verteilt wird. Und daneben ist das stillgelegte Atomkraftwerk. Doch gleich dahinter, wo jetzt noch ein paar Kühe durchs Gras stapfen, soll bald ein Tank errichtet werden. So hofft es zumindest der Landrat. Ein Tank so gross wie ein fünfzehnstöckiges Hochhaus. Bis zu 220’000 Kubikmeter Flüssiggas sollen darin lagern, die aus Katar oder den USA mit Tankern hergeschifft werden.
«Das Flüssiggas wird uns helfen, die Dekarbonisierung voranzutreiben», sagt Mohrdieck, also weniger CO2 in die Atmosphäre zu pusten. Denn Erdgas sei sauberer als Öl und werde dringend für die Energiewende benötigt.
Mit einem fossilen Brennstoff gegen den Klimawandel? Norbert Pralow, pensionierter Lehrer und Umweltaktivist, schüttelt energisch den Kopf. «Wir müssen allerspätestens bis 2050 aus den fossilen Energien ausgestiegen sein.» Das neue Gasterminal werde aber frühestens 2025 fertiggestellt. «Das wird sich nie amortisieren», sagt er. In seiner Stimme schwingt Wut mit. «Statt hier mit viel Geld eine rückwärtsgewandte Technologie einzuführen, sollte man lieber zukunftsfähige Projekte finanzieren.»
Gas gegen Klimaschutz: Dieser Streit läuft zurzeit europaweit. Während Kohlekraftwerke von Irland bis Griechenland nach und nach abgeschaltet werden, treiben Energieunternehmen und Regierungen den Ausbau der Erdgasinfrastruktur voran. Dagegen warnen Ökonomen und Klimaforscherinnen, die neuen Pipelines und Kraftwerke führten Europa in die Erdgasfalle.
Wer hat recht?
Investigate Europe, ein Journalistinnenteam aus neun Ländern, hat die Hintergründe des europäischen Erdgasstreits unter die Lupe genommen. Und ist zu folgenden Erkenntnissen gekommen:
Die europäische Erdgaswirtschaft hat in Brüssel ein perfektes Lobbyingsystem installiert. Sie arbeitet die offiziellen Bedarfsprognosen zuhanden der EU aus – und übt wesentlichen Einfluss darauf aus, welche Energieinfrastrukturprojekte von den Staaten Fördermittel erhalten.
Die Prognosen der Industrie sind zu hoch. Bereits jetzt gibt es Überkapazität für Gasimporte. Neue Pipelines wie Nord Stream 2 und neue Flüssiggasterminals, die aktuell gebaut werden, um Gas aus den USA und Russland zu importieren, braucht Europa überhaupt nicht.
Die Gasindustrie setzt auf «blauen» Wasserstoff, um ihre Infrastruktur künftig trotzdem auszulasten. Doch dieser Brenn- und Treibstoff ist nicht so klimaverträglich, wie die Industrie behauptet. Es gibt ungelöste Probleme bei der Förderung und bei der Endlagerung von Abfallstoffen.
Insgesamt warten in den europäischen Ländern über 100 Milliarden Euro darauf, in Gasprojekte investiert zu werden. Die demokratische Kontrolle über dieses Geld ist ungenügend.
Ohne konsequente Abkehr vom Erdgas riskiert die Europäische Union, ihre Klimaziele zu verfehlen.
Teil des Problems, nicht der Lösung
Wenn die Erwärmung auf unter 2 Grad begrenzt bleiben soll, wie im Pariser Abkommen von 2016 versprochen, dann dürfen die Europäerinnen insgesamt nur noch 70 Milliarden Tonnen Kohlendioxid ausstossen. Das entspricht beim bisherigen Verbrauch von Kohle, Öl und Gas gerade mal den Emissionen von 16 Jahren, rechnen die Energieexperten des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung vor. Das erfordere eine vollständige Dekarbonisierung. Und daher sei Gas nicht mehr Teil der Lösung – sondern Teil des Problems geworden. «Jede Investition in fossile Infrastruktur wird eine verlorene Investition sein», warnt Claudia Kemfert, Energiechefin des Instituts. «Dazu gehören auch Gaspipelines und Flüssiggasterminals.»
Doch die Mehrheit der EU-Regierungen verweigert sich dieser Erkenntnis. Mit ihrer Unterstützung planen die Energiekonzerne Flüssiggasterminals entlang aller Küsten und verlegen Pipelines von der Ostsee bis zur Ägäis. Nach Berechnungen von Investigate Europe auf Grundlage von Daten der Organisationen Global Energy Monitor und Gas Infrastructure Europe plant die Gasindustrie Investitionen in Höhe von mindestens 104 Milliarden Euro.
Sechs Länder kommen sogar im Alleingang auf jeweils 10 Milliarden Euro und mehr – allen voran Grossbritannien, Deutschland und Griechenland. In praktisch keinem EU-Land wird aktuell nicht in Erdgas investiert.
Wie passt das zusammen? Nehmen EU-Kommission und die Regierungen ihr Versprechen, die Union werde bis 2050 klimaneutral, nicht ernst?
Zur Recherche: «Das Greenwashing der Schweizer Gasbranche»
Erdgas ist verantwortlich für ein Fünftel der Schweizer CO2-Emissionen. Die Gaslobby sagt: Alles wird gut – bis 2050 ist die Gasversorgung klimaneutral. Doch ein genauer Blick auf ihre Thesen zeigt, dass das nicht stimmen kann.
Das perfekte Lobbyingsystem
Wer diesen Fragen nachgeht, trifft auf ein dichtes Geflecht der Industrie mit allen politischen Ebenen – vom EU-Parlament über die Kommission bis zu den nationalen Ministerien. Und sie realisiert, dass die alte Denkfigur vom Gas als geostrategischem Machtinstrument ungeachtet aller wirtschaftlichen oder ökologischen Gegenargumente nach wie vor das Denken dominiert.
Um die Politik zu beeinflussen, operieren Öl- und Gaskonzerne von der britisch-niederländischen Shell bis zur norwegischen Equinor mit Hunderten von Lobbyisten. Allein in Brüssel haben sie sich das im letzten Jahrzehnt rund 250 Millionen Euro kosten lassen, berichtet die Anti-Lobby-Organisation Corporate Europe Observatory. Die Konzerne kaufen damit Zugang und Einfluss, sagt Pascoe Sabido, einer der Autoren des Berichts.
Allein bei den offiziell dokumentierten Treffen kamen die Berater, Anwältinnen und PR-Experten der Fossilindustrie seit 2014 mehr als 300-mal mit den Kommissaren und ihren leitenden Beamten zusammen, um ihre Ansichten und Interessen einzubringen. Und das mit durchschlagendem Erfolg.
Das beginnt schon bei den Prognosen, wie viel Gas überhaupt benötigt wird. Diese übernimmt die EU-Kommission bisher einfach von der Industrie. Das schrieb sie 2009 sogar per Verordnung fest. Diese verpflichtet Europas Netzbetreiber wie etwa die niederländische Gasunie, die französische GRTgaz und die deutsche Thyssengas, eine Dachvereinigung zu bilden – namens Entsog. Der Verband arbeitet alle zwei Jahre einen Netzentwicklungsplan aus, der eine «europäische Prognose zur Angemessenheit des Angebots» für die nächsten zehn Jahre enthält. Die Netzbetreiber legen also selbst fest, wie viele Pipelines gebraucht werden – ein Interessenkonflikt par excellence.
Schon 2015 bemängelte darum der Europäische Rechnungshof: «Die EU-Kommission hat keine eigenen Kapazitäten, um den künftigen Gasbedarf der EU zu projizieren. Stattdessen nutzt sie Vorhersagen Externer.» Auf deren Grundlage habe die Kommission wiederholt den Gasbedarf überschätzt.
Trotzdem erstellt derselbe Verband auch den Entwurf für den Gasteil des zentralen Planungsinstruments für Europas Energiepolitik: die Liste der Projects of Common Interest (PCI) – Projekte von gemeinsamem Interesse. Ein Platz in diesem Katalog qualifiziert Investoren für den Bezug von Fördergeldern und Krediten der Europäischen Investitionsbank. Zwar müssen die EU-Parlamentarierinnen den Projekten ihre Zustimmung geben. Doch sie können nur über die Liste als Ganzes abstimmen – und nicht einzelne Gasvorhaben aus der Liste streichen.
Würden sie die Liste ablehnen, würde folglich auch der Ausbau von Wind- und Solarkraft gebremst. «Wir bitten Sie hiermit, die vierte PCI-Liste unter dem Augenmerk der ambitionierten Klimaziele des Europäischen Green Deals zu prüfen», forderte deshalb eine Gruppe EU-Parlamentarier vor der jüngsten Abstimmung von Frans Timmermans, dem zuständigen Vizepräsidenten der EU-Kommission. Die Liste solle sicherstellen, dass EU-Gelder nicht für Projekte ausgegeben werden, die den Klimazielen widersprechen.
Doch Timmermans stellte eine Änderung erst für die nächste Programmliste in Aussicht. So dienen jetzt gleich 32 der 149 schliesslich verabschiedeten Vorhaben dem Ausbau der Erdgasnutzung. Das sorgt auch bei der Kommission selbst für Kritik. «Es ist nicht die Kommission, die hier entscheidet», sagt Klaus-Dieter Borchardt, stellvertretender Generaldirektor für Energie der EU-Kommission. «Sondern es sind die Entsog-Dachverbände, die festlegen, welche Szenarien genutzt werden.» Als er die finale Liste mit den Projekten von gemeinsamem Interesse gesehen habe, habe er festgestellt, dass diese auch auf Annahmen basierte, die den EU-Klimazielen widersprachen. «Wir dachten: Was soll das?»
Der Prozess, der darüber bestimmt, ob und wie viel Erdgasinfrastruktur die EU und ihre Staaten unterstützen, wird also von der Gasindustrie selbst gesteuert. Perfekter könnte ein Lobbyingsystem gar nicht sein.
Pipelines und noch mehr Pipelines
Als Folge davon fliesst europäisches Steuergeld in gigantische Gasprojekte, die ganze Landschaften verändern. Eines davon ist die Transadriatische Pipeline. Sie soll jährlich 10 Milliarden Kubikmeter Gas aus Aserbaidschan nach Europa transportieren. Das entspricht dreimal dem Schweizer Jahresverbrauch.
Beteiligt an der Pipeline ist auch der Schweizer Energiekonzern Axpo. Er besitzt 5 Prozent davon. Die Transadriatische Pipeline «stellt für Axpo eine wichtige Portfolio-Diversifizierung dar und verringert die Abhängigkeit des Unternehmens vom Grosshandelspreis für Strom», wie das Unternehmen sagt. Axpo habe sich langfristig auch ein «beträchtliches» Volumen an Erdgas aus dem Gasfeld Shah Deniz gesichert, einer Gasquelle in Aserbaidschan.
Die Transadriatische Pipeline führt über Griechenland nach Süditalien. In Apulien, nahe dem Ort Melendugno, trifft sie an Land. Dort führen Strassen durch Olivenhaine, hinter denen die Adria dunkel schimmert. Seit kurzem erheben sich jenseits der Bäume hohe Stacheldrahtzäune rund um die Anlandestation. Zwei Schornsteine aus der Anlage stehen für die Emissionen, die folgen, sobald ab Ende Jahr hier das Gas für den Weitertransport aufbereitet wird.
Rund 6 Milliarden Euro hat die Pipeline gekostet. Davon haben die EU sowie deren Europäische Investitionsbank mehr als 2 Milliarden Euro gezahlt oder geliehen. Die Transadriatische Pipeline werde «der Europäischen Union dabei helfen, die Gasversorgung in Südosteuropa zu sichern», werben die Betreiber. Davon sind aber nicht alle überzeugt. Der Regionalpräsident nannte das Vorhaben «illegal», und die betroffenen Gemeinden haben das Unternehmen verklagt, weil es die Umweltwirkungen nicht bedacht habe. Seit diesem Monat müssen sich die verantwortlichen Manager dem örtlichen Gericht stellen.
Auf die Justiz setzt auch der Journalist Malte Heynen, der im brandenburgischen Oderberg, nordöstlich von Berlin, ein Stück Ackerland besitzt. An einem Sommernachmittag tritt er dort aus einem Weizenfeld auf eine riesige Schneise aus Schutt und Geröll, die sich durch seinen Acker zieht und von einem Ende des Horizonts bis zum anderen reicht. Hier, anderthalb Meter tief unter dem Schotter, verläuft die sogenannte Eugal-Pipeline. Sie soll russisches Erdgas von der Ostsee zur tschechischen Grenze transportieren.
Das will Heynen mit einer Klage verhindern. Das Oberverwaltungsgericht in Berlin wies ihn im März ab, und nun muss das Bundesverwaltungsgericht über seine Beschwerde entscheiden. Dort, so hofft er, hat er eine Chance. Denn die Pipeline hätte «nie gebaut werden dürfen», sagt er. «Wir haben beim Klimaschutz noch ein Fenster von wenigen Jahren. Jetzt eine Pipeline zu bauen, die fünfzig Jahre in Betrieb bleibt, ist Unsinn.»
Addiert man die Kosten sämtlicher geplanter und in Bau befindlicher Pipelines nach Europa, kommt man auf die Summe von 45 Milliarden Dollar. Würden Regierungen und Unternehmen stattdessen in Solarenergie investieren, könnten sie Zehntausende von fussballfeldgrossen Solarfarmen aufstellen.
Wie unnütz Pipelineprojekte sein können, belegt auch ein Vorhaben, dem die EU-Kommission und die Gasnetzbetreiber bereits 2013 einen Platz auf der PCI-Liste verschafften: die sogenannte Mid-Cat-Pipeline. Diese Rohrleitung sollte aus dem spanischen Katalonien durch die Berge der Pyrenäen Erdgas aus Nordafrika nach Südfrankreich liefern. «Ein Schlüssel für Europas Energiesicherheit», versprach der spanische Betreiber Enagás vollmundig.
Doch heraus kam nur eine Pipeline ins Nirgendwo. Eine Autostunde ausserhalb von Barcelona in einer kargen Landschaft endet die Leitung nach kaum 80 Kilometern – weit weg von der französischen Grenze. Im Januar 2019 stoppten die spanischen und französischen Aufsichtsbehörden das Projekt mangels wirtschaftlichen Interesses. «Die bestehenden Gaspipelines zwischen Frankreich und Spanien sind nicht überlastet», schrieben sie.
Die heutige Infrastruktur genügt
Das gilt auch für alle weiteren Leitungen und Terminals in Europa, ergab eine Untersuchung der Organisation Global Energy Monitor, die weltweit Daten zu Energieinfrastrukturprojekten erhebt. Demnach verfügt die EU bereits jetzt über doppelt so viel Kapazität für Gasimporte, als sie tatsächlich benötigt. Und der Bedarf wird ganz sicher sinken. Denn rund drei Viertel der Gasimporte werden fürs Heizen von Wohn- und Arbeitsräumen verwendet. Den dortigen Verbrauch durch Wärmedämmung zu mindern, ist aber ein Kernelement der Klimapolitik. «Die Gasnachfrage der EU-Staaten wird weiter abnehmen», sagt der grüne niederländische EU-Parlamentsabgeordnete Bas van Eickhout, der die Entwicklung schon seit vielen Jahren verfolgt.
Selbst die Gasindustrie schreibt inzwischen in ihre EU-Szenarien, dass der Gasverbrauch abnehmen wird – wenn auch nur leicht. Die unterschiedlichen Akteure sind sich also darüber einig, dass künftig weniger Erdgas verbraucht wird. Da scheinen die riesigen Bauvorhaben überall in Europa zunächst paradox. Warum also wird dennoch mehr Gasinfrastruktur gebaut?
Wer der Gasindustrie diese Frage stellt, wird auf die «Energiesicherheit» verwiesen. Ja, derzeit reiche die Kapazität, sagt etwa Jan Ingwersen, Chef beim Lobby-Dachverband Entsog. Aber es gebe Schwachstellen, und «aus Gründen der Versorgungssicherheit» gebe es zusätzlichen Bedarf. Gemeint ist, dass womöglich aus politischen Gründen die Lieferungen aus Russland oder Nordafrika ausgesetzt werden, um Druck auf Europa auszuüben.
Doch dem widerspricht eine neue Studie der französischen Beratungsfirma Artelys, die auch für die EU-Kommission arbeitet. «Die bestehende EU-Gasinfrastruktur genügt, um den Bedarf in einer Vielzahl von Szenarien zu decken», konstatieren die Artelys-Experten, «selbst im Falle extremer Versorgungsunterbrechungen.» Darum seien die meisten Gasprojekte auf der PCI-Liste wohl unnötig. «Die EU riskiert Überinvestitionen von 29 Milliarden Euro in unnötige Projekte», sagt Artelys-Direktor Christopher Andrey.
Das Argument ist schlagend. Doch die Industrie setzt auf eine verblüffende Strategie: Erdgas, so heisst es jetzt, werde für die «Dekarbonisierung» der europäischen Industrie benötigt. Der Lobbyverband Eurogas und die EU-Kommission sprechen unisono von «der Dekarbonisierung des Gassektors».
Gaskonzerne pushen Wasserstoff
Das klingt merkwürdig. Schliesslich ist Erdgas ein Kohlenwasserstoff, bei dessen Verbrennung unvermeidlich Kohlendioxid frei wird. Doch wenn es nach der Gasindustrie geht, dann soll ihr Produkt auch den grossen Teil jenes Brennstoffs liefern, den Managerinnen, Ingenieure, Gasverbände und Regierungen als Allheilmittel gegen die Klimakrise preisen: Wasserstoff.
Dieser verbrennt bei hohen Temperaturen zu harmlosem Wasserdampf. Mit seiner Hilfe könnten Stahl gekocht und Chemikalien aller Art hergestellt werden, ohne Treibhausgase zu emittieren. Er könnte mit Brennstoffzellen schwere Lastwagen antreiben und sogar Flugzeugtriebwerke befeuern, wie der Airbus-Konzern jüngst ankündigte. Die entscheidende Frage ist bisher jedoch noch nicht beantwortet: Woher soll all der Wasserstoff kommen, um den Energiehunger der Industriegesellschaft zu stillen?
Zwar ist es technisch kein Problem, sogenannt «grünen» Wasserstoff mit Strom aus sauberen Energiequellen zu gewinnen – man lässt den Strom dazu einfach durch eine Elektrolyseanlage laufen. Doch völlig offen ist, ob und wann es je genügend Strom aus erneuerbaren Quellen geben wird, um den gigantischen Bedarf zu stillen. Und eben diese Lücke möchten Gazprom, die norwegische Equinor und die angeschlossenen Gasnetzbetreiber füllen.
Der nötige Wasserstoff, so behauptet ihr Dachverband Entsog, liesse sich am schnellsten mit Erdgas gewinnen. Das könnte mit Strom aus Gaskraftwerken geschehen oder mit einer als «Dampfreformierung» bezeichneten Methode, die den Wasserstoff direkt aus dem Erdgas löst. Bei beiden Methoden fallen jedoch grosse Mengen Kohlendioxid an. Der Ausweg, so verheissen die Gasapologeten, wäre das Abfangen und Speichern des Kohlendioxids unter der Erde, vielleicht sogar in den leer gepumpten Gasfeldern – ein Verfahren, das meist mit dem Kürzel CCS (Carbon Capture and Storage) benannt wird.
Doch selbst dieser «blaue» Wasserstoff belastet das Klima. Gemäss einer Studie von Greenpeace Energy entsteht bei seiner Produktion rund 5- bis 8-mal mehr CO2 als beim «grünen» Wasserstoff (beim aktuell gebräuchlichen «grauen» Wasserstoff ohne CCS ist die Klimabelastung sogar 15-mal höher).
Wirklich nachhaltig ist also nur der «grüne» Wasserstoff. Setzt sich der «blaue» durch, wäre dagegen der Absatz für die Gasindustrie gesichert – bis der letzte Kubikmeter abgepumpt ist. Doch das Klima wäre damit kaum zu schützen.
Das liegt nicht zuletzt am chemischen Stoff, aus dem sich Erdgas zu einem Grossteil zusammensetzt: Methan. Dieses ist selbst ein starkes Treibhausgas. Nach Angaben des Weltklimarats heizen Methanmoleküle die Atmosphäre 86-mal stärker auf als Kohlendioxid. Rund 30 Prozent der Erderwärmung, die seit dem Industriezeitalter eingesetzt hat, gehen auf das Konto von Methan.
Problem 1: Unsaubere Förderung
Diesen Juli teilten Forscher der Stanford University mit, dass der weltweite Methanausstoss einen neuen Höchststand erreicht habe. Das Problem beginnt bei der Gasförderung aus dem Untergrund. Dabei wird im grossen Stil Methan freigesetzt, wie eine ganze Reihe von Studien ergab:
Forscher der Umweltorganisation Environmental Defense Fund haben anhand von Messungen an den Bohrlöchern festgestellt, dass die Öl- und Gasindustrie allein in den USA pro Jahr 13 Millionen Tonnen Methan freisetzt – 60 Prozent mehr, als sie bis dahin angegeben hatte, und genug, um ein Jahr lang 10 Millionen Häuser zu heizen.
Auch die russischen Anlagen sind längst nicht immer dicht. Im vergangenen Herbst entdeckten die Satelliten der Europäischen Weltraumorganisation riesige Methanwolken, die aus der Jamal-Pipeline austreten, die Erdgas von Sibirien nach Europa transportiert.
Die Bohrlöcher in der Nordsee emittieren unkontrolliert Methan in die Atmosphäre. Forscher des Kieler Helmholtz-Zentrums für Ozeanforschung fanden bei 28 von 43 direkt untersuchten Bohrlöchern Gasleckagen.
Und selbst die gewöhnlichen städtischen Gasnetze halten nicht dicht. Zuletzt fanden die Experten des Environmental Defense Fund in Hamburg an 145 Messstellen erhöhte Methanwerte – mit doppelt so hoher Konzentration, wie sie die Netzbetreiber selbst auswiesen.
Auch beim «blauen» Wasserstoff spielen Methanlecks eine grosse Rolle. Sie sind verantwortlich für bis zu zwei Drittel der Treibhausgasemissionen. Die Lecks bei der Erdgasförderung sind aber nur der Anfang der Schwierigkeiten. Fragwürdig ist auch der Prozess am Ende der Herstellung von «blauem» Wasserstoff: die Deponie des anfallenden Kohlendioxids unter der Erde.
Problem 2: Unsaubere Lagerung
Davon kündet ein unscheinbares Schild, das rund 40 Kilometer westlich von Berlin aus einem Maisfeld ragt. «Pilotstandort Ketzin – Forschungsprojekt Complete zur CO2-Speicherung», steht darauf in ausgeblichenen Buchstaben.
Hier wurde erstmals in Europa jene Technologie erprobt, auf welche die Gasgiganten nun hoffen. Zwischen 2008 und 2013 injizierten Forscher des Geoforschungszentrums Potsdam Kohlendioxid 650 Meter tief unter den Brandenburger Boden. Trotz Befürchtungen gab es in jenen Jahren keine Zwischenfälle. Das Gas blieb im Boden. «Die Injektion damals lief sicher und zuverlässig», erinnert sich die Projektleiterin Cornelia Schmidt-Hattenberger. Ketzin könnte «als Blaupause für grössere nationale CCS-Projekte dienen», meint sie.
Doch diese gibt es bislang nicht. Die Forscher beendeten das Projekt. Und auch weitere 21 CCS-Projekte in Europa wurden eingestellt – nicht zuletzt deshalb, weil bisher nur 60 bis 80 Prozent des Treibhausgases abgetrennt werden können, wie das Umweltbundesamt feststellte. Nur wenige Regierungen wollen derzeit überhaupt CCS-Versuche ermöglichen.
Eine von ihnen ist jene des Gasförderlandes Norwegen. Sie kündigte jüngst an, ein CCS-Grossprojekt mit 1,6 Milliarden Euro zu finanzieren. Aber selbst wenn die Leckagen verhindert und die Abfangtechnologien perfektioniert werden könnten, bliebe ein praktisch unüberwindliches Hindernis: CCS ist teuer. Die norwegischen Ingenieurinnen schätzen die Kosten auf 250 Euro pro Tonne CO2 – zehnmal so viel wie der aktuelle CO2-Emissionshandelspreis.
Die deutsche Energieökonomin Claudia Kemfert rechnet sogar mit Kosten von bis zu 440 Euro pro Tonne. «CCS ist teuer, ineffizient und verlängert nur das Geschäftsmodell der fossilen Energieträger», sagt sie. «Es lohnt sich nicht, Erneuerbare sind günstiger.» Kemfert hat in einer Studie mit einem Team europäischer Kollegen aufgezeigt, dass sich der steigende Strombedarf in Europa vollständig und kostengünstig decken lässt. Erneuerbare Energien liefern ihr zufolge also genug Strom – auch, um Wasserstoff zu gewinnen.
Doch dieser Fakt taucht in den Plänen der EU-Kommission nicht auf. Öffentlichkeitswirksam publizierte sie im Sommer eine europäische Wasserstoffstrategie. Darin räumen die Regierungen Wasserstoff aus erneuerbaren Energiequellen künftig viel Bedeutung ein. Doch im EU-Papier wird ausdrücklich auch auf «Wasserstoff auf fossiler Basis» gesetzt.
Mit umgesetzt werden soll die EU-Strategie von einer Plattform namens «Clean Hydrogen Alliance». Diese soll erarbeiten, welche Wasserstoffvorhaben künftig finanziert werden. Interne Dokumente, die Investigate Europe vorliegen, zeigen, dass dem Gremium neben Dutzenden von Industrievertretern nur vier zivilgesellschaftliche Organisationen angehören.
Auch hier sitzen also wieder die mächtigen Gaskonzerne am Tisch. Wie schon bei Erdgas- könnten sie künftig auch bei Wasserstoffprojekten mitreden. Es könnte sogar geschehen, dass entsprechende Vorhaben mit Mitteln aus dem 750 Milliarden Euro schweren Corona-Rettungsfonds finanziert werden: Anfang September öffnete die Mehrheit im EU-Parlament einen Hilfsfonds, der für alte Kohleregionen gedacht ist, für Gasprojekte.
Zur Rechtfertigung verweist die Gasbranche gerne auf den Weltklimarat. Er hält den Einsatz von CCS für notwendig, um eine klimaneutrale Lebensweise zu erreichen. Aber die Wissenschaftler des Weltklimarats planen die unterirdische Verpressung von Kohlendioxid vor allem als Möglichkeit, der Atmosphäre zusätzlich Treibhausgas zu entziehen. «Wenn CCS nur als Entschuldigung dafür genutzt wird, weiter fossile Energieträger zu nutzen, wird unser System irgendwann zusammenbrechen», warnt der frühere stellvertretende Klimarat-Chef Jean-Pascal van Ypersele im Gespräch mit Investigate Europe. «Natürlich hilft es, weniger klimaschädliche Gase zu emittieren. Aber sich nur auf CCS zu verlassen, wäre Wahnsinn.»
Irrwege der Geopolitik
Trotz dieser Widersprüche laufen die Erdgas-Ausbaupläne ungebrochen weiter. Welche Projekte etwa in Deutschland gebaut werden, regelt der dortige Netzentwicklungsplan Gas. Wie in Brüssel sitzen auch hier die Gaskonzerne mit am Tisch. Und es werden die erwiesenermassen unrealistischen Prognosen der Entsog genutzt. Die Folge: In keinem anderen Land Europas sind so viele Flüssiggasterminals geplant wie in Deutschland.
Entlang der Nordseeküste werben gleich drei Städte um Investoren für einen solchen Umschlagplatz – unterstützt durch die Bundesregierung. Die wirbt für Flüssigerdgas, kurz LNG (liquefied natural gas), mit den Worten, es sei «strategisch bedeutend, die Anlandung von LNG auf deutschem Bundesgebiet zu ermöglichen». Beim Streit ums Gas geht es ihr auch um etwas, was offensichtlich noch immer mehr zählt als Klimaschutz oder wirtschaftlicher Nutzen: die Geopolitik.
Dafür steht in Europa wie kein anderes Projekt die Pipeline Nord Stream 2. Sie führt vom russischen Wyborg nach Greifswald im Nordosten Deutschlands und wird die Kapazität für Gasimporte mal eben verdoppeln.
Die Mehrheit der EU-Staaten hat sich von Anfang an gegen das Projekt ausgesprochen. Aber die Bundesregierung hält im Verein mit Russlands Staatskonzern Gazprom und den deutschen Netzbetreibern eisern daran fest. Und genauso eisern bekämpfen US-Politiker das Vorhaben. Die dabei federführenden Senatoren drohen der kleinen Gemeinde Sassnitz gar mit wirtschaftlicher «Vernichtung», weil aus ihrem Hafen die Rohre für das letzte Teilstück verschifft werden – vorgeblich, um Europa vor Abhängigkeit von Russland zu schützen. Dabei geht es auch auf amerikanischer Seite um Geld. Die US-Gasindustrie braucht dringend neue Abnehmer in Europa. Den dortigen Unternehmen droht wegen des Preisverfalls eine Massenpleite.
So führt die geopolitische Konfrontation zu einem paradoxen Ergebnis. Um dem Druck aus dem US-Kongress zu begegnen, bietet der deutsche Finanzminister Olaf Scholz im Namen der Bundesregierung an, den Bau von zwei Flüssiggasterminals an der Nordseeküste mit bis zu 1 Milliarde Euro zu unterstützen, um den Import aus den USA zu erleichtern. «Im Gegenzug», so schrieb Scholz, sollen «die USA die ungehinderte Fertigstellung und den Betrieb von Nord Stream 2 erlauben».
Dabei brauche Europa weder das eine noch das andere, konstatiert Felix Matthes, Energiechef des Öko-Instituts. Die vorhandenen 20 Terminals in Europa seien aktuell und absehbar nur zur Hälfte oder weniger ausgelastet, melden auch die Betreiber. Gleichzeitig werde der Gasimport schon infolge der bereits beschlossenen Klimaschutzmassnahmen um ein Fünftel sinken.
Es ist also höchst unwahrscheinlich, ob das Gas aus Russland oder den USA überhaupt genug Abnehmer findet. Dasselbe gilt für jenes aus Europas zweitem geostrategischem Hotspot: dem östlichen Mittelmeer.
Dort inszenieren der türkische Präsident Recep Erdoğan und sein griechischer Gegenpart, Ministerpräsident Kyriakos Mitsotakis, seit Wochen einen bizarren Streit, für den sie am 19. August sogar zwei ihrer Kriegsschiffe kollidieren liessen. Der Konflikt begann damit, dass die Türkei ein Forschungsschiff in eine Meeresregion zwischen Kreta und Zypern entsandte, die Griechenland als Staatsgebiet gilt. Erdoğan hofft darauf, dass dort – genauso wie südlich von Zypern – weitere Erdgaslager zu finden sind.
Ein Hoffnungsschimmer
Unter Vermittlung von Kanzlerin Angela Merkel wandten die beiden Länder die Eskalation zunächst ab. Aber gleichzeitig mischte sich Frankreichs Präsident Emmanuel Macron ein und bot den Griechen Waffenhilfe mit Jagdflugzeugen, Hubschraubern und Kriegsschiffen. All das mutet an wie ein Rückfall ins vergangene Jahrhundert, dem längst der Sinn abhandengekommen ist.
«Die Wahrscheinlichkeit, dass in diesem Gebiet Kohlenwasserstoff gefunden wird, ist gering», erklärt Charles Ellinas, ein zypriotischer Industriefachmann und Senior Fellow des Atlantic Council, der seit vielen Jahren für die Gasindustrie in der Region arbeitet. Und selbst wenn, werde eine Förderung voraussichtlich unwirtschaftlich sein, weil der Klimaschutz die Nachfrage senke. Das klingt logisch – aber bei den Geostrategen in Istanbul und Athen ist die Botschaft noch nicht angekommen.
Immerhin – ganz am anderen Ende von Europa ist man weiter. In Portugal entschied die Regierung Anfang September, künftig keine Erdgasförderung mehr zu genehmigen. «Ich denke, die Erschliessung von Erdgasreserven ergibt heutzutage keinen Sinn mehr», sagt João Galamba, Staatssekretär für Energie, im Gespräch mit Investigate Europe. «Gas ist nicht nötig für den Übergang.» Portugal setze stattdessen auf die Wasserstoffgewinnung aus Solarkraft. Der Export nach Deutschland soll schon bald beginnen.
Investigate Europe ist ein Journalistenteam aus neun Ländern. Es veröffentlicht die Ergebnisse seiner Recherchen europaweit. Das Projekt wird von diversen Stiftungen sowie von privaten Spenden und Leserbeiträgen unterstützt. Zu den Medienpartnern für die Recherche über die Gasindustrie gehören neben der Republik unter anderem «Der Tagesspiegel» (Deutschland), «Svensk Natur» (Schweden), «Newsweek Polska» (Polen), «Público» (Portugal), «Il Fatto Quotidiano» (Italien), «De Groene Amsterdammer» (Niederlande) und «Trends» (Belgien). Hauptautoren des vorliegenden Beitrags sind Nico Schmidt und Harald Schumann. Für die Redaktion vonseiten der Republik ist Simon Schmid verantwortlich.