Die Kunst der Schaumschlägerei
Lange bevor die Spitzengastronomie die Gaumen mit ihren Espumas übergoss, brachten italienische Schwingbesen die himmlische Zabaione auf den Tisch. «Geschmacksache», Folge 29.
Von Michael Rüegg (Text) und Lilli Persson (Bild), 07.02.2022
Es waren die Sechzigerjahre. Meine Mutter, damals ein junges Mädchen mit Flausen im Kopf, hatte ihre Berner Vorortsheimat verlassen, um dem Ruf ihres Herzens zu folgen. Dieser Ruf führte sie nach Lugano, wo ihr Geliebter wohnte, den sie während ihrer Sommerferien kennengelernt hatte. Er, mein späterer Vater, war zuvor ins Tessin gezogen, um den Ruf seiner etwas herrschsüchtigen Familie nicht mehr hören zu müssen, die daheim im Zürcher Oberland sass und sich im Verkauf neumodischer Gerätschaften wie Radios, Fernseher und Automobile übte.
Die Arbeit stand über allem, und jeder und jede Rüegg musste mithelfen, damit der Patron, Onkel Ernst, seine Taschen füllen konnte. Die Einstellung der Familie entsprach im Wesentlichen der Abstimmungswerbung der Schweizer Wirtschaftsverbände: Was gut fürs Geschäft ist, ist gut für alle. Dass dabei wenig Raum für Beziehungspflege und persönliche Entfaltung blieb, war Teil des Konzepts.
Meine Eltern wurden nicht müde, immer wieder zu betonen, wie glücklich ihre Jahre im Tessin gewesen seien. Doch irgendwann wurde der Ruf aus dem Zürcher Oberland wieder so laut, dass mein Vater fand, er müsse dahin zurückkehren. Ich male mir noch heute aus, wer oder was wohl aus mir geworden wäre, wenn die beiden im Tessin verblieben wären.
Im Lugano jener Zeit assen meine Eltern gelegentlich in einem Lokal namens «La Tinèra». Google legt nahe, dass es heute noch existiert. Mutter erinnert sich an einen Speisekeller, eine richtige Tessiner Beiz sei das gewesen. Zum Dessert bestellte sie jeweils Zabaione. Und kurz darauf ertönte aus der Küche das Klappern des Schwingbesens.
Dass meine Mutter eine gewisse Schwäche für alkoholhaltige Desserts hat, erwähnte ich bereits in einer anderen «Geschmacksache». Als meine Eltern nach einigen Jahren ihre Zelte in der italienischen Schweiz abbrachen, kam das Rezept für die Zabaione mit ihnen in den Norden. Gelegentlich stand Mutter in der Küche und klapperte mit dem Schwingbesen. Als Kind liebte ich ihre Zabaione – und noch heute werde ich schwach.
Aus einer anderen Epoche
Zabaione gehört zu den Süssspeisen aus einer anderen Zeit. Wie Cassata. Wie Amarenakirschen. Charlotte royale. Oder das Baba au rhum, das ich an dieser Stelle mal porträtierte. Abgelöst erst von Tiramisù, dann von Panna cotta. Was heute die Dessertkarten dominiert, weiss ich nicht. Ich bestelle selten Desserts, der Linie zuliebe.
Wenn die Zabaione ein Hund wäre, dann wohl ein aprikosenfarbener Pudel. In meiner Kindheit hatten vier von zehn alten Damen im Dorf einen aprikosenfarbenen Pudel. Wäre die Zabaione eine Katze, dann vermutlich eine Siamesin. Die sind auch stark aus der Mode gekommen.
Als Erfinder der Zabaione gilt entweder Bartolomeo Scappi, ein italienischer Koch des 16. Jahrhunderts, oder ein namenloser Kollege am Hof von Herzog Emanuele I. von Savoyen im 17. Jahrhundert. Klar ist: Wer immer der erste Schaumschläger der Geschichte war, er hat der Welt einen Gefallen getan. Eine perfekt geschlagene Zabaione ist wunderbar luftig und rund im Geschmack. Und das war sie bereits, bevor die Spitzenköchinnen dieser Welt mit irgendwelchen Pülverchen und Gasen ihre Espumas kreiert haben.
Zabaione symbolisiert für mich den perfekten Gegenpol zur Säuerlichkeit der protestantisch-kleinbürgerlich-gewerblerischen Arbeitswut der Familie meines Vaters: eine generöse, süsse, luftig-leichte Creme.
Im heissen Wasserbad aufgeschlagene Eiercremen bergen stets eine gewisse Gefahr, zu Rührei zu werden. Das kann man vermeiden, indem man das Wasser deutlich unter dem Siedepunkt hält. Und indem man etwas Stärke zufügt. Daher geben wir eine Messerspitze Maisstärke hinein, es wirkt als Gerinnungshemmer.
Ich serviere Zabaione gerne mit etwas Vanilleglace. Die kann man natürlich auch selber machen, wenn man die Zeit dazu hat und über eine vernünftige Glacemaschine verfügt. Andernfalls erwirbt man das Eis halt käuflich. Wobei man idealerweise nicht nach diesen grossen Packungen im Kühlregal greift, deren Inhalt Vanilleschoten nur vom Hörensagen kennt. Ich persönlich nehme für meine selbst gemachte Vanilleglace stets die doppelte oder dreifache Menge Vanilleschoten, die in den Rezepten angegeben ist. Das geht zwar ganz schön ins Geld, seit vor einigen Jahren der Preis für Vanille explodiert ist. Ich habe irgendwo gelesen, dass ein Kilo Vanille etwa gleich viel koste wie ein Kilo Silber. Aber es lohnt sich geschmacklich.
Zabaione al Marsala
Zutaten (für 4 Personen): 4 Eigelb von frischen Eiern, 60 g Zucker, 1,5 dl Marsala, 1 Messerspitze Maizena oder andere Maisstärke, Vanilleglace
In einer Pfanne etwas Wasser heiss werden lassen – es darf aber nicht kochen.
Eigelb und Zucker mit dem Marsala und dem Maizena in einer Metallschüssel mit dem Schwingbesen schaumig rühren.
Je eine Kugel Vanilleglace in 4 Martinigläser, Champagnerschalen oder anderweitig geeignete Behältnisse geben (idealerweise Erbstücke).
Die Schüssel ins Wasserbad stellen und unentwegt weiterrühren.
Die Masse macht zunächst noch einen flüssigen Eindruck, wird aber mit zunehmendem Rühren cremiger. Sie sollte etwas dicklicher, nach wie vor aber schaumig und leicht warm sein. Dann giesst man sie übers Vanilleglace und serviert sofort.
Marsala. Oder so
Marsala fristet in der heutigen Zeit meist ein Schattendasein zuhinterst im Alkokabinett von Menschen, die bereits etwas länger auf dem Planeten weilen. Seine Zeiten als Getränk sind längst passé. Gelegentlich taucht er als Bestandteil einer klassischen Sauce zu Kalbsschnitzeln auf. Manchmal auch als Beigabe in Fruchtsalat. Beides macht ihn nur bedingt froh.
Seinen Namen hat der Marsala von der gleichnamigen Hafenstadt in Sizilien erhalten. Im 18. Jahrhundert soll ihn der Engländer John Woodhouse erfunden haben, als sizilianische Variante von Portwein und Sherry. Marsala ist aufgespritet. Bei solchen Weinen wird durch Zugabe von Alkohol die Gärung gestoppt, die bis dato quicklebendigen Hefen treten ins Himmelreich über, und es verbleibt eine gewisse Restsüsse.
Anstelle von Marsala kann man auch andere Weine ausprobieren. Beispielsweise einen Moscato d’Asti, einen weissen Port oder einen trockenen Madeira (zum Beispiel einen Sercial, bei einem Malvasia sollte man den Zucker reduzieren). Ich persönlich würde mit dem Klassiker wie hier niedergeschrieben beginnen. Und dann experimentieren. Zum Beispiel, indem man den Marsala durch eine Mischung aus frisch gepresstem Orangensaft, Grand Marnier und Orangenzesten ersetzt und etwa mit Schokoladenglace serviert. Die Zabaione könnte auch als Creme in anderen Dessertkombinationen eine gute Figur machen, etwa zu flambierten Früchten, einem gâteau oder derlei. Seien Sie mutig. Wagen Sie etwas.