Die Lücken-Schliesser
In Bern, Basel, Zürich und Olten treten junge Onlinemedien gegen den Einheitsbrei im Lokaljournalismus an. Mit Erfolg? Besuch auf vier Redaktionen.
Von Marlon Rusch (Text), Elena Xausa (Illustration) und Philip Frowein (Bilder), 24.01.2022
Die Debatte um das Mediengesetz, über das die Schweiz am 13. Februar abstimmt, verläuft hitzig bis überhitzt. Beide Seiten bewerfen sich mit Zahlen, um zu beweisen, welche Verlage wirklich von den 151 zusätzlichen Staatsmillionen profitieren würden, und wie nötig oder unnötig staatliche Förderung überhaupt ist. Eine dieser Zahlen: 70+. So viele einheimische Zeitungstitel sind in der Schweiz seit 2003 verschwunden. Daneben aber, und das geht grade manchmal etwas vergessen, sind auch neue Start-ups entstanden.
Neben sprachregionalen Medien wie der Republik oder «Heidi News» wollen sich auch verschiedene neue Lokalmedien mit innovativen Geschäftsmodellen etablieren. Eine Tour de Suisse in vier Etappen.
«Hauptstadt»: Kann eine so kleine Redaktion dem Berner Platzhirsch Tamedia ernsthaft Konkurrenz machen?
Der Spass ist fürs Erste vorbei. Es ist der letzte Zoom-Call vor den Weihnachtsferien und Jürg Steiner, Marina Bolzli und Joël Widmer schlagen sich mit den Niederungen einer Unternehmensgründung herum: Wie viele Tische? Welche Stühle? Nachhaltig soll das Mobiliar sein, nach Möglichkeit von einem lokalen Partner, solide. Das passt natürlich prima zum neuen Onlinemedium, das die drei im März mit einem hehren Ziel an den Start bringen: Sie wollen den verkümmerten Medienplatz Bern beleben.
Seit vergangenem Oktober versorgt nur noch eine Redaktion die beiden Tamedia-Titel «Bund» und «Berner Zeitung» mit lokalen Inhalten. Die Sparpläne des Zürcher Konzerns sind seit Jahren ein Reizthema in der Bundesstadt, Berner Journalistinnen kochten schon 2017 öffentlich Protest-Risotto gegen den «medialen Einheitsbrei». Vergeblich.
Und so begann eine Gruppe um Steiner, Bolzli und Widmer vor einem Jahr, intensiv an einem unabhängigen Medienprojekt herumzustudieren. Das Projekt bekam einen Namen: «Neuer Berner Journalismus». Und die Euphoriekurve zeigte bald steil nach oben.
Im Spätsommer war ein Projektplan ausgearbeitet, zwei Stiftungen hatten eine Anschubfinanzierung gesprochen – und die Macher liessen die Katze aus dem Sack: Sollten in einem Crowdfunding 1000 Bernerinnen ein Jahresabo abschliessen, würde ein neues Lokalmedium an den Start gehen. Der neue Journalismus soll leserfinanziert und werbefrei sein. Dafür gaben die Macher ein Versprechen ab: «Wir werden Texte schreiben, die ans Herz gehen, und uns nicht scheuen, Fragen aufzuwerfen, die Bern wehtun.»
Im Oktober wurde das Medium «Hauptstadt» getauft, was auch die eigenen Ansprüche symbolisieren sollte, und für das Crowdfunding mieteten sich die Initiantinnen in einem Pop-up-Café in der Altstadt ein. In einem Podcast erfuhr man, wie sie mit dem Cargobike Flyer verteilt und Hoodies hatten bedrucken lassen. In Videos erklärten Berner, weshalb sie beim Crowdfunding mitmachten und «Hauptstädterinnen» waren.
Der Schwung reichte locker bis ins Ziel. 3200 Menschen kauften für 120 Franken ein Jahresabonnement für die «Hauptstadt», obwohl es nur eine sanfte Paywall geben soll und die Artikel somit – wie bei der Republik – auch ohne Abo gelesen werden können, wenn sie eine Abonnentin teilt. Zusammen mit der Anschubfinanzierung ergibt sich ein Budget von 600’000 Franken fürs erste Geschäftsjahr. Neben Steiner, Bolzli und Widmer in der Geschäftsleitung wurden zwei Journalistinnen und ein Journalist, zwei Community-Verantwortliche und ein Fotograf eingestellt, wobei sich diese insgesamt neun Personen 500 Stellenprozente teilen und dafür – auf 100 Prozent gerechnet – einen Einheitslohn von 7000 Franken erhalten. Dazu wird eine Praktikantin kommen.
«Das letzte Jahr war mega aufregend», sagt die 41-jährige Kulturjournalistin Marina Bolzli. Doch jetzt, kurz vor dem Start, habe sich die Aufbruchstimmung in Druck verwandelt. Nach dem Crowdfunding könne man sich nun endlich der Konzeption des Mediums zuwenden. Man kann sich denken, dass es um mehr geht als um ein paar Tische und Stühle.
Die Fallhöhe ist beachtlich. Marina Bolzli sagt, die «Hauptstadt» wolle kritisch gegenüber den Machthabenden sein, nah dran an den Menschen, sie solle politische Recherchen bieten, aber auch viel Kultur. Journalistische Kostproben gibt es bisher aber keine. «Einige unserer Abonnenten werden wir wohl wieder verlieren, weil wir nicht die ganze Breite der Erwartungen erfüllen können», räumt Jürg Steiner ein.
Die Frage wird sein: Was wird diese kleine Redaktion leisten können, was die Grossen nicht vermögen?
Der unabhängige Berner Medienjournalist Nick Lüthi sagt, die Fusion der Lokalredaktionen von «Bund» und «Berner Zeitung» sei bisher kaum spürbar, und mit der 70-köpfigen Redaktion in den Berner Büros blieben die Tamedia-Titel mit ihren täglich je rund 32’000 verkauften Exemplaren klar der Platzhirsch.
Die allermeisten «Hauptstadt»-Leute haben eine Vergangenheit bei der «Berner Zeitung». Ihr Aushängeschild, der 58-jährige Jürg Steiner, hat über 20 Jahre für das Blatt gearbeitet. Es wird sich zeigen, ob der Stallgeruch so schnell verfliegt. «Wenn die ‹Hauptstadt› einfach eine Mini-BZ wird, dann ist es zu wenig», sagt Lüthi.
Wenn die Stimmbevölkerung am 13. Februar das Mediengesetz annimmt, könnten kleine lokale Onlinemedien für jeden Franken, den sie am Lesermarkt verdienen, bis zu 60 Rappen vom Bund erhalten. Die «Hauptstadt» rechnet damit, dass sie ihre Redaktion um zwei bis drei Vollzeitstellen aufstocken könnte. Das würde helfen, sich «besser am Markt zu positionieren», wie die Führungscrew sagt.
Die Probleme wären damit aber nicht erledigt. Es braucht Innovation. Die drei sprechen vom «Laborgedanken», den sie verfolgen. Ein Kern des Angebots soll ein Newsletter sein, der jeden Morgen die wichtigsten Nachrichten des Tages zusammenfasst, kompiliert von den anderen Berner Lokalmedien.
Der Newsletter ist eine Erfolgsgeschichte, die ihren Anfang 100 Kilometer nördlich nahm, beim Basler Onlinemedium «Bajour». Während man in Bern noch etwas zaghaft über neue publizistische Formen und Modelle nachdenkt, werden am Rhein seit zwei Jahren ziemlich tabulos die Ränder des Journalismus erforscht.
«Bajour»: Lässt sich die Relevanz steigern, wenn dann die Community gross genug ist?
Während der Zugfahrt nach Basel kurz vor Weihnachten ploppt auf dem Smartphone das «Basel Briefing» auf, der Newsletter, der jeden Morgen gratis an derzeit rund 4500 Leserinnen und Leser verschickt wird:
Guten Morgen. Den heutigen Tag beginne ich mit einem Freudentanz, Bajour hat nämlich das Jahresendziel von 3100 Member bereits erreicht! 🤩🤩🤩🥳🥳🥳 Yeesss! Wir Bajouris freuen uns wahnsinnig! So sehr, dass wir schon vor Weihnachten unter dem Tisch liegen. Nicht vor lauter Schnaps, sondern vor Rührung.
Es ist ein neuer Ton in der Basler Medienlandschaft.
Angefangen hat alles 2010 mit der Übernahme der «Basler Zeitung» durch den Tessiner Financier Tito Tettamanti und später durch Christoph Blocher. Das links-alternative Basel war empört und aus anthroposophischen Kreisen flossen bald Millionen, um das Zeitungsprojekt «Tageswoche» zu gründen, das Gegensteuer geben sollte gegen den Rechtskurs am Dreiländereck. Nachdem die von Roche-Erbin Beatrice Oeri finanzierte Stiftung für Medienvielfalt die «Tageswoche» 2018 mangels Erfolg am Lesermarkt eingestellt hatte, suchte sie ein neues Basler Medienprojekt, das sie fortan mit 1 Million Franken pro Jahr finanzieren wollte.
In einer Ausschreibung setzte sich eine Gruppe um den ehemaligen «BZ Basel»-Chefredaktor Matthias Zehnder und «Watson»-Erfinder Hansi Voigt durch, der parallel an «We Publish» arbeitete, einer technischen Infrastruktur, auf der verschiedene Onlinemedien ihre Inhalte präsentieren und untereinander austauschen können. 2019 gründeten sie das lokale Onlinemedium «Bajour».
Doch der Start verlief harzig. Innerhalb von drei Jahren sollte eine 20-köpfige Redaktion aufgebaut werden. «Bajour» organisierte ein paar Veranstaltungen, Anfang 2020 ging eine Website online, doch das Interesse der Baslerinnen und Basler hielt sich in Grenzen, und niemand wusste so recht, wo es hingehen sollte mit dem Projekt.
Dann kam die Pandemie. Und mit ihr die Rettung.
Das Büro von «Bajour» in einer Zwischennutzung im Kleinbasler Claraquartier ist geräumig und ziemlich cosy. Es gibt eine Bar, in einer Kiste liegen Merchandise-Socken, ein Green-Screen steht bereit, an den Wänden hängt poppige Kunst. Regelmässig werden hier Lesungen und Konzerte veranstaltet, und als die letzte Fasnacht abgesagt wurde, holte die Redaktion die Schnitzelbängg hierher und übertrug sie live.
Betritt man an diesem Tag kurz vor Weihnachten den Raum, steht man zwischen Hunderten Geschenken, die in den nächsten Tagen verteilt werden sollen. Basler Kinder aus armutsbetroffenen Familien hatten ihre Wünsche eingereicht, und die «Gärngschee»-Gruppe von «Bajour» vermittelte Leute, die sie erfüllen wollten.
«Gärngschee» startete im März 2020 als Reaktion auf den Corona-Lockdown. «Bajour» reagierte schnell und baute eine Onlineplattform auf, mit der Hilfsbedürftige Helferinnen suchen konnten, die für sie einkaufen gehen. Dann explodierte der Laden. «Das Wunder von Bajour», titelte das neue Medium selbst. Heute zähle die Gruppe 20’000 Mitglieder, sagt Chefredaktorin Andrea Fopp am langen Konferenztisch: «Die Community ist digital und vernetzt, ‹Gärngschee› kann einspringen, wo andere Hilfsorganisationen nicht mehr weiterwissen.»
Der Erfolg hat dem Projekt eine Richtung gegeben. Auch als Medium. «Bajour» setzt stark auf die Community. Man analysierte den Medienplatz Basel, befand ihn als seriös, aber konservativ und behäbig, und wollte sich davon absetzen. Durch Themen, aber auch in Sachen Sprache und Habitus. Die Zielgruppe von «Bajour» ist jung, wohnt in der Basler Innenstadt und interessiert sich für Kultur und Identitätspolitik. Damit der tägliche Newsletter entsprechend persönlich und emotional daherkommt, werden neue Mitarbeiterinnen eigens geschult.
Doch Andrea Fopp, selbst eine engagierte Politjournalistin, scheint auch zu hadern mit dem Kurs, den der Zufall mitbestimmt hat. Immer wieder erscheinen auf «Bajour» harte politische Interviews und feine Gesellschaftsreportagen. Die Website, auf der die Artikel publiziert werden, ist intern nach der «Gärngschee»-Gruppe und dem Newsletter aber nur dritte Priorität.
Fopp möchte das ändern, sie möchte mehr journalistische Relevanz, doch gleichzeitig hat sie gerade nochmals einen Kampagnenmonat ausgerufen, um neue Member zu gewinnen. «So was saugt natürlich an der Recherchekapazität», sagt Redaktor Daniel Faulhaber. Seine Kollegin Franziska Zambach setzt sich dazu, eine Tasse Kaffee in der Hand. Gerade hat sie über «We Publish» einen Artikel von der «WOZ» auf die «Bajour»-Website importiert: «Die Lex UBS», eine Recherche über Lobbyismus bei der laufenden Reform des Rentensystems. In der unrühmlichen Hauptrolle: SVP-Nationalrat Thomas de Courten aus der Basler Landschaft.
Solche Geschichten würde Fopp gern selber produzieren. Doch «Bajour» hat eine riskante Wette auf die Zeit abgeschlossen: Zuerst soll die Community möglichst gross werden. Wenn dann die kritische Reichweite erreicht ist, will man den Knopf drücken – und auf Relevanz setzen.
Fragt sich bloss: Ist diese Wette zu gewinnen?
Die Stiftung für Medienvielfalt hat die Anschubfinanzierung von einer Million Franken pro Jahr vorerst auf drei Jahre begrenzt. Doch «Bajour» verkauft keine Inhalte, die Artikel sind alle frei verfügbar, auf Werbung wird verzichtet. «Die Leute geben uns Geld aus Sympathie, weil sie sich mit uns identifizieren», sagt Andrea Fopp.
Viel Geld kommt auf diese Weise aber nicht herein: Derzeit bezahlen 3200 Unterstützer mindestens 40 Franken pro Jahr, um Member zu sein. Daraus ergeben sich minimale Einnahmen von 128’000 Franken, etwas mehr als ein Zehntel des Stiftungsgeldes. Mit der neuen Medienförderung des Bundes könnte «Bajour» wohl eine zusätzliche Stelle schaffen und vielleicht jemanden ins Bundeshaus entsenden. Doch sollte das Stiftungsgeld im kommenden September tatsächlich wegfallen, wäre das nicht viel mehr als ein Tropfen auf den heissen Stein.
Andrea Fopp möchte sich nicht zu sehr in die Karten schauen lassen. Das Budget sei nicht öffentlich. Transparent sind aber die Löhne: Die achtköpfige Redaktion mit 600 Stellenprozenten verdient zwischen 7100 und 7600 Franken auf 100 Prozent, dazu kommen Praktikantinnen und freie Mitarbeitende.
Fopp träumt von einer Vollredaktion mit genügend Stellenprozenten, von der Möglichkeit, die angestammten Lokalmedien ernsthaft zu konkurrenzieren. Doch kann man journalistische Relevanz auf Knopfdruck erzeugen? Und ist sie in einer Community, die aus einem Hilfsprojekt entstand, überhaupt erwünscht? Der Basler Recherche- und Medienjournalist Christian Mensch, der für die zum Grossverlag CH Media gehörende «BZ Basel» arbeitet, hat Zweifel. Er sagt, «Bajour» habe sich eine Community herangeschrieben, der es eher darum gehe, in ihrer Haltung bestärkt zu werden.
Langweilig dürfte es jedenfalls nicht werden im Büro an der Clarastrasse, wo man gerade versucht, den Journalismus neu zu denken.
«Tsüri»: Wie komplex darf Journalismus sein, der sich an Junge richtet und niemanden ausschliessen will?
In Zürich feiert der Prototyp der Schweizer Lokaljournalismuslabore gerade sein siebenjähriges Bestehen. «Tsüri» ist Anfang 2015 aus dem Kulturpublizistik-Studium von Simon Jacoby entstanden – mit einer handgestrickten Wordpress-Seite, einem Startkapital von 6000 Franken und der Idee, Themen aufzugreifen, die die etablierten Zürcher Medien vernachlässigen. Bald schrieben 20 junge Leute für das digitale Stadtmagazin: über linke Demonstrationen, besetzte Häuser, alternative Kunst und Kultur; oft aus der Ich-Perspektive.
Offenbar traf Jacoby einen Nerv. Zwei Jahre später hatten 300’000 Menschen «Tsüri» besucht. Aus dem Studentenprojekt wurde eine Aktiengesellschaft, die erste Löhne bezahlte. Heute gibt es, inklusive Praktika, neun Teilzeit-Redaktionsstellen bei einem Monatslohn von 4200 Franken auf 100 Prozent. Das Geld dafür verdient das Unternehmen selbst. Das Budget 2022 beläuft sich auf 700’000 Franken, 250’000 davon sollen am Lesermarkt verdient werden, über Mitgliedschaften (ab 60 Franken pro Jahr) und Crowdfundings. Die restlichen Einnahmen stammen aus Werbung, einem Shop und dem Sponsoring von Veranstaltungen des Ablegers Civic Media, der «Journalismus zum Anfassen» anbietet: Workshops, Spaziergänge, Diskussionsrunden.
Im Vordergrund steht auch hier die Community.
Bei der ersten Zoom-Konferenz des neuen Jahres diskutiert eine Handvoll junger Leute über die kommenden Wochen. Ein freier Autor erzählt, wie er sich die Artikelserie vorstellt, die er für «Tsüri» schreiben soll. Es geht um die Zürcher Lokalwahlen im Februar und der Autor hadert: Braucht es einen Grundlagentext, der erklärt, worum es sich bei Dingen wie der Gewaltenteilung handelt? «Ich glaube, viele Leute checken das nicht. Sie wählen einen Gemeinderat, wissen aber gar nicht, was der dann überhaupt macht», erklärt der Autor.
Wie komplex darf Journalismus sein? Was darf man voraussetzen? Es sind Fragen, die das Stadtmagazin seit jeher umtreiben. «Wir wollen ein Einfallstor für jüngere Leute sein, die sich noch nicht so gut auskennen mit komplexen politischen Themen», sagt Chefredaktor und Verleger Simon Jacoby. «Tsüri» hat mit viel Unterhaltung angefangen, Artikel trugen Titel wie «Wenn The Big Bang Theory in Zürich spielen würde …». Damit hätten sie mittlerweile aber aufgehört, sagt Jacoby. «Es ist nicht unsere Aufgabe, die Leute zu bespassen.»
Zumindest nicht nur: An der Zoom-Konferenz springt man auch mal zum Tiktok-Projekt, das mit der Zürcher Hochschule der Künste umgesetzt wird (Thema: Wohnungsproblematik), dann weiter zum Themenmonat «Feuchter Januar», für den eine Videotalkreihe in Zusammenarbeit mit einem queer-feministischen Sexshop entwickelt wurde.
«Tsüri» wollte wie «Bajour» relevanter werden. Doch statt zu versuchen, die Platzhirsche herauszufordern, fühlt sich das Stadtmagazin offenbar nicht unwohl in der Nische.
Die Wahlserie ist eine typische Aktion: Es war klar, dass die Lokalwahlen vom 13. Februar abgedeckt werden müssen, doch weil dafür niemand Kapazität hatte, wurde ein Crowdfunding gestartet, um während drei Monaten einen temporären Sonderberichterstatter einzustellen. Die Community kann bei «Tsüri» mitreden über die Inhalte. An Events versammeln sich gerne mal Hunderte Member, um über Themenschwerpunkte abzustimmen. Im Frühling 2021 etwa hat die Community entschieden, dass eine Redaktionsstelle für Klimafragen geschaffen werden soll. Auch dafür kratzten die Leser das Geld zusammen.
Der Grundlagentext, den der Sonderberichterstatter vorgeschlagen hat, wird gutgeheissen. Die weiteren Artikel sollen Aspekte beleuchten, die nach Ansicht der Redaktion bei «Tages-Anzeiger» und «NZZ» zu kurz kommen: Tempo 30, Lärmschutz, Wohnen. Zusammenhänge werden diskutiert, verworfen und bald taucht die Frage auf: Verschmelzen da nicht zu sehr die Ebenen? Ist die Serie überladen?
«Tsüri» hat sich als guter Einstieg in den Journalismus erwiesen. Von den Leuten, die anfangs mit dabei waren, arbeiten heute einige bei «Watson», «Tages-Anzeiger», «NZZ» oder SRF. Mittlerweile aber gebe es nur noch wenige Wechsel, das Team sei stabil, sagt Redaktionsleiterin Rahel Bains: «Wir nehmen uns Zeit, gerade um Praktikantinnen und Praktikanten zu betreuen und mit ihnen an den Texten zu feilen. Da sie von Anfang an viel Verantwortung übernehmen müssen, suchen wir Leute, die bereits ein gewisses Rüstzeug mitbringen. Wir würden heute keine blutigen Anfänger mehr einstellen.»
«Tsüri» ist eine Art «Bajour» von unten: bedächtiger, demütiger, aber nicht minder nachhaltig. Wird das Mediengesetz angenommen, rechnet Jacoby mit substanziellen Mehreinnahmen. Basierend auf den Zahlen vom letzten Jahr wären es wohl etwa 90’000 Franken. Sollte das Geld kommen, würde es in Kampagnen und direkt in den Journalismus fliessen.
Vor kurzem haben die Zürcherinnen den täglichen Newsletter aus Basel adaptiert, auch wenn dieser etwas weniger schrill daherkommt. Und bei «We Publish» macht «Tsüri» ebenso mit wie «Bajour» und die «Hauptstadt» aus Bern.
Künftig dürften zwischen Bern, Basel und Zürich nicht nur Erfahrungen, sondern immer öfter auch Artikel zirkulieren.
«Kolt»: Kann man mit ambitioniertem Journalismus in einer Kleinstadt wie Olten überleben?
Mitten in diesem Dreieck zieht «Kolt» seine Kreise. Es ist vielleicht das mutigste der Schweizer Lokaljournalismus-Projekte. Denn «Kolt» erscheint in Olten. Und Olten ist klein.
2009 gründete der Mittzwanziger Yves Stuber in der Stadt, in der er gross geworden war, ein gedrucktes, lokales Kulturmagazin. Rentabel wurde es nie, aber Stuber bewies einen langen Atem. Elf Jahre nach der Gründung wagte er zum wiederholten Male einen Relaunch. Der Plan: mit digitalem «Lokaljournalismus für das 21. Jahrhundert» raus aus der Kulturschublade. Im Oktober 2020 ist das neue «Kolt» gestartet.
Die einzige ernsthafte Lokalzeitung, das «Oltner Tagblatt», gehört zum Grosskonzern CH Media. Neben «Kolt» gebe es heute kein Lokalmedium mehr, das sich ernsthaft mit der Entwicklung der Stadt befasse, sagt Stuber. «Das ‹Oltner Tagblatt› dokumentiert und bildet Meinungen ab. Das sind wichtige Zeitdokumente, aber an Lösungen für die Probleme vor Ort ist die Zeitung nicht ernsthaft interessiert.»
«Kolt» will diese Lücke schliessen. Bloss: Wie finanziert man heutzutage eine unabhängige Lokalzeitung für eine Stadt mit nicht mal 20’000 Einwohnern? Während in Basel vor allem Stiftungsgelder den Laden am Laufen halten und man sich in den Zentren Bern und Zürich in Sachen Finanzierung auf das grosse Einzugsgebiet verlässt, segelt «Kolt» hart am Wind.
In einer ehemaligen Zigarrenfabrik an der Oltner Peripherie haben sich an einem Montagmittag im Januar sechs Leute zur ersten Redaktionskonferenz des neuen Jahres um eine ehemalige Kücheninsel versammelt. Und bereits die Reihenfolge der Themen zeigt: Priorität haben hier derzeit verlegerische Belange. «Kolt» ist klein, hier reden alle überall mit, vom Verleger über den Webentwickler und die Redaktorin bis zum Fotografen. Etwa beim Thema Weihnachtsaktion, die gut verlaufen sei und 2000 Franken an Spenden und fünf Abonnemente generiert habe.
Anders als bei «Tsüri», der «Hauptstadt» und «Bajour» sind die «Kolt»-Artikel allesamt kostenpflichtig, ein Abonnement kostet 220 Franken pro Jahr. Dafür wird online alle paar Tage eine Reportage, ein Porträt oder ein politischer Beitrag publiziert, alle zwei Wochen wird per Post ein Heft verschickt, zweimal wöchentlich kommt ein Newsletter, und für die Abonnentinnen veranstaltet «Kolt» Podien und Talks.
Das kleine Unternehmen zahlt einen Einheitslohn von 5500 Franken auf 100 Prozent und benötigt bei 350 Stellenprozenten jährlich 500’000 Franken, um über die Runden zu kommen. Mit 1500 Abos wäre das Medium selbsttragend, doch dafür müsste jeder zehnte Haushalt der Stadt ein Abo lösen. Derzeit sind es bloss 700.
Die 200’000 Franken, die dieses Jahr in der Kasse fehlen, versucht Verleger Yves Stuber irgendwie zusammenzukratzen. Viel Stiftungsgeld kommt nicht herein, dafür laufen gerade Gespräche über neue Werbepartnerschaften. «Kolt» kann es sich nicht erlauben, stur an journalistischen Idealen festzuhalten. Die Oltner müssen pragmatisch sein und gestalten auch mal im Auftrag einer Reisefirma ein Kundenmagazin, um sich querzufinanzieren. Der Lohn von Yves Stuber verschwindet oft postwendend wieder im Unternehmen – als «Darlehen». Insgeheim dürfte er das Geld jeweils abschreiben. Wie auch die Privatkredite, die er in «Kolt» gesteckt hat. «Ich träume davon, eine schwarze Null zu schreiben und keine Schulden mehr zu haben», sagt er.
Das Problem: Wenn man klein ist, ist es schwierig, gross zu werden.
«Kolt» hat einen mutigen Ansatz gewählt: Die Leserschaft ist die Chefredaktion. Abonnenten können der Redaktion Themen vorschlagen. Und das Konzept funktioniert überraschend gut. «Wir erfahren so, was wirklich relevant ist in der Region», sagt Stuber. Als immer wieder Inputs zur Stadtentwicklung reinkamen, interviewte «Kolt» den Stadtbaumeister und liess ihn die Fragen der Leserinnen beantworten.
«Kolt» braucht keine Scoops und Skandale, um Relevanz herzustellen. Man würde in Olten ja doch zu selten etwas finden. Die Oltner schätzen die zweite publizistische Stimme, doch noch ist die ziemlich leise. Im vergangenen Jahr war Yann Schlegel die meiste Zeit der einzige Redaktor im Team. Der junge Journalist kam vom «Oltner Tagblatt» und sollte eine möglichst grosse Bandbreite an Texten produzieren. In einer Kleinstadt wie Olten kann man es sich nicht leisten, bloss für eine Bubble zu schreiben. «Ich musste ziemlich rudern, damit wir genügend Stoff bieten können und keine Abonnenten verlieren», sagt Schlegel. Und gut sollte der Stoff auch sein. Daneben musste er freie Autorinnen betreuen.
Immerhin: Seit Anfang Monat ist Schlegel nicht mehr allein. An der ehemaligen Kücheninsel steht an diesem Montag im Januar eine neue Redaktorin.
Von den vier Lokalmedien würde «Kolt» prozentual zur Redaktionsgrösse am stärksten von der neuen Medienförderung profitieren. Stuber rechnet mit 100’000 Franken pro Jahr. Die Infrastruktur steht, das Geld könnte in die Redaktion fliessen, käme direkt den Inhalten zugute. Die Stimme von «Kolt» würde etwas lauter.
Zu «Bajour» schreiben wir, dass derzeit 3200 Unterstützer mindestens 40 Franken pro Jahr bezahlen, um Member zu sein. Wir haben präzisiert, dass sich daraus «minimale» (statt: «garantierte») Einnahmen von 128’000 Franken ergeben, da ein Teil der Unterstützerinnen höhere Beträge entrichtet.
Von der staatlichen Medienförderung, über die das Schweizer Stimmvolk am 13. Februar abstimmt, würde auch die Republik profitieren. Wie viel Geld sie erhielte, ist derzeit unklar. Klar ist: Über die Frage, ob sie das Geld überhaupt annehmen würde, müsste die Verlegerschaft entscheiden. Genauso haben wir die Entscheidung, welche Parole Project R, die Genossenschaft hinter der Republik, zum Mediengesetz fassen soll, an die Verlegerschaft delegiert. Die Befragung ist abgeschlossen, hier finden Sie die Ergebnisse.