Die Lücken-Schliesser

In Bern, Basel, Zürich und Olten treten junge Online­medien gegen den Einheits­brei im Lokal­journalismus an. Mit Erfolg? Besuch auf vier Redaktionen.

Von Marlon Rusch (Text), Elena Xausa (Illustration) und Philip Frowein (Bilder), 24.01.2022

Die Debatte um das Medien­gesetz, über das die Schweiz am 13. Februar abstimmt, verläuft hitzig bis überhitzt. Beide Seiten bewerfen sich mit Zahlen, um zu beweisen, welche Verlage wirklich von den 151 zusätzlichen Staats­millionen profitieren würden, und wie nötig oder unnötig staatliche Förderung überhaupt ist. Eine dieser Zahlen: 70+. So viele einheimische Zeitungs­titel sind in der Schweiz seit 2003 verschwunden. Daneben aber, und das geht grade manchmal etwas vergessen, sind auch neue Start-ups entstanden.

Zum Autor

Marlon Rusch ist Co-Redaktions­leiter der 103-jährigen lokalen Wochen­zeitung «Schaffhauser AZ», die seit fünf Jahren wieder Abonnentinnen gewinnt, aber dennoch auf ihren Gönner­verein angewiesen ist. Daneben arbeitet er als freier Journalist.

Neben sprach­regionalen Medien wie der Republik oder «Heidi News» wollen sich auch verschiedene neue Lokal­medien mit innovativen Geschäfts­modellen etablieren. Eine Tour de Suisse in vier Etappen.

«Hauptstadt»: Kann eine so kleine Redaktion dem Berner Platz­hirsch Tamedia ernsthaft Konkurrenz machen?

Der Spass ist fürs Erste vorbei. Es ist der letzte Zoom-Call vor den Weihnachts­ferien und Jürg Steiner, Marina Bolzli und Joël Widmer schlagen sich mit den Niederungen einer Unternehmens­gründung herum: Wie viele Tische? Welche Stühle? Nachhaltig soll das Mobiliar sein, nach Möglichkeit von einem lokalen Partner, solide. Das passt natürlich prima zum neuen Online­medium, das die drei im März mit einem hehren Ziel an den Start bringen: Sie wollen den verkümmerten Medien­platz Bern beleben.

Seit vergangenem Oktober versorgt nur noch eine Redaktion die beiden Tamedia-Titel «Bund» und «Berner Zeitung» mit lokalen Inhalten. Die Spar­pläne des Zürcher Konzerns sind seit Jahren ein Reizthema in der Bundes­stadt, Berner Journalistinnen kochten schon 2017 öffentlich Protest-Risotto gegen den «medialen Einheitsbrei». Vergeblich.

Und so begann eine Gruppe um Steiner, Bolzli und Widmer vor einem Jahr, intensiv an einem unabhängigen Medien­projekt herumzustudieren. Das Projekt bekam einen Namen: «Neuer Berner Journalismus». Und die Euphorie­kurve zeigte bald steil nach oben.

Im Spätsommer war ein Projekt­plan ausgearbeitet, zwei Stiftungen hatten eine Anschub­finanzierung gesprochen – und die Macher liessen die Katze aus dem Sack: Sollten in einem Crowd­funding 1000 Bernerinnen ein Jahres­abo abschliessen, würde ein neues Lokal­medium an den Start gehen. Der neue Journalismus soll leser­finanziert und werbe­frei sein. Dafür gaben die Macher ein Versprechen ab: «Wir werden Texte schreiben, die ans Herz gehen, und uns nicht scheuen, Fragen aufzuwerfen, die Bern wehtun.»

Im Oktober wurde das Medium «Haupt­stadt» getauft, was auch die eigenen Ansprüche symbolisieren sollte, und für das Crowd­funding mieteten sich die Initiantinnen in einem Pop-up-Café in der Altstadt ein. In einem Podcast erfuhr man, wie sie mit dem Cargo­bike Flyer verteilt und Hoodies hatten bedrucken lassen. In Videos erklärten Berner, weshalb sie beim Crowd­funding mitmachten und «Haupt­städterinnen» waren.

Der Schwung reichte locker bis ins Ziel. 3200 Menschen kauften für 120 Franken ein Jahres­abonnement für die «Haupt­stadt», obwohl es nur eine sanfte Paywall geben soll und die Artikel somit – wie bei der Republik – auch ohne Abo gelesen werden können, wenn sie eine Abonnentin teilt. Zusammen mit der Anschub­finanzierung ergibt sich ein Budget von 600’000 Franken fürs erste Geschäfts­jahr. Neben Steiner, Bolzli und Widmer in der Geschäfts­leitung wurden zwei Journalistinnen und ein Journalist, zwei Community-Verantwortliche und ein Fotograf eingestellt, wobei sich diese insgesamt neun Personen 500 Stellen­prozente teilen und dafür – auf 100 Prozent gerechnet – einen Einheits­lohn von 7000 Franken erhalten. Dazu wird eine Praktikantin kommen.

«Das letzte Jahr war mega aufregend», sagt die 41-jährige Kultur­journalistin Marina Bolzli. Doch jetzt, kurz vor dem Start, habe sich die Aufbruch­stimmung in Druck verwandelt. Nach dem Crowd­funding könne man sich nun endlich der Konzeption des Mediums zuwenden. Man kann sich denken, dass es um mehr geht als um ein paar Tische und Stühle.

Die Fallhöhe ist beachtlich. Marina Bolzli sagt, die «Haupt­stadt» wolle kritisch gegenüber den Macht­habenden sein, nah dran an den Menschen, sie solle politische Recherchen bieten, aber auch viel Kultur. Journalistische Kostproben gibt es bisher aber keine. «Einige unserer Abonnenten werden wir wohl wieder verlieren, weil wir nicht die ganze Breite der Erwartungen erfüllen können», räumt Jürg Steiner ein.

Die Frage wird sein: Was wird diese kleine Redaktion leisten können, was die Grossen nicht vermögen?

Der unabhängige Berner Medien­journalist Nick Lüthi sagt, die Fusion der Lokal­redaktionen von «Bund» und «Berner Zeitung» sei bisher kaum spürbar, und mit der 70-köpfigen Redaktion in den Berner Büros blieben die Tamedia-Titel mit ihren täglich je rund 32’000 verkauften Exemplaren klar der Platzhirsch.

Die allermeisten «Haupt­stadt»-Leute haben eine Vergangenheit bei der «Berner Zeitung». Ihr Aushänge­schild, der 58-jährige Jürg Steiner, hat über 20 Jahre für das Blatt gearbeitet. Es wird sich zeigen, ob der Stall­geruch so schnell verfliegt. «Wenn die ‹Haupt­stadt› einfach eine Mini-BZ wird, dann ist es zu wenig», sagt Lüthi.

Wenn die Stimm­bevölkerung am 13. Februar das Medien­gesetz annimmt, könnten kleine lokale Online­medien für jeden Franken, den sie am Leser­markt verdienen, bis zu 60 Rappen vom Bund erhalten. Die «Haupt­stadt» rechnet damit, dass sie ihre Redaktion um zwei bis drei Vollzeit­stellen aufstocken könnte. Das würde helfen, sich «besser am Markt zu positionieren», wie die Führungs­crew sagt.

Die Probleme wären damit aber nicht erledigt. Es braucht Innovation. Die drei sprechen vom «Labor­gedanken», den sie verfolgen. Ein Kern des Angebots soll ein News­letter sein, der jeden Morgen die wichtigsten Nachrichten des Tages zusammen­fasst, kompiliert von den anderen Berner Lokalmedien.

Der Newsletter ist eine Erfolgs­geschichte, die ihren Anfang 100 Kilo­meter nördlich nahm, beim Basler Online­medium «Bajour». Während man in Bern noch etwas zaghaft über neue publizistische Formen und Modelle nachdenkt, werden am Rhein seit zwei Jahren ziemlich tabulos die Ränder des Journalismus erforscht.

«Bajour»: Lässt sich die Relevanz steigern, wenn dann die Community gross genug ist?

Während der Zugfahrt nach Basel kurz vor Weihnachten ploppt auf dem Smart­phone das «Basel Briefing» auf, der News­letter, der jeden Morgen gratis an derzeit rund 4500 Leserinnen und Leser verschickt wird:

Guten Morgen. Den heutigen Tag beginne ich mit einem Freuden­tanz, Bajour hat nämlich das Jahres­endziel von 3100 Member bereits erreicht! 🤩🤩🤩🥳🥳🥳 Yeesss! Wir Bajouris freuen uns wahnsinnig! So sehr, dass wir schon vor Weihnachten unter dem Tisch liegen. Nicht vor lauter Schnaps, sondern vor Rührung.

Es ist ein neuer Ton in der Basler Medienlandschaft.

Angefangen hat alles 2010 mit der Übernahme der «Basler Zeitung» durch den Tessiner Financier Tito Tettamanti und später durch Christoph Blocher. Das links-alternative Basel war empört und aus anthroposophischen Kreisen flossen bald Millionen, um das Zeitungs­projekt «Tageswoche» zu gründen, das Gegensteuer geben sollte gegen den Rechts­kurs am Dreiländer­eck. Nachdem die von Roche-Erbin Beatrice Oeri finanzierte Stiftung für Medien­vielfalt die «Tageswoche» 2018 mangels Erfolg am Lesermarkt eingestellt hatte, suchte sie ein neues Basler Medien­projekt, das sie fortan mit 1 Million Franken pro Jahr finanzieren wollte.

In einer Ausschreibung setzte sich eine Gruppe um den ehemaligen «BZ Basel»-Chefredaktor Matthias Zehnder und «Watson»-Erfinder Hansi Voigt durch, der parallel an «We Publish» arbeitete, einer technischen Infra­struktur, auf der verschiedene Online­medien ihre Inhalte präsentieren und untereinander austauschen können. 2019 gründeten sie das lokale Online­medium «Bajour».

Doch der Start verlief harzig. Innerhalb von drei Jahren sollte eine 20-köpfige Redaktion aufgebaut werden. «Bajour» organisierte ein paar Veranstaltungen, Anfang 2020 ging eine Website online, doch das Interesse der Baslerinnen und Basler hielt sich in Grenzen, und niemand wusste so recht, wo es hingehen sollte mit dem Projekt.

Dann kam die Pandemie. Und mit ihr die Rettung.

Auf der «Bajour»-Redaktion: Chefredaktorin Andrea Fopp (am Telefon) möchte mehr journalistische Relevanz, dafür braucht sie erst mal mehr Geld.
Raketenhaft war der Start von «Bajour» nicht. Doch mit einem Corona-Hilfsprojekt stiegen die Mitgliederzahlen von «Bajour» plötzlich steil an.

Das Büro von «Bajour» in einer Zwischen­nutzung im Klein­basler Clara­quartier ist geräumig und ziemlich cosy. Es gibt eine Bar, in einer Kiste liegen Merchandise-Socken, ein Green-Screen steht bereit, an den Wänden hängt poppige Kunst. Regelmässig werden hier Lesungen und Konzerte veranstaltet, und als die letzte Fasnacht abgesagt wurde, holte die Redaktion die Schnitzel­bängg hierher und übertrug sie live.

Betritt man an diesem Tag kurz vor Weihnachten den Raum, steht man zwischen Hunderten Geschenken, die in den nächsten Tagen verteilt werden sollen. Basler Kinder aus armuts­betroffenen Familien hatten ihre Wünsche eingereicht, und die «Gärngschee»-Gruppe von «Bajour» vermittelte Leute, die sie erfüllen wollten.

«Gärngschee» startete im März 2020 als Reaktion auf den Corona-Lockdown. «Bajour» reagierte schnell und baute eine Onlineplattform auf, mit der Hilfs­bedürftige Helferinnen suchen konnten, die für sie einkaufen gehen. Dann explodierte der Laden. «Das Wunder von Bajour», titelte das neue Medium selbst. Heute zähle die Gruppe 20’000 Mitglieder, sagt Chef­redaktorin Andrea Fopp am langen Konferenz­tisch: «Die Community ist digital und vernetzt, ‹Gärn­gschee› kann einspringen, wo andere Hilfs­organisationen nicht mehr weiterwissen.»

Der Erfolg hat dem Projekt eine Richtung gegeben. Auch als Medium. «Bajour» setzt stark auf die Community. Man analysierte den Medien­platz Basel, befand ihn als seriös, aber konservativ und behäbig, und wollte sich davon absetzen. Durch Themen, aber auch in Sachen Sprache und Habitus. Die Zielgruppe von «Bajour» ist jung, wohnt in der Basler Innenstadt und interessiert sich für Kultur und Identitäts­politik. Damit der tägliche Newsletter entsprechend persönlich und emotional daher­kommt, werden neue Mitarbeiterinnen eigens geschult.

Doch Andrea Fopp, selbst eine engagierte Polit­journalistin, scheint auch zu hadern mit dem Kurs, den der Zufall mitbestimmt hat. Immer wieder erscheinen auf «Bajour» harte politische Interviews und feine Gesellschafts­reportagen. Die Website, auf der die Artikel publiziert werden, ist intern nach der «Gärngschee»-Gruppe und dem Newsletter aber nur dritte Priorität.

Fopp möchte das ändern, sie möchte mehr journalistische Relevanz, doch gleichzeitig hat sie gerade nochmals einen Kampagnenmonat ausgerufen, um neue Member zu gewinnen. «So was saugt natürlich an der Recherche­kapazität», sagt Redaktor Daniel Faulhaber. Seine Kollegin Franziska Zambach setzt sich dazu, eine Tasse Kaffee in der Hand. Gerade hat sie über «We Publish» einen Artikel von der «WOZ» auf die «Bajour»-Website importiert: «Die Lex UBS», eine Recherche über Lobbyismus bei der laufenden Reform des Renten­systems. In der unrühmlichen Hauptrolle: SVP-National­rat Thomas de Courten aus der Basler Landschaft.

Solche Geschichten würde Fopp gern selber produzieren. Doch «Bajour» hat eine riskante Wette auf die Zeit abgeschlossen: Zuerst soll die Community möglichst gross werden. Wenn dann die kritische Reich­weite erreicht ist, will man den Knopf drücken – und auf Relevanz setzen.

Fragt sich bloss: Ist diese Wette zu gewinnen?

Die Stiftung für Medien­vielfalt hat die Anschub­finanzierung von einer Million Franken pro Jahr vorerst auf drei Jahre begrenzt. Doch «Bajour» verkauft keine Inhalte, die Artikel sind alle frei verfügbar, auf Werbung wird verzichtet. «Die Leute geben uns Geld aus Sympathie, weil sie sich mit uns identifizieren», sagt Andrea Fopp.

Viel Geld kommt auf diese Weise aber nicht herein: Derzeit bezahlen 3200 Unterstützer mindestens 40 Franken pro Jahr, um Member zu sein. Daraus ergeben sich minimale Einnahmen von 128’000 Franken, etwas mehr als ein Zehntel des Stiftungs­geldes. Mit der neuen Medien­förderung des Bundes könnte «Bajour» wohl eine zusätzliche Stelle schaffen und vielleicht jemanden ins Bundes­haus entsenden. Doch sollte das Stiftungs­geld im kommenden September tatsächlich wegfallen, wäre das nicht viel mehr als ein Tropfen auf den heissen Stein.

«Bajour»-Redaktion in Kleinbasel in einer ehemaligen Vögele-Filiale.
Chefredaktorin Andrea Fopp und Redaktor Daniel Faulhaber setzen auf junge, urbane Leserinnen.

Andrea Fopp möchte sich nicht zu sehr in die Karten schauen lassen. Das Budget sei nicht öffentlich. Transparent sind aber die Löhne: Die acht­köpfige Redaktion mit 600 Stellen­prozenten verdient zwischen 7100 und 7600 Franken auf 100 Prozent, dazu kommen Praktikantinnen und freie Mitarbeitende.

Fopp träumt von einer Vollredaktion mit genügend Stellen­prozenten, von der Möglichkeit, die angestammten Lokal­medien ernsthaft zu konkurrenzieren. Doch kann man journalistische Relevanz auf Knopf­druck erzeugen? Und ist sie in einer Community, die aus einem Hilfs­projekt entstand, überhaupt erwünscht? Der Basler Recherche- und Medien­journalist Christian Mensch, der für die zum Grossverlag CH Media gehörende «BZ Basel» arbeitet, hat Zweifel. Er sagt, «Bajour» habe sich eine Community heran­geschrieben, der es eher darum gehe, in ihrer Haltung bestärkt zu werden.

Langweilig dürfte es jedenfalls nicht werden im Büro an der Clara­strasse, wo man gerade versucht, den Journalismus neu zu denken.

«Tsüri»: Wie komplex darf Journalismus sein, der sich an Junge richtet und niemanden ausschliessen will?

In Zürich feiert der Prototyp der Schweizer Lokal­journalismus­labore gerade sein sieben­jähriges Bestehen. «Tsüri» ist Anfang 2015 aus dem Kultur­publizistik-Studium von Simon Jacoby entstanden – mit einer hand­gestrickten Wordpress-Seite, einem Start­kapital von 6000 Franken und der Idee, Themen aufzugreifen, die die etablierten Zürcher Medien vernachlässigen. Bald schrieben 20 junge Leute für das digitale Stadt­magazin: über linke Demonstrationen, besetzte Häuser, alternative Kunst und Kultur; oft aus der Ich-Perspektive.

Offenbar traf Jacoby einen Nerv. Zwei Jahre später hatten 300’000 Menschen «Tsüri» besucht. Aus dem Studenten­projekt wurde eine Aktien­gesellschaft, die erste Löhne bezahlte. Heute gibt es, inklusive Praktika, neun Teilzeit-Redaktions­stellen bei einem Monats­lohn von 4200 Franken auf 100 Prozent. Das Geld dafür verdient das Unternehmen selbst. Das Budget 2022 beläuft sich auf 700’000 Franken, 250’000 davon sollen am Leser­markt verdient werden, über Mitgliedschaften (ab 60 Franken pro Jahr) und Crowd­fundings. Die restlichen Einnahmen stammen aus Werbung, einem Shop und dem Sponsoring von Veranstaltungen des Ablegers Civic Media, der «Journalismus zum Anfassen» anbietet: Workshops, Spaziergänge, Diskussions­runden.

Im Vordergrund steht auch hier die Community.

Bei der ersten Zoom-Konferenz des neuen Jahres diskutiert eine Handvoll junger Leute über die kommenden Wochen. Ein freier Autor erzählt, wie er sich die Artikel­serie vorstellt, die er für «Tsüri» schreiben soll. Es geht um die Zürcher Lokal­wahlen im Februar und der Autor hadert: Braucht es einen Grundlagen­text, der erklärt, worum es sich bei Dingen wie der Gewalten­teilung handelt? «Ich glaube, viele Leute checken das nicht. Sie wählen einen Gemeinde­rat, wissen aber gar nicht, was der dann überhaupt macht», erklärt der Autor.

Wie komplex darf Journalismus sein? Was darf man voraus­setzen? Es sind Fragen, die das Stadt­magazin seit jeher umtreiben. «Wir wollen ein Einfalls­tor für jüngere Leute sein, die sich noch nicht so gut auskennen mit komplexen politischen Themen», sagt Chef­redaktor und Verleger Simon Jacoby. «Tsüri» hat mit viel Unterhaltung angefangen, Artikel trugen Titel wie «Wenn The Big Bang Theory in Zürich spielen würde …». Damit hätten sie mittlerweile aber aufgehört, sagt Jacoby. «Es ist nicht unsere Aufgabe, die Leute zu bespassen.»

Zumindest nicht nur: An der Zoom-Konferenz springt man auch mal zum Tiktok-Projekt, das mit der Zürcher Hochschule der Künste umgesetzt wird (Thema: Wohnungs­problematik), dann weiter zum Themen­monat «Feuchter Januar», für den eine Videotalk­reihe in Zusammen­arbeit mit einem queer-feministischen Sexshop entwickelt wurde.

«Tsüri» wollte wie «Bajour» relevanter werden. Doch statt zu versuchen, die Platz­hirsche heraus­zufordern, fühlt sich das Stadt­magazin offenbar nicht unwohl in der Nische.

Die Wahlserie ist eine typische Aktion: Es war klar, dass die Lokal­wahlen vom 13. Februar abgedeckt werden müssen, doch weil dafür niemand Kapazität hatte, wurde ein Crowd­funding gestartet, um während drei Monaten einen temporären Sonder­bericht­erstatter einzustellen. Die Community kann bei «Tsüri» mitreden über die Inhalte. An Events versammeln sich gerne mal Hunderte Member, um über Themen­schwerpunkte abzustimmen. Im Frühling 2021 etwa hat die Community entschieden, dass eine Redaktions­stelle für Klima­fragen geschaffen werden soll. Auch dafür kratzten die Leser das Geld zusammen.

Der Grundlagen­text, den der Sonder­bericht­erstatter vorgeschlagen hat, wird gutgeheissen. Die weiteren Artikel sollen Aspekte beleuchten, die nach Ansicht der Redaktion bei «Tages-Anzeiger» und «NZZ» zu kurz kommen: Tempo 30, Lärm­schutz, Wohnen. Zusammen­hänge werden diskutiert, verworfen und bald taucht die Frage auf: Verschmelzen da nicht zu sehr die Ebenen? Ist die Serie überladen?

«Tsüri» hat sich als guter Einstieg in den Journalismus erwiesen. Von den Leuten, die anfangs mit dabei waren, arbeiten heute einige bei «Watson», «Tages-Anzeiger», «NZZ» oder SRF. Mittlerweile aber gebe es nur noch wenige Wechsel, das Team sei stabil, sagt Redaktions­leiterin Rahel Bains: «Wir nehmen uns Zeit, gerade um Praktikantinnen und Praktikanten zu betreuen und mit ihnen an den Texten zu feilen. Da sie von Anfang an viel Verantwortung übernehmen müssen, suchen wir Leute, die bereits ein gewisses Rüstzeug mitbringen. Wir würden heute keine blutigen Anfänger mehr einstellen.»

«Tsüri» ist eine Art «Bajour» von unten: bedächtiger, demütiger, aber nicht minder nachhaltig. Wird das Medien­gesetz angenommen, rechnet Jacoby mit substanziellen Mehr­einnahmen. Basierend auf den Zahlen vom letzten Jahr wären es wohl etwa 90’000 Franken. Sollte das Geld kommen, würde es in Kampagnen und direkt in den Journalismus fliessen.

Vor kurzem haben die Zürcherinnen den täglichen Newsletter aus Basel adaptiert, auch wenn dieser etwas weniger schrill daherkommt. Und bei «We Publish» macht «Tsüri» ebenso mit wie «Bajour» und die «Hauptstadt» aus Bern.

Künftig dürften zwischen Bern, Basel und Zürich nicht nur Erfahrungen, sondern immer öfter auch Artikel zirkulieren.

«Kolt»: Kann man mit ambitioniertem Journalismus in einer Kleinstadt wie Olten überleben?

Mitten in diesem Dreieck zieht «Kolt» seine Kreise. Es ist vielleicht das mutigste der Schweizer Lokal­journalismus-Projekte. Denn «Kolt» erscheint in Olten. Und Olten ist klein.

2009 gründete der Mittzwanziger Yves Stuber in der Stadt, in der er gross geworden war, ein gedrucktes, lokales Kultur­magazin. Rentabel wurde es nie, aber Stuber bewies einen langen Atem. Elf Jahre nach der Gründung wagte er zum wiederholten Male einen Relaunch. Der Plan: mit digitalem «Lokal­journalismus für das 21. Jahr­hundert» raus aus der Kultur­schublade. Im Oktober 2020 ist das neue «Kolt» gestartet.

Die einzige ernsthafte Lokal­zeitung, das «Oltner Tagblatt», gehört zum Grosskonzern CH Media. Neben «Kolt» gebe es heute kein Lokal­medium mehr, das sich ernsthaft mit der Entwicklung der Stadt befasse, sagt Stuber. «Das ‹Oltner Tagblatt› dokumentiert und bildet Meinungen ab. Das sind wichtige Zeit­dokumente, aber an Lösungen für die Probleme vor Ort ist die Zeitung nicht ernsthaft interessiert.»

«Kolt» will diese Lücke schliessen. Bloss: Wie finanziert man heutzutage eine unabhängige Lokal­zeitung für eine Stadt mit nicht mal 20’000 Einwohnern? Während in Basel vor allem Stiftungs­gelder den Laden am Laufen halten und man sich in den Zentren Bern und Zürich in Sachen Finanzierung auf das grosse Einzugs­gebiet verlässt, segelt «Kolt» hart am Wind.

In einer ehemaligen Zigarren­fabrik an der Oltner Peripherie haben sich an einem Montag­mittag im Januar sechs Leute zur ersten Redaktions­konferenz des neuen Jahres um eine ehemalige Küchen­insel versammelt. Und bereits die Reihen­folge der Themen zeigt: Priorität haben hier derzeit verlegerische Belange. «Kolt» ist klein, hier reden alle überall mit, vom Verleger über den Web­entwickler und die Redaktorin bis zum Fotografen. Etwa beim Thema Weihnachts­aktion, die gut verlaufen sei und 2000 Franken an Spenden und fünf Abonnemente generiert habe.

Anders als bei «Tsüri», der «Hauptstadt» und «Bajour» sind die «Kolt»-Artikel allesamt kosten­pflichtig, ein Abonnement kostet 220 Franken pro Jahr. Dafür wird online alle paar Tage eine Reportage, ein Porträt oder ein politischer Beitrag publiziert, alle zwei Wochen wird per Post ein Heft verschickt, zweimal wöchentlich kommt ein Newsletter, und für die Abonnentinnen veranstaltet «Kolt» Podien und Talks.

Bis heute kommt «Kolt» auch als gedrucktes Magazin heraus.
Die «Kolt»-Truppe (v.l.): Yann Schlegel, Andrea Hänggli, Yves Stuber, Jana Schmid, Timo Orubolo, Finja Basan.
Von den vier Medien in Bern, Basel, Zürich und Olten würde die kleine «Kolt»-Redaktion prozentual am meisten von Förder­geldern profitieren: Korrektorin Andrea Hänggli.

Das kleine Unternehmen zahlt einen Einheits­lohn von 5500 Franken auf 100 Prozent und benötigt bei 350 Stellen­prozenten jährlich 500’000 Franken, um über die Runden zu kommen. Mit 1500 Abos wäre das Medium selbst­tragend, doch dafür müsste jeder zehnte Haushalt der Stadt ein Abo lösen. Derzeit sind es bloss 700.

Die 200’000 Franken, die dieses Jahr in der Kasse fehlen, versucht Verleger Yves Stuber irgendwie zusammen­zukratzen. Viel Stiftungs­geld kommt nicht herein, dafür laufen gerade Gespräche über neue Werbe­partnerschaften. «Kolt» kann es sich nicht erlauben, stur an journalistischen Idealen festzuhalten. Die Oltner müssen pragmatisch sein und gestalten auch mal im Auftrag einer Reisefirma ein Kunden­magazin, um sich quer­zufinanzieren. Der Lohn von Yves Stuber verschwindet oft post­wendend wieder im Unternehmen – als «Darlehen». Insgeheim dürfte er das Geld jeweils abschreiben. Wie auch die Privat­kredite, die er in «Kolt» gesteckt hat. «Ich träume davon, eine schwarze Null zu schreiben und keine Schulden mehr zu haben», sagt er.

Das Problem: Wenn man klein ist, ist es schwierig, gross zu werden.

«Kolt» hat einen mutigen Ansatz gewählt: Die Leserschaft ist die Chef­redaktion. Abonnenten können der Redaktion Themen vorschlagen. Und das Konzept funktioniert überraschend gut. «Wir erfahren so, was wirklich relevant ist in der Region», sagt Stuber. Als immer wieder Inputs zur Stadt­entwicklung reinkamen, interviewte «Kolt» den Stadt­baumeister und liess ihn die Fragen der Leserinnen beantworten.

«Kolt» braucht keine Scoops und Skandale, um Relevanz herzustellen. Man würde in Olten ja doch zu selten etwas finden. Die Oltner schätzen die zweite publizistische Stimme, doch noch ist die ziemlich leise. Im vergangenen Jahr war Yann Schlegel die meiste Zeit der einzige Redaktor im Team. Der junge Journalist kam vom «Oltner Tagblatt» und sollte eine möglichst grosse Bandbreite an Texten produzieren. In einer Kleinstadt wie Olten kann man es sich nicht leisten, bloss für eine Bubble zu schreiben. «Ich musste ziemlich rudern, damit wir genügend Stoff bieten können und keine Abonnenten verlieren», sagt Schlegel. Und gut sollte der Stoff auch sein. Daneben musste er freie Autorinnen betreuen.

Immerhin: Seit Anfang Monat ist Schlegel nicht mehr allein. An der ehemaligen Küchen­insel steht an diesem Montag im Januar eine neue Redaktorin.

Von den vier Lokal­medien würde «Kolt» prozentual zur Redaktions­grösse am stärksten von der neuen Medien­förderung profitieren. Stuber rechnet mit 100’000 Franken pro Jahr. Die Infrastruktur steht, das Geld könnte in die Redaktion fliessen, käme direkt den Inhalten zugute. Die Stimme von «Kolt» würde etwas lauter.

Zu «Bajour» schreiben wir, dass derzeit 3200 Unterstützer mindestens 40 Franken pro Jahr bezahlen, um Member zu sein. Wir haben präzisiert, dass sich daraus «minimale» (statt: «garantierte») Einnahmen von 128’000 Franken ergeben, da ein Teil der Unterstützerinnen höhere Beträge entrichtet.

Zur Transparenz

Von der staatlichen Medien­förderung, über die das Schweizer Stimm­volk am 13. Februar abstimmt, würde auch die Republik profitieren. Wie viel Geld sie erhielte, ist derzeit unklar. Klar ist: Über die Frage, ob sie das Geld überhaupt annehmen würde, müsste die Verlegerschaft entscheiden. Genauso haben wir die Entscheidung, welche Parole Project R, die Genossenschaft hinter der Republik, zum Medien­gesetz fassen soll, an die Verlegerschaft delegiert. Die Befragung ist abgeschlossen, hier finden Sie die Ergebnisse.